Die Ideen von Raumlaborberlin kreisen um Orte der Zusammenkunft: Eine Oper in einer U-Bahnstation, eine Gondelfahrt durch den gefluteten Rest des Palastes der Republik in der Mitte Berlins, eine Reise in einem selbst gebauten U-Boot auf dem Rhein oder eine Experimentierplattform für Workshops, Screenings, Performances - wild und aktiv, so zeigen sich die Projekte des Berliner Künstler- und Architektenkollektivs. Ihr Motto lautet „acting in public" - und die Stadt ist ihr Handlungsraum. Das Verständnis von Stadt ist dabei ein grundsätzlich anderes als bei herkömmlichen Sichtweisen der Stadtplanung. Fragt man die Gestalter nach ihren Vorbildern, so antworten sie, sie seien inspiriert von Strömungen utopischer Avantgarde-Architektur und von dem amerikanischen Schriftsteller und Musiker Henry Rollins, also von einer Mischung aus Punk, experimenteller Grenzüberschreitung und Poesie.
Die achtköpfige Gruppe Raumlaborberlin besteht seit 1999 und wird in diesem Jahr zum vierten Mal auf der internationalen Architekturbiennale in Venedig vertreten sein, 2008 widmete der Heidelberger Kunstverein ihr eine Einzelausstellung mit dem Titel „Das System" Im Kunsthaus Bregenz ist derzeit die Ausstellung „Bye Bye Utopia" zu sehen, für die Raumlaborberlin die als Kunst- und Vermittlungsplattform konzipierte KUB-Arena im Erdgeschoss um eine diagonal durchschneidende Ebene erweitert hat. Der räumliche Eingriff gleicht einer monumentalen Treppe oder den Zuschauerrängen eines Amphitheaters. Die Berliner Künstler und Architekten transferierten dafür siebenhundert Türblätter aus DDR-Plattenbauten von Halle-Neustadt nach Bregenz, wo sie die Ausstellungsräume des Kunsthauses nun neu definieren und in eine Raumlabor-Welt verwandeln.
Die Gründung der Gruppe verlief unkonventionell, ohne ausgedehnte Sitzungen und Tagesordnungspunkte: Man kam schlicht aus verwandten Szenen, hatte die gleichen Vorstellungen und vor allem Lust zusammenzuarbeiten. Die Struktur von Raumlaborberlin basiert auf dem Grundgedanken eines Kollektivs. Jeder bringt seine Ideen und seine Präferenzen ein; jeder geht der Aufgabe nach, die ihn interessiert, wobei sich unterschiedliche Teams bilden und die Rollen von Projekt zu Projekt getauscht werden, sodass immer wieder überraschende Standpunkte entstehen. Ein Beispiel für die kollektive Zusammenarbeit ist das viel diskutierte Projekt „Der Berg" (2005), das im inzwischen abgerissenen Palast der Republik in Berlin stattfand. Hier übernahm Raumlaborberlin nicht nur die künstlerische Leitung, sondern entwickelte zusätzlich einen „Philosophenweg" und den „Gasthof Bergkristall", in dem direkt auf dem Schlossplatz, also mitten im Herzen Berlins, übernachtet werden konnte.
Bei interdisziplinären Aufgabenstellungen kooperieren die Gestalter mit Spezialisten aus unterschiedlichen Bereichen. So hat sich mittlerweile ein fachübergreifendes, internationales Netzwerk um die acht Berliner herausgebildet. Die Zusammensetzung der Expertenteams kann sich über die Dauer eines Projektes verändern, weil die Arbeitsweise prozessual angelegt und auf den jeweiligen Handlungsraum zugeschnitten ist. Ein Projekt beginnt meist mit einer Art Feldforschung, aus der eine Strategie entwickelt wird, die am Ende zu einer Aktion führt. Die Nutzung des Tempelhofer Flugfeldes (2007-2009) steht beispielhaft für diese Herangehensweise. Raumlaborberlin entwickelte für das - nach Schließung des Flughafens Berlin-Tempelhof - brachliegende Gelände einen dynamischen Masterplan, der zunächst eine Analyse vorsah, dann in eine Phase der Pionier- und Zwischennutzung übergehen sollte, um das Areal auf lange Sicht in einen kreativen und vielfältigen Standort zu verwandeln.
Ebenso fachübergreifend wie die Zusammensetzung der Projektgruppen sind die Aufgabengebiete, mit denen sich Raumlaborberlin beschäftigt. Die Grenze zwischen Kunst und Architektur wird dabei beständig überschritten. Neben Architektur, Stadtplanung und Urbanismus sorgen Rauminstallationen, Skulpturen, Filme oder geführte, sich auf Nebenwege konzentrierende Stadtspaziergänge für neue Akzente. So entstanden in den vergangenen Jahren immer wieder Projekte, die meist als temporäre Eingriffe in den Stadtraum wahrgenommen wurden. Allen gemeinsam ist die Frage nach dem Verhältnis von Stadt, Raum und Nutzer, wobei bewusst von den Klischees einer Stadtplanung abgewichen wird, die sich allein an der Funktion von Arealen orientiert. An deren Stelle tritt ein generatives und narratives Verständnis der Stadt als ein sich im Wandel befindlicher öffentlicher Raum, der sich in der Öffentlichkeit zuallererst manifestiert.
Aus Sicht von Raumlaborberlin verfügt der öffentliche Raum über die Fähigkeit, Kommunikations-, Konflikt- und Kontaktraum zugleich zu sein. Er ist stets mit dem Austausch verschiedener Ideen oder Meinungen verbunden, die ihn beleben und Spannungen erzeugen. Mit verschiedenen Interventionen versucht Raumlaborberlin dieser Heterogenität nachzugehen und sie zu revitalisieren. Orte des gemeinsamen Erlebens entstehen nicht an Schreibtischen, sondern in den Vorstellungen der Menschen. Orte, die zunächst nur flüchtig wahrgenommen werden, werden schließlich bewusst an- und eingenommen und auf diese Weise Teil des kollektiven Erlebens. Raumlaborberlin erweitert den Blick auf das Vorhandene also durch gezielte Eingriffe und verändert durch Aktionen, die auf Partizipation abzielen, die Wahrnehmung des Ortes in den Köpfen der Menschen, wobei sich die Interventionen oft antithetisch zum heutigen Verständnis von Urbanität und der daraus resultierenden populistischen Standardarchitektur verhalten. Nostalgische Rückgriffe auf gründerzeitliche Ideale, wie sie beispielsweise in der Diskussion um den Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses auftauchen, können nicht für eine Stadt der Zukunft gelten. Um auf aktuelle Entwicklungen reagieren und künftige Strukturen denken zu können, konfrontieren die Künstler und Architekten sich selbst und andere mit den realen Gegebenheiten. So entsteht ein dehnbarer Begriff des Urbanen, dessen Raum weit über die reine Zweckmäßigkeit hinausreicht und traditionelle Auffassungen und Festlegungen zu Architektur, Stadt und Raum spielerisch untergräbt.
Auf vielfältige und immer wieder verblüffende Weise arbeitet Raumlaborberlin daran, den Raum zu transformieren und die Qualitäten einer Stadt wiederzuentdecken. Leben und Erleben, Zusammensein und Auseinandersetzung sind dabei Kategorien, an denen sich ermessen lässt, wo und wie Zukunft entsteht. Das Urbane steht dabei immer für Begegnung. Um solchen Orten nachzuspüren, entwickelte Raumlaborberlin (zusammen mit Plastique Fantastique) das „Küchenmonument" (2006) und den „Space Buster" (2009) als mobile Einsatzfahrzeuge auf der Suche nach dem öffentlichem Raum. Bei dem Space Buster handelt es sich um einen modifizierten Kleintransporter, dessen Inneres, mit Sitzbänken und einer Garderobe ausgestattet, zu einem Aufenthaltsraum avanciert. Hat er einen Ort gefunden, etwa eine Brache unter einem Highway, wird er dort geparkt und die Suche beginnt, indem sich eine pneumatische Raumhülle zu entfalten beginnt, die ganz unterschiedlichen Zwecken dient. In Kooperation mit Nachbarn und nachbarschaftlichen Initiativen finden Filmabende, Workshops oder gemeinsame Essen statt. So entsteht spontan eine Gemeinschaft, die von den Ideen eines Kollektivs verzaubert ist, das Potenzial des jeweiligen Ortes entfaltet und dessen Möglichkeiten bewusst werden lässt. Der Space Buster wirft ein Schlaglicht auf einen vergessenen Ort und motiviert seine Bewohner, selbst initiativ zu werden. So wird das Projekt zu einem Katalysator dafür, wie Stadt bewusst erlebt werden kann, was Stadt eigentlich ist. Die Idee des Urbanen, so Raumlaborberlin, ist nicht einfach da, sie muss beständig ins Gedächtnis gerufen und aktiviert werden.
Bye Bye Utopia
bis 3. Oktober 2010
Kunsthaus Bregenz
www.kunsthaus-bregenz.at
Make it take it!
bis 11. September 2010
aut. architektur und tirol, Innsbruck
www.aut.cc