Orgatec 2016
Schrank und frei
Das Büro und die moderne Architektur – das war lange kein inniges Verhältnis. Denn wo die Moderne mit klaren Linien und reduzierten Formen alles aufräumen wollte, da widersetzte sich das Büro mit all seinen Papieren, Ordnern, Schreib- und Heftgeräten störrisch diesem Purismus. Erst im Zeitalter der allumfassenden Digitalisierung schien die Vision des Papierlosen Büros in greifbare Nähe zu rücken. All die störenden Unterlagen und viele Gegenstände konnten nun entbehrlich werden. Die Puristen atmeten schon auf, mussten aber rasch entdecken, dass nun andere, nicht weniger störende Elemente an deren Stelle traten: das Büro des frühen Computerzeitalters war vollgestellt mit Towern und Desktops, Röhrenbildschirmen und Nadeldruckern, CD-Ständern und laut brummenden und piepsenden Modems – ganz zu schweigen von den Kilometern von Kabeln. Doch heute, wo ein Mobiltelefon einen Großrechner vollständig ersetzen kann und alle Informationen sowieso auf dem Firmenserver oder in der Cloud liegen, wo jede Information im Netz erhältlich ist und jedes Dokument elektronisch verschickt werden kann – heute endlich scheint das Büro, von dem die Moderne träumte, verwirklichbar.
Wer sich in diesem Jahr auf der Orgatec umschaut, den muss der Verdacht beschleichen, dass zumindest die Büromöbelbranche in weiten Teilen beschlossen hat, jede Form von größerer Ablage im Büro für überflüssig zu erklären. Ungehindert kann der Blick des Besuchers über die Messestände schweifen, denn kaum ein höheres Regal, keine Trennwand hält den Blick auf. Was keinen Platz auf einem elektronischen Speichermedium findet, hat in einem kleinen Schränkchen neben oder unterhalb der Arbeitsfläche zu verschwinden – wenn man denn überhaupt noch über einen eigenen Schreibtisch verfügt. Denn wer Deskharing betreibt und deshalb von einem Arbeitsplatz zum nächsten wandert, muss sowieso mit kleinen Rollcontainern oder briefkastengroßen Schließfächern vorliebnehmen. Auf der Orgatec werden auch Behälter vorgestellt, die morgens aus dem eigenen Fach entnommen und an den jeweiligen Schreibtisch gehängt werden können. Bei VS hat man dafür ein Zwischending aus Henkelmann und Kühltasche entwickelt, das die Unterlagen und Habseligkeiten der Werktätigen aufnehmen soll. Beim Büromöbelhersteller Assmann muss eine simple kleine Plastikwanne reichen. Kein Wunder, dass man dort auch der Meinung ist, dass bei denjenigen, die noch einen eigenen Schreibtisch haben, der kleine persönliche Stauraum im Unterschrank in Teilen überflüssig ist. Dort wird deshalb gleich das ausziehbare Fußbänkchen zum Hochlegen der Beine integriert. Wer möchte da noch etwas ablegen?
Viele Hersteller zeigen auch niedrige Sideboards bei denen unklar bleibt, ob sie einen tatsächlichen Bedarf decken oder nur deshalb aufgestellt werden, weil sie die Offenheit der Stand-Architekturen nicht stören. Furniko legt zumindest gleich einmal eines der omnipräsenten Akustikelemente auf ihr Sideboard, das damit zur Bank wird. Zu verstauen scheint es ja eh nichts zu geben. Auf der Suche nach einer Zweitfunktion für ihr Seitenschränkchen hat Wiesner Hager einen speziellen Aufsatz für Topfpflanzen kreiert, der dem Möbel den richtigen Mid-Century-Charme à la „Mad Men“ verleiht – als im Büro noch geraucht und Papier beschrieben wurde.
Unifor zeigt einen Prototyp des Schrankes „Element“, den das Büro Foster + Partners entworfen hat. Außerdem wurde der Schrankklassiker „Totem“ aus der Serie „LessLess“ von Jean Nouvel überarbeitet. Er ist jetzt in neuen Materialien und Farben erhältlich. Ebenfalls noch im Prototypenstadium waren zwei originelle Rollschränke des französischen Herstellers Jec, die der Designer Jean-Michel Wilmotte entworfen hat. Bei ihnen dienen horizontal laufende Rolladen als Wand und Tür gleichermaßen.
Zu den ganz wenigen neuen Regal- und Aufbewahrungssystemen zählt das von Werner Aisslinger für Piure entworfene Systemmöbel „Mesh“. Hier ist man offenbar zu der Überzeugung gelangt, dass auch in den Büros der Zukunft noch Dinge aufbewahrt und in Regale gestellt werden müssen. Gerade in den angebotenen kräftigen Farben besitzt das Möbel eine ausgeprägte Präsenz: ist also ausgerechnet Aisslinger in diesem Sinne der Antimodernist, der das bunte Nippes-Chaos im Büro protegiert?
Schließlich war auch auf dem weitläufigen Vitra-Stand ein Regalsystem als Raumteiler im Einsatz. „Kado“ heißt es und stammt eigentlich aus dem Retail-Programm des Unternehmens, wo es schon seit langem im Angebot ist. Erst als Vitra mit der Londoner Innenarchitektin Sevil Peach das neue „Studio Office“ im Hauptsitz des Unternehmens einrichtete, entdeckte man die Qualitäten von „Kado“ für den Büro-Bereich. Dort soll die Metallstruktur eine Vielzahl von Funktionen aufnehmen, wobei offenbar sowohl an individuelle Kundenlösungen, als auch an standardisierte Elemente gedacht wird. Die Entwicklung solcher Serienlösungen für Einbauten ist aber noch nicht abgeschlossen, so dass zurzeit nur der Metallrahmen von Vitra zu beziehen ist.
Wird das papierlose, volldigitalisierte, minimalistische Büro also jetzt zur Norm? Wer weiß. Vielleicht haben Regal, Stauraum, Akte und Buch noch eine Chance, Teil unserer Arbeitswelt zu bleiben. Vielleicht sind die neuen Systeme von Vitra und Piure ja bereits der Anfang einer Kehrtwende.