SALONE DEL MOBILE 2019
Revival vs. Innovation
Einlass nur mit Einladung! Die Ansage der beiden Herren im Anzug am Standzugang des italienischen Herstellers Minotti auf dem Salone del Mobile ist höflich, aber unmissverständlich. Händler, Presse und geladene Gäste sind willkommen, Laufpublikum nicht. So wie hier bleiben dem normalen Besucher mittlerweile viele Präsentationen der Mailänder Möbelmesse verschlossen, denn nicht nur Minotti hat Einlasskontrollen eingeführt. Türsteher lassen ausschließlich ausgewähltes Publikum hinein. Die Mailänder Messe wird zum Opfer ihres Erfolges. Allein 26 Prozent Besucherzuwachs gab es beim Salone 2018 gegenüber dem Vorjahr. Zahlen, die die Messe stolz verkündet, deren Auswirkungen den Ausstellern aber ganz offensichtlich zunehmend zu schaffen machen. Wo die Besucherscharen hingelangen, ziehen sie eine Spur der Verwüstung nach sich: Bereits nach einem Messetag sind etwa viele Bodenbeläge reif für den Austausch. Und das Messepublikum verändert sich. Wo früher die Einkäufer und Pressevertreter aus dem In- und Ausland dominierten, bestimmen im Jahr 2019 junge Leute, häufig aus Fernost, das Bild: Designaficionados, Influencer, Blogger. Messe und Hersteller tun sich schwer mit dieser neuen Besucherschaft. Insbesondere viele italienische Marken reagieren mit Abschottung – keine zukunftsweisende Strategie in Anbetracht der Wichtigkeit von Social Media für jede zeitgemäße Markenkommunikation.
Wie im Museum
Anderswo probiert man, mithilfe der Standarchitektur die Menschenströme zu kanalisieren: Vitra, Kartell, Moroso und einige andere Hersteller zeigen ihre Produkte auf Guckkastenbühnen oder in einer Art Museumspräsentation. Diese sorgfältig komponierten Wohndioramen sind extrem "instagrammable" und eignen sich optimal zur Verbreitung in den sozialen Kanälen. Gleichzeitig werden die Exponate dem direkten Zugriff des Publikums weitgehend entzogen. Zudem kann durch die Anordnung der Produkte auf Podesten und an festgelegten Laufwegen der Massenansturm auf den Ständen ohne größere Schäden bewältigt werden.
Eine Zwitterlösung zwischen den Konzepten hat die Design Holding für die Marken B&B Italia, Flos und Louis Poulsen bei ihrem Stand in Halle 24 umgesetzt. Den gewaltigen, allseitig verschlossenen Kasten im Zentrum der Halle durchläuft ein tunnelartiger Gang mit einer spannenden Multimedia-Installation, bei der man Projektionen durch Berühren der Wand auslösen konnte. Auf der einen Seite des Ganges heißt es: Nur mit Einladung. Hier wird gepflegte Langeweile im Stil eines Flagship-Stores präsentiert – eine Zone für die Händler, denen die Neuheiten im vertrauten Retail-Rahmen vorgestellt werden. Die für alle Besucher offene Standfläche auf der anderen Seite des Ganges stellt szenografisch das genaue Gegenteil dar. So zeigt B&B Italia alle Neuheiten display-artig vor weißen Wänden, an denen das jeweilige Exponat in Einzelteilen zu sehen ist. Auch Flos und Louis Poulsen stellen ihre Neuheiten in White Cube-Kabinetten aus. Besuchermassen? Instagrammability? Hier kein Problem!
Der kleine Sprung nach vorn
Der Gemeinschaftsstand von B&B Italia, Flos und Louis Poulsen bildet den Mittelpunkt der neuen S.Project-Bereiches, der die Hallen 22 und 24 umfasst. Mit dem neuen Konzept, das designorientierte Hersteller, unabhängig von Größe und Marktsegment, zusammenbringt, greift die Mailänder Messe mit einem Jahrzehnt Verspätung eine Idee auf, die bei der imm Cologne längst höchst erfolgreich ist. Denn auch wenn Salone-Präsident Claudio Luti nicht müde wird zu betonen, dass der Salone del Mobile als Weltleitmesse den Maßstab für alle Konkurrenzveranstaltungen darstellt – in Bezug auf die Kuratierung der Messe hat man sich in Mailand sehr lange auf seinen Lorbeeren ausgeruht. Offenbar war man sich gewiss, dass die Strahlkraft der italienischen Möbelindustrie genügt, um dem Salone seine Marktposition zu sichern. Nun also doch Veränderung, allerdings nur etwas halbherzig: Zwar können in den S.Project-Hallen kleine interessante Firmen ihre Produkte auf attraktiven Ständen zeigen – so wie das junge finnische Label Nikari, das letztes Jahr noch mit einer betttuchgroßen Zelle am Rande des Geschehens auskommen musste. Nun kann es vis-à-vis des großen De Padova-Standes im Zentrum der Halle 22 seine anspruchsvollen Holzmöbel ausstellen. Vor weitergehenden Veränderungen ist man aber auch beim S.Project zurückgeschreckt – etwa dem Hineinholen der streng abgegrenzten Jungdesignerschau "Salone Satellite", mit dem es sich die Hallen teilt. Stattdessen muss man am streng bewachten Zugang zum Satellite-Bereich noch einmal sein Ticket vor einen Scanner halten, um hineinzugelangen – überflüssig und störend. Die Konsequenz: Während man sich im S.Project zeitweilig auf die Füße tritt, könnte man auf dem Salone Satellite ein Fußballspiel anpfeifen, so leer ist es dort.
Und die Produktneuheiten des Salone del Mobile? Beginnen wir mit dem erfreulichen: Mattiazzi und Magis, seit langem Garanten für anspruchsvolles Design, melden sich nach einem eher unauffälligen Auftritt im vergangenen Jahr furios zurück. Matiazzi stellt neben "Cugino", einem skulpturhaften Hocker von Konstantin Grcic, auch "Fronda" von Sam Hecht und Kim Colin vor. Das Sitzmöbel, das mit und ohne Rückenlehne, also als Stuhl und als Hocker gezeigt wird, besteht aus einem Holzrahmen und einer anatomisch geformten Metallsitzfläche. Letztere lässt natürlich sofort an den berühmten Traktorsitz des "Mazzadro"-Hockers der Castiglionis denken. Neben diesen wirklich herausragenden Entwürfen verblassen beinahe die weiteren präsentierten Neuheiten, ein Stuhl von Foster + Partners und ein weiterer Hocker von Jasper Morrison. Auch die neuen Produkte, die Magis zur Mailänder Messe mitgebracht hat, begeistern durch die Bank weg. Der Stuhl-Prototyp "Vela" der jungen israelischen Designer Gilli Kuchik und Ran Amitai etwa. Er ist nicht nur formal, sondern auch wegen das verwendeten Materials, nämlich Magnesium – das momentan zwar in der Automobilindustrie, nicht aber im Möbelbau verwendet wird – eine Großtat. Der Werkstoff sorgt dafür, dass "Vela" gleichermaßen leicht und stabil ist. Stapelbar ist der Stuhl übrigens auch. Besonders hervorzuheben unter den Magis-Neuheiten sind weiterhin die Leuchte "Lost" des Duos BrogliatoTraverso, ein Ring, dessen Außenfläche die Lichtquelle ist und Jasper Morrisons Stuhl "Plato", mit dem der Designer die "Supernormal"-Variante eines klassischen Gartenstuhls entwickelt hat. Höhepunkt unter den Magis-Neuvorstellungen ist aber fraglos Stefan Diez' Sofasystem "Costume". Diez hat dieses komplett modulare System mit einer simplen Aufgabenstellung konstruiert: alles sollte einfach auszutauschen, zu erweitern und zu recyceln sein. "Costume" ist in seiner schlichten Logik revolutionär: Es gibt ein Grundgerüst aus wiederverwertbarem Kunststoff. In dieses werden leicht zu wechselnde Polster aus Schaumstoff eingesteckt. Darüber wird ein mit Gummizügen fixierter Bezug gezogen. Armlehnen und weitere Sitzelemente werden mit Metallspangen montiert. Alles ist Konstruktion, alles wird offen gezeigt – Stefan Diez besinnt sich hier auf klassische Tugenden eines Industriedesigns, das statt leerer Formerfindungen die Funktion in den Mittelpunkt stellt.
Der neue Konstruktivismus
Überhaupt ist Diez in den letzten Jahren in Hochform. Seinen auf technische Fortentwicklung zielenden Designansatz illustriert auf dem Salone nicht nur "Costume", sondern auch das Lichtsystem "Plusminus" für Vibia. Dessen zentraler Bestandteil ist ein stromleitender Spannriemen, auf den unterschiedliche Leuchten ganz einfach aufgezogen werden können. So tief in die Entwicklung wie Diez steigen die wenigsten Designer bei ihren Entwürfen ein. Dennoch ist ein neu erwachtes Interesse an der Konstruktion, an handwerklichen und technischen Verfahren, unübersehbar. Vielleicht deshalb sind einige der interessantesten Neuheiten der Messe aus den "konstruktiven" Werkstoffen Holz und Metall. Zu nennen wäre hier etwa Alfredo Häberlis Schalenstuhl "Time" für Alias aus papierdünnem, gebogenen und gehefteten Schichtholz, der sich Verfahren aus dem Snowboardbau zunutze macht. Obwohl der Sessel mehr wie ein filigranes Origami-Kunstwerk anmutet, ist er nicht nur stabil, sondern auch äußerst bequem – das optional erhältliche Sitzkissen ist da eigentlich überflüssig.
Unter den Metallmöbeln sticht Maddalena Casadeis "Verso"-Tisch heraus, den das kleine Label Fucina im Rahmen des "Fuorisalone" in einem Showroom in der Innenstadt zeigt. Die Raffinesse des Tisches wird besonders bei einem Blick auf seine Stützen deutlich. Die vier runden Tischbeine sind teilweise abgefast, so dass sie im Schnitt nicht kreisförmig sind, sondern auch eine gerade Seite besitzen. Das hat nicht allein dekorative Gründe. Denn "Verso" ist mit zwei unterschiedlichen Tischplatten erhältlich: eine mit gerundeten Ecken - hier werden die Beine mit der gekurvten Seite nach außen montiert; und eine mit Ecken, die als 45 Grad-Winkel gestaltet sind – dann sind die Beine mit der abgeflachten Seite nach außen angebracht. Fucina bietet diesen Tisch darüber hinaus in einem hinreißenden neuen metallischen Grünton an, der ihm ausgesprochen gut zu Gesicht steht.
Zurück auf die Couch
Eine Tendenz, die den Designern zwangsläufig Schwierigkeiten bereiten muss, ist das scheinbar unaufhaltsame Anwachsen der Produktfamilien. Kaum ein neuer Stuhl, der nicht mit drei verschiedenen Untergestellen und vier unterschiedlichen Höhen, mit hohem und niedrigen Rückenteil, mit und ohne Armlehnen, in Holz, Kunststoff und gepolstert, als Lounger und Barhocker erhältlich ist. Es bedarf eines Geniestreiches, um ein Produkt zu entwickeln, das in allen diesen Varianten überzeugt. Oftmals ist das Resultat stattdessen in allen Ausführungen nur mittelmäßig. Selbst Altmeister Mario Bellini hat sich nun dazu hinreißen lassen, für Cassina seinen wunderbaren Cab-Stuhl von 1977 um überflüssige und wenig überzeugend proportionierte Varianten zu ergänzen.
Cassina ist übrigens nicht die einzige Marke, die sich auf klassische Sitzmöbel der späten Siebziger und frühen Achtziger im eigenen Programm zurückbesinnt. So entstaubt B&B Italia zum 40. Geburtstag das klassische "Diesis"-Sofa von Antonio Citterio und Paolo Nava. Am Zanotta-Stand kehrt "Milano", 1982 von Jonathan De Pas, Donato D'Urbino und Paolo Lomazzi entworfen, aufgefrischt als "Milano+" zurück. Anstatt mit PoMo- oder Memphis-Extravaganz kommt das Achtziger-Revival also mit Ledercouch und der ebenfalls aus der Versenkung zurückgekehrten Velours-Auslegeware auf uns zu. Bei B&B Italia erlebt sogar der Fliesentisch eine Renaissance. War das wirklich nötig? Nicht das Antonio Citterios Entwurf mit seinen auf die Fliesen aufgedruckten Spitzendeckchen nicht als ironischer Kommentar gelesen werden kann. Es graust einem vielmehr vor den zahllosen, ganz unironischen Nachahmerprodukten, die uns wohlmöglich bald ins Haus stehen. Keine Gefahr in dieser Hinsicht geht dagegen von dem wunderbaren Servierwagen von Richard Sapper aus, ein großartig funktionaler Entwurf aus dem Jahr 1976, dessen Neuauflage Alessi als Prototyp zeigt.
Die neuesten Schreie
Und ansonsten? Die Salone-"Trends" der Saison 2019 sind leicht gewinkelte Sofas sowie Sofasysteme mit plattformartigen Unterbauten, welche an den ungeposterten Stellen als Ablage fungieren. Patricia Urquiola und Jaime Hayon haben gleichzeitig ihre Liebe zu ausladenden Stützen am Sofa- und Sesselrücken entdeckt, eine Idee die sicherlich bald Kreise ziehen wird. Jedes Jahr ein vieldiskutiertes Thema: Die Farbtrends. Wie schon auf der imm Cologne 2019 gibt es viel wurstfarbenes zu sehen: Puderrosa, Terrakottarot, Nude. Aber hier und da ist ein neuer Mut zur knalligen Farbe unverkennbar. Fast schon waghalsig ist das Ultraviolett, in dem Stefan Diez' "Costume" bei Magis bezogen ist.
Mittlerweile drängt fast jedes namhafte Fashion-Label mit künstlerisch angehauchten Installationen in das Umfeld des Salone – 2019 etwa Jil Sander, COS, Issey Miyake, Strenesse, Prada, Tod's, um nur einige zu nennen. Aber Interesse besteht auch in der Gegenrichtung. Benjamin Huberts "Tape"-Sofa für Moroso, letztes Jahr als Prototyp gezeigt, nun produktionsreif, überträgt das Verkleben von Stoffen mittels Polyurethanband aus dem Outdoormode-Bereich in den Möbelbau. Und auch in anderer Hinsicht ist die Mode den traditionellen Möbelherstellern voraus: Niemand zeigt so perfekt gestaltete Markenauftritte wie die Einrichtungslinien der Luxushäuser Hermès und Louis Vuitton bei ihren extrem aufwendigen Präsentationen im Rahmen des "Fuorisalone". Hier hat man längst begriffen, dass die Inszenierung fürs Foto im Jahr 2019 entscheidend, die jungen Influencer, Blogger und Designaficionados der Schlüssel zum Erfolg sind – eine Lektion, die viele Unternehmen auf dem Salone 2019 noch lernen müssen.