Stuhl bleibt Stuhl: Funktionale Sinnlichkeit
Der Stuhl – seit Michael Thonet die Sitzgelegenheit Nummer Eins als in Serie gefertigtes Industrieprodukt etabliert hat, gibt es wohl kaum einen Designer, der sich nicht an seiner Gestaltung versucht hätte. Einen Stuhl zu entwerfen ist ebenso Pflicht wie Kür, und weil der Stuhl noch immer das Universalmöbel par excellence ist, bietet der Salone del Mobile auch in diesem Jahr eine große Vielfalt unterschiedlicher Modelle an.
Auch in diesem Jahr wandert der Blick oft zurück in die fünfziger, sechziger und siebziger Jahre: Abgerundete Lehnen, Kurvensilhouetten, organische Formen und kräftige Farben sind längst wieder en vogue. Auf die Spitze treibt es "Lucky" von Luka Stepan für Blå Station, der das lackierte Schichtholz in eine expressive Form presst, die der Flower-Power-Generation vor Freude feuchte Augen bescheren könnte. In puncto Material lässt sich nach wie vor oft die Kunststoffschale blicken, manchmal inkognito und in neuer Gesellschaft – etwa Ton in Ton mit einem Gestell aus Eschenholz bei Pedralis "Fox" von Patrick Norguet. Auch die Kombination mit einem filigranen Gestell aus Stahl ist gefragt, sei es bei Desaltos "Ply" von Pocci + Dondoli oder bei Arpers "Cila" von Lievore Altherr. Ganz ohne Materialmix kommt hingegen die Neukonstruktion ohne Armlehnen des eleganten "Softshell Chair" von Vitra aus: Der "Softshell Side Chair" von Ronan und Erwan Bouroullec besteht wie sein Vorgänger aus glasfaserverstärktem Polyamid, einer synthetischen Faser, die man sonst eher in der Textilindustrie vermutet.
Vielseitig einsetzbar und federleicht soll der Stuhl von heute also sein, am besten für den öffentlichen Raum gleich mitgedacht, also auch stapelbar – gleichzeitig aber soll er zum Sitzen und Wohlfühlen einladen. Konstantin Grcic bringt die Lösung für diese umfangreichen Anforderungen mit "Primo" für Mattiazzi ungewohnt dezent auf den Punkt: Eine gerade, fast schon architektonisch anmutende Form in solider Buche oder Eiche, kombiniert mit einer geschwungenen, leicht aufgestellten Lehne, die den Rücken perfekt stützt, und dazu eine breite Sitzfläche, die mit einem Polster aus Leder ergänzt werden kann. Die skulpturalen Qualitäten des Modells zeigen sich besonders in der goldfarbenen Version. Auch Grcics neuer "Monza Bistro Chair" für Plank schafft in der Verbindung aus Buche und Kunststoff den Spagat zwischen Ästhetik und Funktion.
Neben Eleganz, Leichtigkeit und einer unaufdringlichen Linienführung bekommt man von den Stühlen auf dem Salone jede Menge Umarmungen geschenkt: Breite, schützende Lehnen unterstreichen die Wohnlichkeit und umschmeicheln den Sitzenden variantenreich, wie beim "Nuez Chair" von Patricia Urquiola für Andreu World oder dem Stuhl aus der "1-inch-Kollektion" von Jasper Morrison und Emeco aus recyceltem Aluminiumrohr.
Dank ihrer sinnlichen Formen wird der Übergang zum Sessel bei vielen Modellen fließend. Selbst auf dem Stuhl darf also wieder herumgelümmelt werden.