Wer sich aus den Tiefen der Landschaft „Tvindeross bei Voss" von Johan Christian Dahl lösen kann und in dem wunderbaren Chipperfield-Bau, dem Museum Folkwang in Essen, voranschreitet, wird unmittelbar aus dem 19. in das 21. Jahrhundert katapultiert: „Hacking the City", so der Titel des experimentellen Ausstellungsprojektes präsentiert Interventionen in urbanen und kommunikativen Räumen. Noch bis zum 26. September setzen sich Bildende Künstler, Webdesigner, Straßenkünstler und Musiker mit Formen öffentlichen Handelns und Praktiken des Widerstandes auseinander. Die Bandbreite der Darstellungsformen reicht von Fotos über Videos bis zu Gegenstandsbetrachtungen und Veranstaltungen, die zum Diskurs und manches Mal auch zum „Mit-Hacken" anregen wollen. Orte des künstlerisch-kritischen Widerstands sind das Ruhrgebiet und der Stadtraum Essen.
So verweist der Londoner Aktivist Richard Reynolds mit seinem „Seed Bombing Walk" durch Essen Rüttenscheid auf die Tradition des Guerilla Gardenings, die im England des 17. Jahrhunderts ihren Ursprung hat: Verarmte Bürger folgten dem Aufruf des Stoffhändlers Gerrard Winstanley, auf brachliegende Flächen Gemüse und Obst zu pflanzen, umso ihren Hunger stillen zu können. Dahingegen nutzt Reynolds heute Guerilla Gardening im Kampf gegen Müll, Werbung und Flächenversiegelung in den Großstädten - in Happenings werden brach liegende Naturflecken meist mit Blumen bepflanzt. In der Essener Ausstellung können die Museumsbesucher einen Bollerwagen mit den Utensilien für einen Guerilla-Gardening-Ausflug besichtigen.
Dass Protest Geschichte hat, zeigt die Zürcher Mediengruppe Bitnik. Dem Foto einer Aktion von 2009, auf dem vor der Schweizer USB-Bank das Schild „Lügt" in die Höhe gehalten wird, steht das Schwarz-Weiß-Bild „Lügt" vor einer Polizeistation von Peter Weibel aus dem Jahr 1971 gegenüber. Eine Wiederholung, die den Perspektivenwechsel der als beherrschende Klasse Wahrgenommenen ohne Worte beschreibt. Noch weiter geht die Intervention der Künstler mit dem Projekt „Chess for CCTV Operators": Bei einem Streifzug durch Essen wurden Überwachungskameras aufgespürt und jeweils ein Schachbrett vor die Linsen gehalten. Statt des Überwachungsbildes sahen die Wachdienste ein Schachbrett. Die Künstler wollten damit die Wachleute zu einem Spiel auffordern. Bitnik verstehen ihre Arbeit als künstlerischen Eingriff in ein bestehendes System, um es einem anderen Zweck zuzuführen - Reproduktion und Manipulation der medialen Systeme und Live-Medien inbegriffen.
M+M, Marc Weis und Martin De Mattia, stellen im Dokumentationsraum des Museum Folkwang ihre Arbeit „Autobahnschleife" von 1996 aus. Ein detaillierter Ingenieursplan sowie ein bearbeitetes Foto zeigen die Autobahn A27 bei Vittorio Veneto in Italien, auf der Autofahrer während des Kurvens in einer 360-Grad-Schleife die Landschaft genießen können. In Essen selbst waren M+M bereits im Juli mit „Call Sciopero" vertreten, einer Autofahrt durch die Ruhrmetropole mit einem Aufruf zum Streik. Die Aktion erinnerte an eine Sequenz aus dem Film „Die rote Wüste" von 1964, in dem ein grauer Fiat 500 zu sehen ist - die Fahrt von M+M wird als Fortsetzung impliziert.
Bei Boran Burchhardt steht die medizinische Versorgung von Menschen ohne Ausweispapiere im Mittelpunkt seines Projektes „3D § 87". Auf der Rückseite von Halteverbotsschildern wurden Aufkleber in fünfzig unterschiedlichen Sprachen mit der Frage „Krank und ohne Papiere?" angebracht. Auf dem Aufkleber befand sich außerdem der Link zur Anlaufstelle für Menschen ohne Zugang zum Gesundheitswesen. Dabei steht die Anonymität des Einzelnen im öffentlichen Raum in Verbindung mit der Auflösung eben dieser Anonymität, ausgelöst beispielsweise durch Krankheit. Dazu Burchhardt: „So wie die gesunden Daten im Krankheitsfall zu Krankendaten werden, wird die Weite des anonymen öffentlichen Raumes mit fortschreitender Krankheit für manche enger. Dafür habe ich einen Ort im öffentlichen Raum gesucht, an dem sich öffentlicher Raum und nicht öffentlicher Raum kreuzen. Einen öffentlichen Ort, der jene betrifft, die den öffentlichen Raum offen queren und gleichzeitig an jene gerichtet ist, die diesen Raum nicht ganz so selbstverständlich offen in Anspruch nehmen können."
Georg Winters „UCS Augentrost Ambulanz", zu sehen vom sechzehnten bis achtzehnten Juli im Museum Folkwang, bot an visueller Reizüberflutung leidenden Besuchern eine Augenspülung zur Beruhigung von Augen und Nerven an - diese Aktion hat mittlerweile als Video Eingang in die Base Station gefunden, genauso wie die „Graffiti Restaurierung" oder das „Aufwärmtraining für den Fäkaltanz", eine Anleitung für die Beseitigung von Hundekot unter den Schuhen.
Noch während der Vorbereitungen zu „Hacking the City" verstarb im Mai die Künstlerin Annette Wehrmann, deren Dokumentation von „Gegn Demo" aus dem Jahr 2005 im Projektraum zu sehen ist. Ein Auszug aus ihrem Entwurf für einen Vortrag fasst die Kerngedanken zusammen: „Voraussetzung für den Ort des Gegen ist ein Stillstand oder Versagen koordinierter Abläufe, der städtischen Funktionen: der Ort des Gegen ist unter anderem eben der Ort, an dem der Müll liegen bleibt. Der Ort des Gegen ist die Rückseite der Utopie, die dritte Dimension. Er kann an allen nicht oder eher provisorisch definierten Plätzen zutage treten, an allen Ecken und Enden der Stadt."
„Hacking the City" - als Teil der Ausstellung „Mapping the Region" der RuhrKunstMuseen und Programm der Kulturhauptstadt Europas RUHR.2010 - bringt zwei, in den neunziger Jahren noch getrennte Aktionen zusammen. „Hacking", verbunden mit dem Bild der Computerfreaks, denen zur Legitimierung oft das Sichtbarmachen mangelnder Sicherheit dient, wird in den öffentlichen Raum getragen. Das störende, das verstörende Moment im öffentlichen Leben soll visualisiert werden. In der Dokumentation solcher Experimente, versammelt im Projektraum, der Base Station im Museum Folkwang, liegt wohl die Schwierigkeit. Nicht erst seit Allan Kaprow wirkt die Sprengkraft solcher Ideen selten durch ein Medium und über den Moment hinaus - was keinesfalls ihren Ansatz in Frage stellt. Denn der wird bei „Hacking the City" von der Kuratorin Sabine Maria Schmidt durchaus breit angelegt und transportiert die bereits bekannten Handlungsformen wie beispielsweise Adbusting, Flash-Mobs, Cultural Jamming oder Guerilla-Aktionen ins Hier und Jetzt. Ein mutiger, durchaus weiter zu führender Ansatz des Museum Folkwang, die diese Ausstellung- und Veranstaltungslinie hoffentlich noch intensivieren.
Hacking the City
Vom 17. Juli bis 26. September 2010
Museum Folkwang, Essen