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Salone, Salone oder Zwölf Geschichten aus Mailand
Von Thomas Wagner | 16.04.2014
Wo findet der Riese „Neugier“ auf dem Salone in Mailand seine Nahrung? Bei Magis hatte er viel zu entdecken, sogar etwas Revolutionäres. Foto © Thomas Wagner, Stylepark

01. Ein Riese namens Neugier

Es ist Montag und es ist fast so wie immer. Kaum ist man dem Flieger entstiegen, befällt einen ein Kribbeln in den Füßen. Jetzt nur nicht stillsitzen müssen. Und was für ein Wetter! Kein Wölkchen am Himmel, Sonne satt – also nichts wie raus. Es ist nämlich so: Kurz bevor der Mailänder Möbelreigen beginnt, bläst die Erwartung die Neugier jedes Mal zu einem Riesen auf, und der braucht, um am Leben erhalten zu werden, eine Menge ganz besonderer Reize. Und wo findet der Riese namens Neugier seine Nahrung, damit das herrliche Trugbild nicht sogleich wieder in sich zusammenfällt? Die Messehallen öffnen erst Dienstag, in den meisten Showrooms wird noch gesägt, gehämmert, gestrichen – wo also treibt er uns hin, unser Riese?

In die Zona Tortona, wohin sonst. Hier, so war es lange Jahre, geht’s los mit dem Mailänder Rummel. Sicher, wir waren gewarnt, schon länger machte das Areal rund um die Via Tortona und das Superstudio Più den Eindruck, als franse es aus. Hersteller suchten sich einen anderen Standort oder kehrten, wie Cassina, Cappellini, Poltrona Frau und heuer auch Tom Dixon, in den Schoß der Messe zurück. Wo früher viele neue Möbel und funkelnde Installationen lockten, stieß man mehr und mehr auf medialen Schabernack und arg gewollte künstlerische Ambitionen. In diesem Jahr war der einstige Glanz nun vollends verschwunden – abgesehen von einem netten Stelldichein im Showroom von e15 und einigen „Erleuchtungen“ um die Ecke bei Lasvit. Statt überraschendem Design gab’s viel Überflüssiges, das umso hartnäckiger Aufmerksamkeit buhlte. Ein feuerroter, von Giulio Cappellini entworfener Bolide oder ein Bett im eben nicht goldenen Eisenkäfig ließen sich immerhin mit Händen zu greifen. Dann traf man allerdings auf Ebay, wo die Vertriebswege bekanntlich im virtuellen Nichts enden. Ebay und Salone? Sie haben richtig gehört. In einem „ebay Dome“ genannten Allerweltarrangement aus fünf thematischen Inseln – und dem üblichen Versprechen grenzenlosen Einkaufens – kündigte die Internetplattform an, sie werde mit „ebay Design“ demnächst eine eigene Rubrik für neue Produkte ausgewählter Hersteller anbieten. Wer alles mitmacht und in welchen Ländern die Seite angeboten werden wird, war nicht zu erfahren. Womit wohl auch geklärt wäre, was aus dem Superstudio geworden ist: ein Marktplatz. Eher virtueller Art. C’est la vie, würde der Franzose sagen.


Im Superstudio Più: Am Stand von Ebay lernen Möbel fliegen. Rechts daneben heißt uns ein Käfig von Dejana Kabiljo willkommen. Foto © Thomas Wagner/Adeline Seidel, Stylepark

02. Ein Gespräch über Aluminium


Eines hatte ich vergessen zu erwähnen: Unser Riese namens Neugier hatte, bevor ihm in der Zona Tortona die Luft ausging, bereits gute amerikanische Nahrung bekommen. Dabei war im Showroom von Agape in der Via Statuto zunächst die bange Frage aufgetaucht, ob zwei eher kleine, schön kreisrund geformte Badewannen in einem Schlafzimmer eher katholisch (moraltheologische Vorbehalte gegen das Baden zu zweit) oder evangelisch (puritanisch-sinnenfeindlich) zu nennen seien. Hernach entspann sich aber ein spannendes Gespräch mit Gregg Buchbinder, dem Chef von Emeco, über Stühle aus Aluminium und wie man sie macht. Emeco, Sie erinnern sich, das ist die Firma, die einen Stuhl herstellt, der leicht, aber so stabil ist, dass er von der US Navy sogar in U-Booten eingesetzt wurde. Nun wurden neue Hocker, „Su“ von Nendo, vorgestellt, deren wohlgeformte Sitzfläche über einem Gestell aus Aluminium oder Holz mal aus matt-schimmerndem Aluminium, mal aus in Würde gealterten Eichenholz, mal aus Beton und mal aus recyceltem Kunststoff besteht. Es wurde aber nicht nur über das Allerneuste gesprochen, sondern auch darüber, ob Aluminium sich kalt anfühlt oder nicht, was man mit Aluminium so alles machen kann, wenn man sein Handwerk beherrscht. Anhand eines polierten Schaukelstuhls von Philippe Starck und einem Navy-Chair in gebürsteter Ausführung ließ sich gut erklären, weshalb Design ein Prozess ist und wie sich Details aus den Möglichkeiten entwickeln, das Material so zu verarbeiten, dass der Stuhl am Ende nicht nur gut aussieht, sondern auch stabil und langlebig wird.


Ob katholisch oder evangelisch – im Agape-Showroom interpretiert man das Baden zu zweit ganz neu. Foto © Thomas Wagner, Stylepark
„Navy Chair“ und „Hudson“-Schaukelstuhl nebst dem neuem Hocker „Su“ von Nendo für Emeco. Foto © Thomas Wagner/Adeline Seidel, Stylepark

03. Cocktails mit Frisörsalon


So ausgelassen war’s vor einem Frisörsalon noch nie. Und das abends. Was keineswegs, wie böse Zungen behaupten, daran lag, dass dieser geschlossen und der plaudernde Frisör abwesend war. Nein, es kamen einfach viele gute Dinge zusammen. Erstens präsentierte Steffen Kehrle in den hell erleuchteten Schaufenstern mittels eines spaßigen Videos, in dem viele nette Leute auf und über ihn – den Hocker – steigen, seinen neuen Tritthocker „Mono“. Zweitens konnte man den Hocker, den es in vielen Farben gibt, vor Ort ausprobieren, was den müden Füßen guttat. Drittens war Richard Lampert ein wunderbarer Gastgeber, viertens traf man gutgelaunte Menschen, fünftens war es plötzlich Sommer und man konnte bis spät in die Nacht draußen sitzen, und sechstens grenzt an den Frisörsalon die Bar Basso. Und in der gibt es bekanntlich nicht nur Cocktails wie Bloody Mary und Margarita, sondern auch solche, die Negroni und Fragolino heißen. Sollte die Stimmung in jeder Küche, in der demnächst solch ein Hocker steht, so freudig-ausgelassen sein, es wäre erwiesen: Design verändert tatsächlich die Welt. Oder waren’s die Cocktails?


Viele nette Leute und viele farbige Hocker: Bei der Präsentation von „Mono“ von Steffen Kehrle für Richard Lampert vor der Bar Basso. Foto © Atelier Steffen Kehrle

04. Evolution, nicht Revolution


Lassen wir die Chronologie fahren, wie es sich für ein zeitgemäßes Stück Prosa gehört und kommen wir zu den wirklich ernsten Dingen. Wie war die Messe? Was gab es zu entdecken und welche Neuheiten konnten nicht nur überraschen, sondern auch überzeugen? Die Zeiten, als ganze Feuerwerke von Neuheiten abgebrannt wurden, von denen am Ende nur wenige tatsächlich in Produktion gingen, scheinen tatsächlich passé. Trotzdem: Nicht bescheidener ist die Branche geworden, aber vorsichtiger. Evolution statt Revolution heißt vielfach die Losung. Produktfamilien ersetzen Solitäre, Typologien werden bestätigt und vervollständigt statt aufgebrochen, Updates und Re-Editionen ersetzen Innovationen, die eben nicht vom Himmel fallen. Manchmal kommt es einem so vor, als ahme die Möbelbranche die Autoindustrie nach. Angeboten wird ein Modell – heiße es nun Audi A4 oder Plank „Miura“, Mercedes C-Klasse oder Arper „Zinta“ – in mehr oder weniger vielen Varianten als Tisch, Hocker und Stuhl, mit Holz oder Metallfüßen, als Sofa oder Bank und in vielen Farben und Bezügen. Individualisierung nennt man das, wobei es kaum noch eine Nische gibt, die beim Durchdeklinieren aller Kombinationen frei bliebe. Nimmt man das alles zusammen, so könnte man von einer Trias aus Evolution, Individualisierung und Innovation sprechen, die gegenwärtig die Aktivitäten zumindest der Hersteller mit umfangreichen Kollektionen prägt.


Nicht im Museum, nein, bei Vitra am Stand sind die Klassiker aufgereiht. Rechts: Bei Arper kann man es sich auf „Zinta“ bequem machen. Fotos © Thomas Wagner, Stylepark

05. Duna, Aava und
eine gestreifte Muschel


Beispiele, wie das funktioniert, gibt es zuhauf: Vitra etwa bringt den Alu-Chair der Eames in einer etwas schmaleren Version und mit waagrechter, statt nach hinten geneigter Sitzfläche heraus, was am Esstisch zu mehr Sitzkomfort führen soll. Und den Hopsack-Bezug gibt’s, weil es ohne die Farbpalette nicht mehr geht, in fast 30 verschiedenen Tönen. Alexander Girard darf etwas vom Geist der Sixties ins Wohnzimmer zaubern. Neben Stoffmustern als Bildersatz, bunten Kissen, gemusterten Teppichen und Tabletts wurden sein „Hexagonal Table“, sein „Splayed Leg Table“ und seine „Colour Wheel Ottoman“ aus dem Archiv geholt, sämtlich von 1967. Pop-art-Farben und Muster passen perfekt in den allgegenwärtigen Farbrausch. Dass Jasper Morrisons „Rotary Tray“ in ganz ähnlicher Form schon 2002 Bestandteil seines „Advanced Table Module“ATM war, passt ebenfalls ins Bild. Wem die Individualisierung des Standardisierten zu weit geht, weil er sich nicht zwischen vielen Farben entscheiden möchte, der findet Trost darin, dass eine Schweizer Institution dankenswerterweise zurückkehrt: Der Aluminiumstuhl „Landi“ von Hans Coray aus dem Jahr 1938. Es gibt ihn nur in einer Ausführung und Farbe ist auch nicht vorgesehen. Aber ach, ergänzt wird auch er, um einen neuen, passenden, „Davy“ genannten Tisch von Michel Charlot. Seltsam ist es schon: In der Wohlstandswelt gibt es immer mehr Singles, bei dem Möbeln immer mehr Familien.


Mit Alexander Girard in die Sixties: Vitra legt seinen „Hexagonal Table“, den „Splayed Leg Table“ und den „Colour Wheel Ottoman“ wieder auf. Foto © Adeline Seidel, Stylepark

Bei Arper sind es Duna, Saari und Aava, von denen es neue Varianten gibt, bei Artek interpretiert Hella Jongerius in einer „Colour Edition“ Klassiker von Alvar Aalto, und es wird – Stichwort Re-Edition – Yrjö Kukkapuros „Karuselli Lounge Chair“ von 1964 wieder aufgelegt. Sogar Carl Hansen & Son spielt mit. Zwar nennt man Hans J. Wegner dort nun „master of minimalism“, trotzdem lässt man „Wing Chair“ und „Shell Chair“ und einiges mehr von Maharam und Paul Smith mit dessen obligatorischen Streifenmustern modisch auffrischen. Fehlen nur noch die Blumenmuster. Übrigens: Wem der Unterschied zwischen Design und Kitsch wurscht und die pubertäre Lust nicht vergangen ist, einem allgegenwärtigen Klassiker wie einem Eames-Chair an die Wäsche zu gehen, der konnte den Plastic-Chair in einer der Hallen von Ventura Lambrate als luftig geschweißte Schale aus Unterlagscheiben oder Eisenteilen bestaunen. Und im Spazio Rosanna Orlandi verstieg sich das antimoderne Biedermeier, das sich so gern anarchisch geriert, gar zu einer „Victorian Collection“ des Alu-Chairs mit aufgesticktem Blumenmuster.

Der Liste seriöser Systemerweiterungen, Re-Editionen und Updates ließen sich noch viele Beispiele hinzufügen, von Varianten von Jaime Hayons Lounger bei BD Barcelona bis zu Le Corbusiers „LC5“ bei Cassina und vielem mehr. „Same same, but different“, hat Raymond Loewy das Prinzip einst genannt. Was nicht bedeutet, dass nicht hier und da wirkliche Überraschungen darauf gewartet hätten, entdeckt zu werden.


Er darf wieder auf die Bühne, der „Landi“ von Hans Coray - Paul Smith hat die Hans J. Wegner-Stühle bei Carl Hansen & Son neu eingekleidet. Foto © Thomas Wagner, Stylepark
Den „Aluminium-Chair“ der Eames gibt es nun in einer schmaleren Version mit waagrechterer Lehne plus „Hopsack“-Bezug in fast 30 neuen Tönen. Foto © Adeline Seidel, Stylepark

06. Im Ahornhain


Japanischer Zierahorn ist, zumal wenn seine Blätter rot gefärbt sind, ein wirklich ansprechendes Gehölz. Ob es an vielen solchen Pflanzen, nicht nur rotblättrigen, gelegen hat, dass man am Stand von Moroso glaubte, man stünde im Dickicht und sehe vor lauter Möbeln keine klare Linie mehr? Egal, so recht überzeugen mochte keiner der neuen Entwürfe. Patricia Urquiolas Sofas werden immer opulenter – „(love me) Tender“ wirkt weder leicht noch elegant –, Tord Boontjes „22nd Floor“ bleibt ein schwarzer Kasten und ein Missverständnis, und Ross Lovegroves „Diatom“ aus gepresstem Aluminium umarmt mal wieder Technologie und Biologie, allerdings ohne besonderen Erfolg. Auch Edward Barber und Jay Osgerby reichen mit ihrem Regal „Planophore“, das sie ebenso für Vitra entworfen haben wie das biedere Sofa „Mariposa“, nicht an historische Vorbilder heran, trotz oder wegen der drehbaren Senkrechten. Als Raumteiler für Dekoratives statt für Bücher kann man sich das ganz gut vorstellen.


Futurama zum Sitzen: Ross Lovegroves „Diatom“ für Moroso. Daneben „Mariposa“ von Barber Osgerby für Vitra. Foto © Thomas Wagner/Adeline Seidel, Stylepark

07. Überraschung beim Bogenschießen


Und wo bleibt das Positive? Auf der Weltbühne des Möbeldesigns spielen sie alle Hauptrollen, jene vier Designer, die in diesem Jahr, jeder auf seine Weise Lösungen und Produkte entwickelt haben, die man so eben noch nicht gesehen hat. Wollte man den Vieren stereotype Rollen zuweisen, dann müsste Konstantin Grcic den coolen Künstleringenieur geben, Hella Jongerius spielte eine erfolgreiche, im Herzen romantisch gestimmte Stoffkünstlerin, Jaime Hayon schlüpfte in die Rolle des nervös-feurigen spanischen Edelmanns und die Bouroullecs spielten zwei Künstlerbrüder, melancholisch der eine, zupackend der andere.

Da wäre – Ladies first – also zunächst Hella Jongerius. Ihr „East River Chair“, ursprünglich für das Uno-Gebäude in New York entworfen, ist nicht nur was Proportionen und Sitzgefühl angeht, ein angenehmer Zeitgenosse. Niemand außer ihr vermag Stoff, Leder und Holz in verschiedenen Farben so gekonnt und elegant, so frisch und pfiffig zu kombinieren – bis hin zum Ledergriff am Rücken der Lehne.


„Rival“ heißt der neue Stuhl von Konstantin Grcic für Artek. Und für Magis zeigt er mit „Kyudo“ eine Studie, die aus mit Karbon verstärktem Buchenfurnier besteht.
Foto © Adeline Seidel/Martina Metzner, Stylepark

Dass Konstantin Grcic in diese Reihe gehört, kann kaum überraschen. Wie er es immer wieder schafft, einfache, klare und überzeugende Möbel zu entwerfen bleibt trotzdem ein Rätsel. Schon mit seinem „Artek Chair“ – der nun, da er offiziell vorgestellt wurde, „Rival“ heißt – verneigt er sich vor Alvar Aalto, ohne sich ihm zu unterwerfen oder gar anzubiedern. Was einen erkennen lässt, wie ein wirkliches Update aussieht, das nicht aus einem Klassiker plus kosmetischer Retuschen besteht: Es atmet einen bestimmten Geist, ist ihm aber nicht hörig.

Bei Magis zeigte Grcic in Mailand zudem gleich zwei ganz unterschiedliche Ansätze, um zu ganz und gar zeitgemäßen Lösungen zu kommen. Mit „Kyudo“ präsentiert er einen federnden Freischwinger, der nicht nur, wie stets bei Grcic, bis ins Kleinste durchdacht und durchgestaltet ist, sondern obendrein aus einem besonderen Material besteht: aus mit Karbonschichten verstärktem Buchenfurnier. Der Stuhl vereint in sich Elemente hochwertiger Sportgeräte mit Sitzkomfort, bedient sich einer Typologie der Moderne und gewährt zugleich einen Ausblick auf die Zukunft. Allein schon wie modelliert die karbonverstärkte Grundstruktur mit Sitzfläche und Lehne verbunden ist, lässt ihn einzigartig erscheinen. Freischwinger aus Stahlrohr stehen für die Moderne, einer, der eben nicht aus Karbon besteht, aber die Eigenschaften des Materials nutzt, steht mitten in der Gegenwart. Nichts an „Kyudo“ ist nostalgisch, jeder Teil aber durchdrungen von designhistorischem Bewusstsein. Das japanische Wort „Kyudo“, das sei hinzugefügt, bedeutet so viel wie „Weg des Bogens“ und verweist auf die Kunst des Bogenschießens. Mit der gespannten Leichtigkeit von „Kyudo“ hat Konstantin Grcic also mal wieder ins Schwarze getroffen.

Originell sind auch die aus dem Regal „Spike“ und dem Drehstuhl „Tuffy“ bestehenden Ergänzungen zu seiner Magis-Kollektion „The Wild Bunch“. Und wieder zeigt Grcic, wie es geht. Den Bürostuhl mit dem Holzsitz, der federnden Rückenlehne in T-Form und der Spindel zur Höhenverstellung glaubt man in Grundzügen aus den Büros der sechziger Jahre zu kennen. Dabei wirkt „Tuffy“ jugendlich, frisch, eben wie neu. Und in die wie Schraubzwingen gestalteten Wandhalter von Spike lassen sich Borde unterschiedlicher Dicke aus Holz, Glas, Kunststoff, Marmor – oder was immer man will – einspannen. Spielerisch, einfach, gut zu gebrauchen – so sollte Design sein.

Ergänzung zur „The Wild Bunch“-Kollektion von Konstantin Grcic bei Magis: Regal „Spike“ und Drehstuhl „Tuffy“. Von Hella Jongerius stammt der „East River Chair“ für Vitra.
Foto © Thomas Wagner/Martina Metzner, Stylepark

08. Aus der Schmiede
des Hephaistos


In Stil und Anmutung völlig anders, in sich aber nicht weniger konsequent, zeigt sich Jaime Hayons „Piña“, ebenfalls bei Magis. Eine Schale aus Drahtgeflecht in Ananasmuster, vier leicht konische Füße, zwei dicke, abgerundete Kissen, fertig ist der „Low Chair“ für drinnen und draußen, mit dem Hayon ebenfalls eine schon bestehende Kollektion abrundet und erweitert. Ganz gleich, was er macht, Hayon bleibt ein verspielter Edelmann, der es schafft, Elemente aus Barock und Klassizismus an den oft so nüchtern bürgerlichen Hof der Gegenwart zu holen.


Als hätten Büro und Küche geheiratet: „Officina“ heißt die neue Tisch-Serie von Ronan und Erwan Bouroullec für Magis. Foto © Thomas Wagner, Stylepark

Bleiben die Gebrüder Ronan und Erwan Bouroullec. Ihnen ist, abermals bei Magis, ein wirklich außergewöhnlicher Coup gelungen. „Officina“ heißt ihre Serie aus Tischen, als hätten Büro und Küche geheiratet und auch ihre Namen sich vermählt. Jeder, der gewöhnliche französische Bistrotische mit gusseisernem Gestell und Gartenmöbel aus Eisen kennt, reibt sich verwundert die Augen. Ob groß oder klein, rund oder rechteckig, aus Holz, Glas oder Kunststoff, für jeden Typ von Tisch haben die Bouroullecs ein Gestell aus Schmiedeeisen entworfen, das handfest nach Kraft, Mechanik und Industriekultur riecht und dabei trotzdem filigran und konstruktiv auftritt. Als hätte Hephaistos, der griechische Gott des Feuers und der Schmiedekunst, selbst mit Hand angelegt. Mal gebogen und übereinandergelegt, mal mehrfach in sich verschlungen wie dicke Seile – die Bandeisen der Gestelle sind so raffiniert einfach und wirken so selbstverständlich, dass man sich fragt, weshalb bislang noch keiner darauf gekommen ist.

Dass es noch filigraner geht und sie Kombinationen aus Holz und Eisen ganz leicht aussehen lassen können, beweist last but not least der Drehstuhl „Uncino“, den die Bourroullecs für den Holzspezialisten Mattiazzi entwickelt haben. Schaft, Sitz und Lehne aus massivem Holz, das wie eine Skulptur zum Körper geformt ist, an raffiniert ausgeformten Punkten verbunden mittels dunkler, gebogener Eisenstäbe – so gediegen und zugleich jung können Stühle sein, die wie eine Zeichnung im Raum aussehen. Wobei auch hier, wie schon bei Grcics Kyudo, gilt: Sind vermeintliche Updates einer gängigen Typologie gut genug gemacht, dann sind es keine mehr.

Skulptur oder Stuhl? „Uncino” von den Gebrüdern Bouroullec für Mattiazzi - Jaime Hayons „Piña“ (Magis) bekommt mit dem „Low Chair“ eine neue Variante.
Fotos © Barbara Wildung, Stylepark

09. Die unerträgliche
Leichtigkeit des Seins

Ambiente und Champagner waren exzellent, bei Hermès im Palazzo Serbelloni am Corso Venezia. Kein Wunder, konnte das französische Luxusgüterunternehmen dank der großen Nachfrage nach hochpreisigen Lederwaren und Textilien im vergangenen Jahr seinen operativen Gewinn bei einem Umsatz von 3,76 Milliarden Euro doch um 8,9 Prozent auf 1,22 Milliarden Euro steigern und einen Gewinn nach Steuern und Zinsen von 790 Millionen Euro verbuchen, 6,8 Prozent mehr als 2012.Von welcher Art die Möbel sind, die zu solchen Erfolgen beitragen, konnte man in den Sälen mit üppigen Deckengemälden mit eigene Augen sehen. Naturgemäß spielt bei Hermès Leder in Verbindung mit edlem Holz und feinen Stoffen die Hauptrolle. Michele De Lucchi hat mit „Pantographe“ und „Harnais“ zwei Leuchten entworfen, die sich im Landhaus oder auf einem Gestüt neben den Sätteln besonders gut machen. Das ist Luxus alten Stils, exklusiv, teuer, handwerklich perfekt und konservativ bis aufs eiserne Gestell – mal behutsam erneuert, mal als beschränkte Re-Edition wie im Fall der kleinen Sitzgruppe aus Schmiedeeisen und Leder von Jean-Michel Frank aus dem frühen 20. Jahrhundert. Wer nun die Nase rümpft und hinter vorgehaltener Hand und mit gespielter Trauer „dekadent“ raunt, der sollte sich all die goldglänzenden und wahrlich schwülstigen Alternativen vor Augen führen. Man muss das nicht mögen und wirklich in die Zeit passt es auch nicht, aber perfekt gemacht ist es immer. Etwas Yachtatmosphäre ins dicklederne Gehäus hat der Künstler Yann Kersalé mit der tragbaren Leuchte „La Lanterne d’Hermès“ gezaubert. Gleichwohl, die in vier Segmente teilbare Leuchte – der noble Klapptisch, neben dem sie präsentiert wird, beweist es – scheint das richtige Accessoire für betuchte Schriftsteller des 19. Jahrhunderts zu sein, die „plain air“ zu dichten pflegen. Fehlen nur noch Sonnenhut und Leinenanzug. Dass ausgerechnet Milan Kunderas „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ und Célines „Reise ans Ende der Nacht“ auf dem feinen Tischchen liegen, irritiert die von der Sonnenseite des Lebens herüberwehende Impression allerdings doch etwas.


Bei Hermès im Palazzo Serbelloni: Re-Edition einer Sitzgruppe von Jean-Michel Frank. Und Accessoires für Schriftsteller, darunter Yann Kersalés „La Lanterne d’Hermès“.
Fotos © Barbara Wildung, Stylepark

10. Die Ballade vom
Aufstieg und Fall


Manche Geschichten erzählen sich von selbst. Established & Sons, einst so etwas wie ein „primus inter pares“ in Sachen Innovation und Experimentierfreudigkeit, ist, nach einer deprimierenden Vorstellung im letzten Jahr, zurück. Noch nicht auf der ganz großen Bühne, aber immerhin. „New Products & New Finishes“ heißt das Programm, das in einem großen Zelt im Innenhof des Istituto Ciechi in der Via Vivaio vorgestellt wurde, unter anderem mit der „Felt Series“ von Delphine & Reed Krakoff sowie riesigen schaumgeborenen Polstermöbeln von Philppe Malouin. Wie es mit dem Edel-Punk aus Großbritannien weitergeht? Auch wenn sich die Zeiten geändert haben, man darf gespannt sein.


Bei Established & Sons im Istituto Ciechi in der Via Vivaio: schaumgeborene Polstermöbel von Philppe Malouin. Foto © Thomas Wagner, Stylepark

11. There Is No Business Like ...

Mit Pointen ist es wie mit Kohlenstoff; wird er nur hoch genug verdichtet, entsteht ein Diamant. Was, wir wissen es, bei Pointen eher selten klappt, auch nicht im Showbusiness rund um den Salone. Fragen müssen aber nun mal gestellt, Rätseln ins Auge geschaut werden. Also beurteilen Sie unsere kleine Auswahl selbst:

Flos feierte sich selbst, ließ das kleine „o“ in seinem Namen leuchten und gönnte sich auch ansonsten die Kugel. – Ob Jasper Morrison am Stand von Vitra vor seinen „Hal“ in Leder ein Paar Schuhe gestellt hat, weil er, wie Estragon in Becketts „Warten auf Godot“, daran glaubt, morgen werde einer mit kleineren Füßen kommen, dem sie passen werden?

Wahr, oder nicht wahr? Doshi Levien präsentiert für BD Barcelona ein Sideboard mit einer Front, die wie lackiertes Wellblech ausschaut. Und „Orla“ von Jasper Morrison für Cappellini errinnert uns an einen anderen Autoren. Foto © Thomas Wagner/Martina Metzner, Stylepark

Sollte Mann, so ein Witz, nach einem Cocktail über den Durst vom Barhocker gleiten, was rettet ihn dann? Die als Griff ausgebildete Fußstütze des „Zeb Stools“ von Barber Osgerby. – Wieso sieht die Front des Sideboards, das Doshi Levien für BD Barcelona entworfen haben, wie lackiertes Wellblech aus, besteht aber nicht daraus? – Was verspricht sich Jörg Schellmann eigentlich davon, als Designer bei Moroso unterzuschlüpfen? – Stimmt es wirklich, dass Jasper Morrison die bei Cappelini gezeigte Sitzgruppe „Orla“ entworfen hat oder handelt es sich um eine Verwechslung und das Möbel stammt von einem Wiener namens Jasek Moritzon? – Wer kann mir erklären, weshalb Hängeleuchten manchmal aussehen wie Kuchenformen oder Kuchenformen wie Hängeleuchten?

Pointen am Rande: Wieso schlüpft Jörg Schellmann bei Moroso unter? Und weshalb stellt Jasper Morrison vor seinen „Hal“ ein Paar Schuhe? Fotos © Thomas Wagner, Stylepark

12. Ist es eine Komödie oder
eine Tragödie?

„Going Beyond Categories – Generating Exchanges – Defining New Shapes“ steht auf einem Schild, mit dem Officine Tamborrino, ein italienischer Hersteller von Stahlmöbeln, auf seine Schau mit dem Titel „Feeding Creativity“ hinweist. Wer aber füttert die Fantasie? Wer jagt nach dem Snark? Grenzen überschreiten, sich austauschen, neue Formate schaffen – wir sind in Ventura Lambrate. Es ist Mittwoch, kurz vor Zehn. Aus einem Fenster winken uns die Queen und der Papst zu, in dreifacher Ausfertigung. Der Riese Neugier wächst wieder, wenn er bei Lensvelt sieht, wie einfach, klar und unprätentiös Design einmal sein konnte, 1962, bei Maarten van Severen. Gleich nebenan lässt Lidewij Edelkort den Fetischismus los. Und wer seine Lautsprecherkisten gern in bunte, aus Pailletten bestehende Hüllen stecken möchte, der findet sie hier. Über dem Projekt „Timescapes“ von Logotel steht denn auch geschrieben: „Parallel Worlds. Multiple Connections. Different Designs.“ In einer großen, ehemaligen Produktionshalle mit Sheddächern erklingt plötzlich Klaviermusik. Auf hohem Sockel kniet ein junger Mann vor einem Flügel aus Marmor und spielt. Dahinter hat einer auf die Wand geschrieben, auf die er viele Porträts gehängt hat: „I’ll never be perfect, but I’m unique“.

Es ist Mittwoch, kurz vor Zehn. Wir sind in Ventura Lambrate. Aus einem Fenster winkt uns der Papst zu, in dreifacher Ausfertigung. Foto © Thomas Wagner, Stylepark
Keine Angst vor Klassik & Kitsch: Der Plastic-Chair als luftig geschweißte Schale aus Unterlagscheiben oder Eisenteilen in Ventura Lambrate. Fotos © Thomas Wagner, Stylepark

So lautet sie wohl, die Losung, der hier so viele folgen. Nichts ist perfekt, aber jeder fühlt sich unverwechselbar. Es gibt jede Menge irgendwie gestalteter Dinge, oft sind sie banal und kitschig, gut gemeint oder schlecht durchdacht, immer aber um Originalität bemüht. Und trotzdem, all die von Wünschen und Hoffnungen erfüllten Hallen und Hinterhöfe von Ventura Lambrate sind so etwas wie ein lebendiges Labor des Salone. Hier präsentieren sich Hochschulen, Anfänger und Fortgeschrittene, Streber und Freaks. Hier zeigt man sich und was man gemacht hat, hier wird gegessen, getrunken, gefeiert – denn hier ist Design noch kein Geschäft, sondern eine Lebensform. Ein Spiel mit Kunst-Hand-Werk-Technik, angesiedelt zwischen Arbeiten, Hoffen und Bangen. Denn so vielfältig und so bunt, so lebensfroh und so ambitioniert all jene sich zeigen, die sich und ihre Arbeiten hier präsentieren, das Spiel ist grausam, die Konkurrenz riesig und die Chancen gering, gerade hier entdeckt zu werden. Muss man deshalb traurig werden? Verspricht der Designbetrieb allzu viel, erfüllt aber die Träume aber nur sehr selten? Wer sich in Ventura Lambrate umsieht, erkennt schnell: Für Trauer ist hier kein Platz. Wer an der Schnittstelle von Kunst und Ökonomie zu arbeiten lernt, der durchläuft eine harte Schule. Aber weshalb spricht keiner darüber, dass es auch hier um die Gentrifizierung eines Areals unter Mithilfe der Kreativen geht? So oder so, die Enttäuschungen können warten, sie kommen noch früh genug. Cheerio, und bis zum nächsten Jahr!

„I’ll never be perfect, but I’m unique“: Dinner-Installation im neuen Bereich „Ventura Hive” – und ein junger Mann am Marmor-Flügel. Fotos © Thomas Wagner, Stylepark
Bei Lensvelt sieht man, wie klar und unprätentiös Design einmal sein konnte: mit Re-Editionen des 2005 verstorbenen Maarten van Severen. Foto © Adeline Seidel, Stylepark