Der Ursprung der Dinge
Anika Paulus: Sie sind ausgebildete Möbeldesignerin und arbeiten zwischen den Disziplinen Kunst und Design. Ist Ihre Profession als Möbeldesignerin in den gezeigten Werken erkennbar?
Sara Martinsen: Ich war schon immer sehr neugierig darauf, woher die Materialien kommen, wo sie entstehen und warum. Ich wollte sie verstehen, bevor ich sie bearbeite. Wenn man beispielsweise als MöbeldesignerIn mit Holz arbeitet, muss man die Wachstumszeiten, die Eigenschaften, die Härte oder Weichheit der verschiedenen Hölzer kennen. Ohne dieses Wissen gelingt die spätere Holzarbeit nicht. Als ich mich mit biobasierten Materialien beschäftigte, führte meine Materialforschung oft zu praktischen Experimenten, die für sich allein als Kunstwerke stehen könnten. Die Materialforschung ist ein natürlicher Teil meines Arbeitsprozesses, so dass ich den Unterschied zwischen dem Design und der künstlerischen Arbeit nicht als groß empfinde. Bei meiner künstlerischen Arbeit erlaube ich mir allerdings, im kreativen Prozess innezuhalten. Die Arbeit darf da auch Forschung bleiben, ich ziele nicht auf ein funktionales Endprodukt wie einen Stuhl oder ein Aufbewahrungsmöbel ab. Ich mag einfache Konstruktionen, die die Geschichte des Materials und nicht die der Form hervorheben. Diese Einfachheit findet sich auch in meinen Kunstwerken wieder.
Ihre Art mit natürlichen Rohstoffen zu arbeiten hat eine poetische Ästhetik.
Sara Martinsen: Ich war schon immer von Materialien fasziniert. Ich glaube, das sind Menschen generell im Kindesalter, aber mit dem Erwachsenwerden wenden wir uns anderen Schwerpunkten zu. Die meisten Kinder sammeln Steine oder Stöcke und nehmen sie mit nach Hause. Das tue ich immer noch. Für mich ist ein Strandstein ein Granit mit einer langen Geschichte, und ein verwelktes Blatt oder ein Stock kann in etwas Schönes verwandelt werden, wenn man es in einer ruhigen Komposition wiederholt. Als Kind nahmen mich meine Eltern mit in das Kon-Tiki Ra Museum in Norwegen. Ich bekam dort eine Materialprobe aus Balsaholz und behielt sie viele Jahre lang. Ich liebte es, das Waschbecken im Badezimmer mit Wasser zu füllen und das Holz zum Schwimmen zu bringen, daran zu riechen und zu spüren, wie leicht und doch stark seine Struktur war. Der Gedanke, dass jemand daraus ein Boot gebaut hat und damit über den Atlantik gesegelt ist, hat mich fasziniert.
Die Natur ist also ein wesentlicher Bestandteil Ihrer Arbeit und Ihres Lebens?
Sara Martinsen: Die Arbeit mit natürlichen Materialien ist wichtig für mich. Kombiniert mit Forschungen über Evolution, Biologie, Geografie und Naturgeschichte ist sie bereichernd. Ich denke, meine Beziehung zur Natur ist wie die vieler Menschen im modernen westlichen Teil der Welt. Ich lebe in Kopenhagen und der Wechsel zwischen den familiären und beruflichen Terminen ist recht schnell – in der Natur zu sein ist daher etwas, dem ich regelmäßig einen Vorrang einräumen muss. Die Natur bietet einen ruhigen Kontrast zu einer rastlosen Arbeitswoche und wenn dieser nicht gegeben ist, fehlt die Balance.
Ihre Installationen und Ausstellungen wirken ruhig und vermitteln für die BesucherInnen eine entspannte Atmosphäre, in der die Werke ungestört betrachtet werden können. Ist diese Stille wichtig, um die Schönheit der Materialien hervorzuheben?
Sara Martinsen: Es freut mich sehr zu hören, dass Sie so über meine Arbeit denken. Ich nutze mein handwerkliches Geschick, um die Aufmerksamkeit der Menschen auf mich zu ziehen – um ihnen eine Erfahrung mit den Materialien aus nächster Nähe zu ermöglichen habe ich nur ein kurzes Zeitfenster. Mit einer ruhigen Komposition, einem Rhythmus in einem Muster oder einer hinzugefügten Textur zeige ich, dass ein sehr einfaches oder sogar banales Material wie Eschenfurnier, Gras oder Erde in etwas Ästhetisches und Relevantes verwandelt werden kann. Die Natur ist, im Gegensatz zu uns Menschen, sehr geduldig. Ich möchte, dass meine Arbeit auch diese Ruhe ausdrückt.
Der "Protein Chair" zieht besonders die Aufmerksamkeit auf sich. Es ist schwer, ihn zu begreifen, ohne ihn zu berühren – es stellt sich beispielsweise sofort die Frage, ob das Material hart oder weich ist, stabil oder fragil.
Sara Martinsen: Ja, man möchte das Material des "Protein Chairs" sofort anfassen um es besser verstehen. Der Stuhl besteht aus Gelatine, das aus tierischem Eiweiß wie beispielsweise Knochen hergestellt wird. Das Verfahren stammt aus einer Zeit, in der wir beim Kochen alles vom Tier verwertet haben, nicht nur Teile davon. Heute ist Gelatine ein hoch industrialisiertes Produkt. Für mich sehen die Gelatineblätter fast wie dünne Schichten aus Schutzglas aus. Ich wollte diese Art von Material erforschen und herausfinden, ob sich daraus eine spannende Gestaltung und Haptik ergeben würde. Beides ist der Fall. Es hat einen sehr eleganten Ausdruck und reflektiert das Licht auf schöne Weise. Gleichzeitig sieht es aus wie etwas, das im Bruchteil einer Sekunde verschwinden könnte.
Ist diese sinnliche Erfahrung Ihrer Werke wichtig, um Wissen zu vermitteln und die Geschichten der von Ihnen verwendeten Materialien zu erzählen?
Sara Martinsen: Unser Sinnesapparat ist unsere Navigationshilfe. Er sendet uns Signale, die wir entweder ignorieren oder akzeptieren und schätzen sollten. Ich glaube, dass viele in unserem modernen Leben das Gefühl haben, die Sinne seien eingeschlafen. Unser Essen ist auf ein perfektes Gleichgewicht von Aromen und Texturen wie salzig, süß, bitter, knusprig, weich und sauer ausgelegt. Es ist unsere Uhr, die uns sagt, wann unser Puls zu hoch oder zu niedrig ist sowie wann es Zeit ist, zu essen oder sich zu entspannen. Doch unsere Sinne helfen uns, zu "hören", und das ist ein wichtiger Teil unseres Daseins als Lebewesen. Wenn wir diesen "Muskel" nicht verwenden, können wir uns selbst nicht spüren. Wenn ich etwas schaffe, das die Menschen dazu anregt, es anschauen zu wollen, zu berühren oder zu riechen, wissen sie zu schätzen, was das Material ihnen gibt. Und wenn man etwas zu schätzen weiß, neigt man dazu, sich gut darum zu kümmern und es nicht einfach wegzuwerfen und neue Dinge zu kaufen, die einen nicht berühren. Die Ausstellung bei Garde Hvalsøe ehrt die Elemente und erkennt unser Bedürfnis an, das Unverarbeitete zu erleben und zu spüren.
„Mit der größeren Entfernung zu allen Rohstoffen, der Landwirtschaft, der Verarbeitung und der Produktion sehen wir nicht mehr, wie sich unser Verhalten auf unsere Umgebung auswirkt.“
Der "Ursprung der Dinge" ist ein sehr substanzieller, allumfassender Ausstellungstitel. Glauben Sie, dass alles, was wir sind, aus der Natur stammt?
Sara Martinsen: Auf jeden Fall. Ich liebe es, alles bis zu den Grundlagen zurückzuverfolgen, einschließlich unserer eigenen Existenz, die aus Bakterien entstanden ist. Wir sind miteinander verbunden und ein Teil der Natur. Der Mensch und die Natur erscheinen manchmal wie zwei verschiedene Systeme, aber das ist nicht der Fall. Wir sind Teil desselben. Wenn ich Materialien untersuche, verbringe ich viel Zeit damit, über ihren Ursprung und ihre natürliche Geschichte zu lesen. Die Arbeit mit dem Titel "Tale Of Grass" wurde bereits mit einem versteckten Motor ausgestellt, der sie zum Zittern bringt, um die Geschichte der Gänsehaut zu erzählen. Gänsehaut zu bekommen ist ein natürlicher Instinkt, den wir uns bewahrt haben. Als wir Tiere waren, nutzten wir diesen Instinkt, um die äußere Schicht unserer Haut zu isolieren, indem wir das Fell aufstellten, so dass Luft zwischen die Haare gelangte. Oder um größer zu erscheinen, wenn wir in der Natur einer Gefahr begegnen. Als moderner Mensch brauchen wir diesen Instinkt heute eigentlich nicht mehr, aber wir haben ihn immer noch; er hilft uns zu registrieren, wenn uns kalt ist oder wir starke Gefühle haben. Informationen wie diese tragen dazu bei, uns selbst und unsere Herkunft besser zu verstehen.
Glauben Sie, dass die Welt eine andere wäre, wenn die Menschen sich wieder mit der Natur und den Materialien, die uns umgeben, verbinden würden?
Sara Martinsen: Oh ja. Sehr sogar. Es liegt in unserer DNA, dass wir die Dinge aus der Nähe betrachten müssen, um eine Beziehung zu ihnen aufzubauen: Menschen, Situationen, Konsumverhalten und die Entscheidungen, die wir treffen oder Dinge, die wir ablehnen. Mit der größeren Entfernung zu allen Rohstoffen, der Landwirtschaft, der Verarbeitung und der Produktion sehen wir nicht mehr, wie sich unser Verhalten auf unsere Umgebung auswirkt. Wir sind nicht in der Lage, gut auf die Dinge aufzupassen. In den letzten Jahrzehnten hat es einen massiven Verlust an materiellem Wissen gegeben. Wenn Sie nicht wissen, dass Ihr Kerzenständer aus weißem Carrara-Marmor besteht, einem über 140 Millionen Jahre alten Material, oder Ihre Eichenmöbel aus einem Baum gefertigt wurden, der etwa 100 Jahre lang wuchs, bevor er gefällt und zu einem Produkt verarbeitet wurde, können Sie die investierte Zeit nicht nachvollziehen und werden daher das Produkt nicht mit besonders achtsam verwenden. Die Verbundenheit mit der Natur und die Nähe zu ihr ist ein entscheidender Faktor für unser Wohlbefinden und für die Schaffung einer Beziehung zu dem Boden, auf dem wir stehen.