NACHHALTIGKEIT
Eine gemeinsame Sprache
Anna Moldenhauer: Woher stammen die Informationen, die dein Team verarbeitet?
Kika Brockstedt: Die Daten stammen hauptsächlich aus EPDs (Environmental Product Declaration/ Umweltproduktdeklaration), standardisierte Dokumente, die Informationen über die Umweltauswirkungen eines Produkts auf der Grundlage einer Lebenszyklusanalyse enthalten. An diesen lässt sich beispielsweise ablesen, wie viel Wasser und Energie in der Produktion verwendet wird, woher die Energie stammt oder wie viel CO2 in unterschiedlichen Phasen verbraucht wird. Das Problem ist die Vermittlung dieser Daten, denn jede Umwelt-Produktdeklaration ist meist viele Seiten lang und die Inhalte sind auf den ersten Blick schwer zu verstehen. Daher war es unser erstes Ziel, diese Daten zu sammeln und alle Informationen aus ihnen herauszuziehen, die für die Erreichung der Klimaziele relevant sind. Wir haben quasi alle EPDs, die wir in Europa finden konnten, digitalisiert und normalisiert. Zudem möchten wir durch die Analyse unterschiedlicher Reports holistische Daten erreichen, die nicht nur den CO2 Verbrauch fokussieren, sondern auch andere ausschlaggebende Kriterien, wie zum Beispiel Wasserverbrauch oder die Verwendung von erneuerbarer Energie, berücksichtigen.
Inwiefern können KI-Werkzeuge bei dieser Analyse helfen?
Kika Brockstedt: Beispielsweise bei der Datenextrahierung aus den PDFs und der Klassifizierung der Produkte. Ein großer Teil der Informationen liegt nur im pdf-Format vor und kann nicht sofort von Maschinen gelesen werden. Mit Hilfe von KI-Verfahren lassen sich diese Daten automatisch mit hoher Qualität extrahieren, um sie in digitale Prozesse zu integrieren. In den von Menschen erstellten Dokumenten können Fehler vorkommen und die KI prüft die Daten auf Auffälligkeiten, wie eine im Vergleich überdurchschnittlich positive Angabe in einer Material-Kategorie. Das ermöglicht eine Vergleichbarkeit, eine Klassifizierung und eine Verifizierung. Ebenso lernt die KI von den Anfragen der NutzerInnen für die "Recommendation Engine": Sie ermittelt aus diesen, welche Materialien häufig gesucht werden und welche als Alternative gelten könnten. Es dauert eine Weile, bis auch alternative Daten in das System aufgenommen sind, aber die KI bietet da ein großes Potenzial.
Sprich die KI unterstützt euch beim Erfassen und Auswerten der umfangreichen Informationen – du hast gerade die Prüfung der Daten mittels KI angesprochen, wie funktioniert das genau?
Kika Brockstedt: Bei der Analyse einer Materialklasse wie Zement lässt sich mittels der großen Menge an Daten auswerten, ob die in einem einzelnen Dokument angegebenen Zahlen im Vergleich zum großen Ganzen im Rahmen liegen und ob sie Plausibilitätsregeln folgen. Das Machine-Learning-System identifiziert, ob die Berechnung außerhalb des gelernten Bereichs liegt und weist uns auf Anomalien hin. Regelbasierte Expertensysteme prüfen Inkonsistenzen in den Daten. Diese Daten werden dann in unserem System blockiert und manuell überprüft.
Wie legt ihr fest, welche Umweltindikatoren, wie der Wasserverbrauch oder das Potenzial für die Kreislaufwirtschaft, ausgewertet werden und welche nicht?
Kika Brockstedt: Zu unserem Team gehören Nachhaltigkeits-ExpertInnen, die vorab analysiert haben, welche Kriterien aus den Übersichten ausgewertet werden können. Die EPDs sind nicht immer alle vollständig ausgefüllt, bei den Punkten "Zirkularitätsindex" oder "Wiederverwertbarkeit" fehlen beispielsweise auch mal Zahlen. Mitunter können einige Angaben auf Basis der vorhandenen Daten geschätzt werden – aber auch das Wissen darüber welche Informationen fehlen ist hilfreich, denn daran lässt sich ablesen, was sich in Zukunft verändern sollte.
Der Service von Revalu besteht aus unterschiedlichen Stufen: Die kostenfreie Frontend-Plattform, eine kostenpflichtige Material Cloud und eine Innovation Hub. Kannst du die Möglichkeiten jeweils aufschlüsseln?
Kika Brockstedt: Die Plattform an sich steht allen NutzerInnen kostenfrei zur Verfügung, denn das war eines unserer Ziele – für mehr Nachhaltigkeit die Informationen verfügbar zu machen, vor allem mit Blick auf kleine Architekturbüros. So lassen sich Materialien suchen und anhand unterschiedlicher Wirkungskriterien miteinander vergleichen, wie der Anteil der erneuerbaren Energien. Wir möchten einen Ort schaffen, an dem Bio-basierte und recycelte Materialien übersichtlich dargestellt sind. Zudem gibt es viele innovative Materialien, die aber noch keinen EPD haben. Auch die berücksichtigen wir anhand ihrer Eigenschaften, so dass sie über die Plattform gefunden und eingeordnet werden können. Es ist ebenso möglich Materialien zu speichern und in einem Projekt anzulegen, um beispielsweise für einen Wandbau kleine Berechnungen zu realisieren. Das hilft gerade in der Anfangsphase eines Projekts bei der Orientierung. Je früher die Berechnung passiert und der CO2-Fußabdruck klar beziffert ist, umso besser lässt sich dieser reduzieren.
Die nächste Stufe ist unser Angebot die Daten in die individuellen Softwares und internen digitalen Werkzeuge der Architekturbüros zu implementieren, so dass diese bei den Arbeitsprozessen direkt miteinbezogen werden können. Damit sind wir aktuell überwiegend beschäftigt, da die Architekturbüros große Mengen verifizierte Daten für ihre Berechnungen brauchen und wir diese liefern können. Interessant ist zudem welche Daten abgefragt werden und welche Ziele die Unternehmen jeweils haben. So können wir lernen, wieviel nachhaltige Veränderung wirklich gefragt ist.
Gibt es deiner Meinung nach "gute" und "schlechte" Materialien?
Kika Brockstedt: Ich bin der Meinung, dass die Bewertung so nicht funktioniert. Wie nachhaltig ein Material ist, hängt bereits sehr stark davon ab, wo das Projekt gebaut wird. Meiner Ansicht nach ist eine Diversität von Lösungen und Materialien entscheidend. Wenn wir unsere Hochhäuser nur noch aus Holz bauen, haben wir etwas missverstanden. Es geht nicht nur darum ein bestehendes Material mit einem anderen, vermeintlich besserem zu ersetzen. Um nachhaltig zu agieren, müssen wir unseren Konsum und unsere Systeme überdenken. Zement ist an sich ein tolles Material, das weiterentwickelt werden kann. Holz allein ist nicht die Lösung, denn wir brauchen unsere Wälder. Um Innovationen zu erreichen, ist eine Entwicklung von bestehenden und neuen Materialien nötig. Ebenso das generelle Umdenken für eine Dekarbonisierung von Lieferketten, für eine Erhaltung von Bestandsbauten und die gegenseitige Unterstützung in der Branche. Wenn man immer nur auf eine Zahl schaut, wie den Carbon-Fußabdruck pro Quadratmeter, wird schnell übersehen, dass eine andere Lösung für das Projekt passender wäre. Lehmbau ist beispielsweise schwer zu berechnen, aber sehr nachhaltig, da der Erdboden selbst als Material verwendet wird. Wenn Nachhaltigkeit holistisch sein soll, gehört auch der soziale Einfluss zu den Punkten, die wir berücksichtigen sollten. Die Transparenz der Daten ist in dem Prozess ein erster Schritt, denn sie schafft eine gemeinsame Sprache.
Gab es bei der Entwicklung von Revalu Herausforderungen, mit denen ihr nicht gerechnet hättet?
Kika Brockstedt: Gute Frage. Sehr, sehr viele. Abgesehen von den Umweltkriterien muss ein Gebäude auch technisch aufbaubar sein. Die Kombination ist nicht leicht zu erreichen. Es werden viel mehr Pilotprojekte gebraucht, anhand derer bewiesen werden kann, dass ein anderes Vorgehen als das bisherige möglich ist. Wir können nicht das große Ganze mit einem Schritt verändern, aber die kleinen Zwischenschritte auf dem Weg dorthin. Mit Revalu haben wir es geschafft Unternehmen zu überzeugen alternative Materialien zu verwenden und das ist schon ein erster Erfolg. Die Skalierung ist sehr wichtig, um den AkteurInnen die Sorge zu nehmen, dass die Verwendung eines alternativen Produkts zu Verzögerungen der Abläufe führen könnte. Um neue Wege zu erkunden, muss jemand den ersten Versuch in eine andere Richtung wagen. Und das haben wir getan.
Was sind die nächsten Schritte?
Kika Brockstedt: Die betreffen die weitere Datenintegration. Mit der Material Cloud wollen wir die Digitalisierung in den Anwendungsfällen vorantreiben. Wir kooperieren nicht nur mit ArchitektInnen und BauherrInnen, sondern auch mit Städten und Gemeinden, um zu schauen, wie wir auf Basis der Berechnungen Prognosen treffen können, um so die Klimaziele schneller zu erreichen. Parallel arbeiten wir daran, die Daten zu erweitern, um mehr Umweltkriterien abfragen zu können. Das Angebot sollte so vielfältig sein, dass die NutzerInnen mit Revalu individuell berechnen können, was für ihr Projekt wichtig ist.