Ventura Lambrate liegt am Rande der Stadt, die nächstgelegene Metrostation „Lambrate" ist fünfzehn Minuten Fußweg entfernt. Wer sich hierher aufmacht, muss viel Zeit einplanen, Zeit, die man während der Mailänder Designwoche zumeist nicht hat. Doch es lohnt sich. Schon nach den ersten Metern in der Via Ventura, die Namensgeber und zentrale Achse des Designdistrikts ist, wird man herzlich willkommen geheißen und von ausstellenden Designern ins Luna Café eingeladen. Am Aufgang zum Café hängt ein Plakat vom Mailänder Studio „Mammafotogramma", ein Grafiker und ein Zimmermann bauen seit zwei Wochen an mobilen Holzstrukturen, die an eine Hausfassade gehängt werden können, dabei Geländer und Sitzbank sind, die quietschen und knarren und Sägespäne aufwirbeln.
Nach dem erfolgreichen Start im vergangenen Jahr kamen zur zweiten Ausgabe von Ventura Lambrate mehr als 60.000 Besucher. Zum Vergleich: die Möbelmesse besuchten etwa 320.000 Besucher. 48 Aussteller und insgesamt 315 Designer präsentierten auf einer Ausstellungsfläche von 9.000 Quadratmeter ihre Projekte. Die niederländischen Designvermittlerinnen von „Organisation in Design" haben mit Ventura Lambrate einen Ort etabliert, der Räume für Experimente schafft, für kleine Labels, Studienabsolventen und Galerien, und all das abseits der kommerziellen Strukturen der Messe und der Showrooms im Stadtzentrum.
Besonders in einer neuen Halle in der Via Massimiano, der „Collective Location", war eine geballte Ladung Design zu sehen. Nicht nur hier, sondern auch in einer zweiten großen Halle am Rande des Designparcours, ließen sich in einige Tendenzen feststellen. Beispielsweise wurden Zufälligkeiten und Unzulänglichkeiten zugelassen und gehörten genauso zum Produkt wie saubere Nähte oder glattgebügelte Stoffe. An einigen Entwürfen sollte der Betrachter bewusst abgelesen können, wie das Produkt entstanden ist. So zeigt etwa die Porzellanreihe von Dik Scheepers Bearbeitungsspuren des Materials und die Nähte der zusammengesetzten Einzelteile, die von der Leuchte von Malin Bobeck tropfende Farbe zeichnet ein Muster auf den darunterliegenden Teppich, und die Vasen und Kerzenständer von Ondrej Cerveny wurden in Beutel gegossen, die nach der Trocknung ihre Falten zeigen. Oder der Gestaltungsprozess wurde, wenn es weniger darum ging, dessen Spuren festzuhalten, in Etappen dargestellt. Florie Salnot etwa zeigte auf wenigen Zentimetern den Entstehungsprozess ihrer filigranen Schmuckarbeit „Plastic Gold", zu dem sie einzig alte, aufgesammelte Plastikflaschen, ein paar einfache Werkzeuge und heißen Sand braucht.
Bei vielen Arbeiten war eine Auseinandersetzung mit Verbindungselementen zu sehen – den kleinen, oft vernachlässigten Schrauben, Drähten und Klebern, die ein Ding zusammenhalten. Jerszey Seymour stellte schon 2009 seinen „Workshop Chair" vor, bei dem Lehne, Beine und Armstützen mittels Wachsbällen verbunden sind. Auch er war im Rahmen der Ausstellung „Poetry Happens" in Lambrate zu sehen. So wird aus den vergleichsweise kleinen Elementen eines Entwurfs ein entscheidendes Gestaltungsmerkmal. Ein Detail ist längst nicht mehr nur Detail. Rosemary Anrude beispielsweise hat die Details überhöht und als überdimensionale, bunte Muttern dargestellt. Nicola Zocca benutzt für seine „Shrink collection" einen Schrumpfschlauch, wie er normalerweise als Schutz für Elektrokabel im Automobil- und Flugzeugbau verwendet wird. Nun bildet er eine feste Verbindung für Stühle, Regale und Tische, ohne dass Schrauben oder Nägel benötigt würden. Und Els Woldhek fertigt aus den Verbindungen sogar kleine Schmuckstücke. Scheinbar völlig seiner Funktion enthoben, wird Kupferdraht mittels Elektroplattierung um Regalböden und -beine gewickelt. Bei dem Entwurf von Christof Schmidt werden die Holzteile des Stuhls zerbrochen und anschließend mit PUR-Hartschaum wieder miteinander verbunden. Mehr als nur auf die Verbindung einzelner Elemente setzt der Entwurf „Rope Stools" von Yoav Reches. Seine Hocker können flach zusammengelegt werden. Beim Aufbau wandert ein Strick vorgefertigte Spuren entlang und formt und dekoriert dabei den stabilen Sitz.
Viele beschäftigen sich auch weiterhin mit der Recyclingfähigkeit beziehungsweise der Umnutzung von Materialien auseinander. Das Designlabel Vij5 und Mieke Meijer haben ein „Holz" aus alten Zeitungen entwickelt, „Newspaperwood" genannt, das geschnitten, gefräst und geschliffen, also wie herkömmliches Holz behandelt werden kann. Werner Aisslinger stellte seinen Schalenstuhl „Hemp" vor, der aus einem umweltfreundlichen Material auf der Basis von Hanf und Flachs produziert wird. Tobias Juretzek verwendet alte Kleidung für seinen „Rememberme Chair" und Diederik Schneemann formt für seine „Flip Flop Story" aus ausgetretenen Flipflops Vasen, Kerzenständer und andere voluminöse Objekte.
Kurzum: Ventura Lambrate bot ein prall gefülltes Paket für Liebhaber experimenteller Gestaltung. Zu sehen war junges, frisches Design – ob in weiträumigen Hallen, schäbigen Hinterhöfen oder in glatter, moderner Sichtbetonarchitektur. Entstanden ist eine kurzweilige Promenade mit Gelegenheiten zum Pausieren, ob bei selbstgebackenem Apfelkuchen, frisch gekochter Nudelsuppe oder italienischem Kaffee. Es wurde sich um das Wohl des Gastes gesorgt. All diese Bemühungen trugen kurzfristig zur Entschleunigung bei, bevor es zurückging in die gewohnte Mailänder Hektik.