top
Prof. Hubert Klumpner

Flexibler planen

Hubert Klumpner ist Professor für Architektur und Städtebau am Departement Architektur der ETH Zürich und Gründungspartner von Urbanthinktank_next. Worauf es bei der Planung von urbanen Räumen heute ankommt, woran es hakt und was wir von den Städten im globalen Süden lernen können, sagt er uns im Interview.
23.03.2022

Anna Moldenhauer: Herr Prof. Klumpner, Sie erforschen die Definition des informellen Urbanismus und seine Auswirkungen auf die Stadt. Ist die Architektur für die Stadt zu sehr formgetrieben sowie zu wenig zweck- und sozial orientiert?

Prof. Hubert Klumpner: Sie machen eine interessante Unterscheidung zwischen der Architektur und dem Urbanen, der ich zustimme. Denn die Stadt ist meiner Meinung nach nur eine Form der Urbanisierung. Daher interessiert mich auch der Prozess des Informellen. Die Varianten, die in der Betrachtung meist ausgelassen werden, beleuchten wir mit unserer Arbeit, sowohl in der Lehre an der ETH Zürich als auch im Rahmen des Urbanthinktank_next. Wir setzen uns stark mit der Implementierung auseinander. Es gibt seit ungefähr zehn Jahren eine Konzentration auf das Thema Stadt, die aber missverständlich kommuniziert wird. Sie kennen sicher den Standardsatz, das mehr als 50 Prozent der Menschen in Städten leben. Das ist falsch. Die Menschen leben nicht in Städten, sondern in einem urbanisierten Kontext. Wenn man von der Abstraktion dieser Aussagen in die Realität übergeht, kommt man sehr schnell auf einen Widerspruch. Die Urbanisierung ist ein Prozess und mich interessiert die Architektur, die daraus entsteht.

Für den Urbanthinktank haben Sie eine Brücke zwischen Wissenschaft und Praxis geschlagen. Das Ziel sind sozial und ökologisch nachhaltige Projekte, für die operative städtische Werkzeuge zusammengetragen wurden. Brauchen wir demnach eine praxisbezogenere Ausbildung als bisher?

Prof. Hubert Klumpner: Das fragen wir uns ständig innerhalb der Akademie. Die Universitäten sind intrinsisch spezialisiert und nicht interdisziplinär, die Fakultäten arbeiten in der Regel nicht zusammen. Das finde ich problematisch.

Sollten wir also die Norm hinterfragen, die bisher vorgetragen wird?

Prof. Hubert Klumpner: Ein Beispiel: 2010 waren unsere Arbeiten Teil der Ausstellung "Small Scale, Big Change" im Museum of Modern Art (MoMA), die von Andres Lepik kuratiert wurde. Er hat es tatsächlich geschafft zu vermitteln, dass der Social Turn eine Bewegung ist, die in der Architektur eine sprichwörtliche Kehrtwende generiert. Im Kontext der Stadt sind viele Menschen großen Risiken ausgesetzt – das Modell ist kostenintensiv und sozial unfair. Trotzdem halten wir an der Sichtweise fest, dass es keine andere Lösung gäbe. Das würde ich als Stadtplaner in Abrede stellen. Ich glaube es gibt viele andere Möglichkeiten. Urbanisierung wird auch weiterhin unser großes Projekt bleiben. Sie findet aber nicht nur in der Stadt Niederschlag, da sprechen wir meist zu abstrakt über die Dinge. Ein Argument für die Stadt ist ja, dass Innovation nur in Städten stattfindet. Die Schweiz beispielsweise ist urbanisiert aber nicht verstädtert – es leben nur etwa 26 Prozent der Menschen in Städten. Dennoch würde niemand behaupten, dass die Schweiz eine rückständige Gegend ist. Wir müssen uns ein wenig mehr mit der Vielfalt der Realität auseinandersetzen. Urbanthinktank_next ist unser Designstudio, wo ich mit meinem Team seit vielen Jahren an dieser Frage arbeite. Es geht uns dabei sehr stark um eine Implementation der Ideen. Aktuell haben wir von der UNO den Auftrag bekommen einen Band zum Thema Sustainable Development Goal 11, sustainable cities and neigborhood) herauszugeben, der sehr stark auf Design konzentriert ist. Wir glauben, dass die Nachhaltigkeit im Design eigentlich eine Imaginationsfrage ist, die wir viel besser lösen können, wenn wir klarer sortieren, was da eigentlich passiert. Wir sollten unsere Methoden neu entwerfen. Auch unsere Werkzeuge müssen wir ständig neu erfinden, damit sie in diesem Prozess eine Rolle spielen.

Der Urbanthinktank wurde in Venezuela gegründet. Welche Ansätze im Urban Design würden Sie gerne von der Arbeit dort auf unser globales Architekturverständnis übertragen?

Prof. Hubert Klumpner: Ich denke, dass wir in Westeuropa, Nordamerika und Asien nicht mehr ignorieren können, was außerhalb unseres tradierten Horizonts passiert. Unsere Modelle, unsere Methoden und Werkzeuge funktionieren nicht. Unser erstes gebautes Projekt in Venezuela war beispielsweise eine öffentliche Toilette in einem Slum in Caracas auf einem Berg in La Vega. Wir nannten die Vorgehensweise "Learning from La Vega". Wir haben das Projekt dazu verwendet, um darzustellen, dass Wasserkreisläufe, und überhaupt alles was zirkulär ist, an einem kleinen Objekt festgemacht werden kann, das wir anschließend hochskalieren. In unserer westlichen Kultur gibt es etwa die Forschung von EOOS zu "save!" kaum ein Designbüro, das an einem nachhaltigen Sanitärsystem arbeitet – obwohl wir wissen, dass die bisherige Lösung nicht global zukunftsfähig sein kann. Forschungen wie diese finden am Rand statt, thematisieren dabei aber zentrale Fragen. Die Entwicklungen in den informellen Siedlungen der neu wachsenden Weltregionen haben auch für den globalen Norden einen großen Stellenwert. Unsere Urbanisierungsprozesse werden zukünftig noch viel stärker von dem bestimmt, was in den anderen Weltregionen passiert – auch durch die Migrationsbewegungen. Wir nennen das die Formalisierung des Informellen und die Informalisierung des Formellen. Da steht das Informelle eigentlich für Strukturen, die wir noch nicht registriert haben. Das heißt man muss sie entdecken, beschreiben und in sein Vokabular und Repertoire aufnehmen. Die zentralen Orte unterliegen einem starken Wandel und das ist unsere Designmöglichkeit. Die Annahme der Nachkriegszeit, dass wir mit der Moderne die Welt erobern werden, ist nicht mehr zutreffend . Die Moderne sieht in der Zwischenzeit ziemlich alt aus. Sie wurde mit informellen Märkten besetzt, einverleibt, kreolisiert. Um sich den Herausforderungen der realen Welt zu stellen, gehört für mich die Implementation dazu, der Test in der Realität. Ansonsten bleibt die Forschung theoretisch und zu abgehoben. Das zeigt sich mitunter in Projekten wie Torre David, wo wir prüfen, ob ein Gebäude wirklich eine Klimaanlage oder einen Lift braucht. Unsere Aufgabe ist es somit auch Prototyen für neue Funktionen zu entwickeln.

Sprich wir denken zu wenig ganzheitlich, zu wenig praktisch orientiert. Eventuell auch weil wir im Westen an scheinbar unendliche Ressourcen gewöhnt sind und unsere Lebensrealität bisher kaum anpassen mussten?

Prof. Hubert Klumpner: Es liegt mir viel daran zu vermitteln, dass die Städte und die Urbanisierungsformen, die wir uns anschauen, nicht von Askese geprägt sind. Wenn man viel hat, dann scheint die Solidarität in der Reduktion zu liegen. Das ist ein großes Missverständnis und auch die Befürchtung, die dazu führt, dass kaum jemand in diese Forschungen einsteigt. Wir haben 2021 im Museum Angewandte Kunst Wien im Rahmen der "Vienna Biennale for Change" unter der Leitung von Christoph Thun-Hohenstein eine Ausstellung zum Thema Architektur und Städtebau realisiert. In dem Kontext haben wir recherchiert, was das Thema des Klimawandels eigentlich bedeutet. In Europa redet man mit einem gewissen Schuldbewusstsein vom Klimawandel, Askese ist hier aber nicht das Mittel der Wahl, sondern Zirkularität. Unser Ziel sind Städte, die auf Fußgängerprinzipien beruhen, die möglichst wenig Energie verbrauchen und kaum Müll produzieren. Das Modell existiert bereits in den Favelas dieser Welt: extreme Dichte, Fußläufigkeit, wenig Energieverbrauch. Die Abfallproduktion ist sehr gering, weil alles wiederverwendet wird. Das ist ein Aspekt, der in der Architektur gerade erst entdeckt wird. Die Gründe, warum trotzdem niemand dort leben möchte, sind die sozialen Faktoren Sicherheit und Schutz. Da könnte ma die These aufstellen, wie man dieses urbane Modell verbessern kann. Wir arbeiten neben Süd- und Lateinamerika auch in Südafrika und im Balkan. In Südafrika gibt es ein berühmtes Buch zum Städtebau der Apartheit, das unserem westlichen Normenbuch "Neufert Bauentwurfslehre" ähnelt. Ich würde behaupten, dass die meisten Städte die heute entstehen, auf Basis von Normenbüchern gebaut werden. Das heißt das spezielle ökonomische und soziale Strukturen gebaut werden, die aber im Grundsatz nicht städtisch sind. Wenn wir wirklich Städte bauen würden, in denen viele Menschen leben könnten, dann müssten wir mehr urbanen Raum einplanen. In Europa haben wir den Eindruck, dass dieser überall existiert, aber im Grunde ist er simuliert. Selbst eine Bahnhofshalle ist nicht öffentlich, denn auch diese wird kontrolliert. Wir haben deshalb in unseren experimentellen Projekten Plätze aus der Privatheit herausgelöst und erfolgreich wieder der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. Auch das derzeitige "Smart City Movement", die Bewegung hin zu einer technologiebasierten Stadt, halte ich nicht für zielführend. Technologie ist ein gutes Werkzeug, aber es kann nicht das Prinzip sein. Wir müssen vermehrt auf die Prinzipien des öffentlichen Raumes zurückgreifen und dazu gehört auch das Städte Orte des Konflikts sind. Das Konzept der Smart City gaukelt uns vor in Sicherheit leben zu können – das wird aber nicht funktionieren. Konflikte in Städten kann man nicht regulieren oder ausblenden.

Ich wollte mit Ihnen kurz auf die Diskussion zur zukünftigen Gestaltung der Innenstadt eingehen. Es gibt Stimmen, die sagen, dass wir über Jahrzehnte hinweg die falsche Innenstadt gebaut haben. Was wäre für Sie aktuell die ideale Vorgehensweise?

Prof. Hubert Klumpner: Meine Idee ist das Kontemporäre, sprich ein "falsch" gibt es in dem Sinne nicht. Es mangelt uns oft an der Vorstellungskraft, was wir aus der gegebenen Situation machen können. Auch da ist meine Erfahrung, dass die Städte des globalen Südens bereits viele Lösungen bereithalten. In Sao Paulo zum Beispiel ist der Platzmangel so groß, dass eine Stadtautobahn zeitweise für den Fußgänger- und Fahrradverkehr freigegeben wird. Formal bleibt sie eine Autobahn, wird aber durch die neue Nutzung zu einer Art Highline. Unter der Autobahn gibt es zudem eine ganze Reihe an kleinen Grundstücken, die von Box Clubs gemietet werden. Wenn die Autobahn für die Fahrzeuge gesperrt ist, nutzen diese Clubs dann die Fläche für das Training. Wir müssen einfach viel flexibler über unsere Möglichkeiten nachdenken und da werden uns auch die scheinbaren Fehler der Vergangenheit in der Infrastruktur nicht mehr stören. Die Plätze, Tunnel und Strukturen, die wir in der Vergangenheit gebaut haben, lassen sich sehr gut umformen. Die Aufgabe ist zu schauen was man verändern muss, damit sie für eine flexible Nutzung in Frage kommen. Ohne die Lösung sozialer Fragen werden wir auch die Klimafrage nie lösen können. In der Architektur und im Städtebau finden aktuell zu schnelle Trendwechsel statt. Ich glaube es wäre gut, wenn wir stärker antizipieren und die Ideen nicht zu eilig aus dem Regal werfen. Vorausgesetzt, dass wir wissen, warum diese überhaupt da sind. Ich merke das auch an meiner eigenen Arbeit: Wir haben uns damals weniger Gedanken um das Material gemacht. Es ging viel mehr um soziale Möglichkeiten. Dennoch würde ich sagen, man kann das eine nicht aufgeben und es mit dem anderen ersetzen. Das betrifft auch die Diskussion um die Innenstädte, da sollte man die Frage stellen ob eine Umnutzung nicht sinnvoller wäre als alles abzureißen. Ich glaube nicht, dass der "Ecological Turn" stattfindet, wenn wir uns auf begrünte Fassaden und Photovoltaik-Paneele beschränken. Für eine nachhaltige Veränderung bedarf es ein Umdenken an vielen Stellen.

Projekt Caracas MetroCable: eine Zusammenarbeit von Urbanthinktank mit dem Seilbahnhersteller Doppelmayr, den Klimaingenieuren von Transolar sowie dem Zivil- und Bauingenieurbüro Silman & Associates

Wo wir gerade beim Thema Trend sind, würde ich gerne in das Thema Mobilität abbiegen. Der Nutzen von Seilbahnen abseits von touristischen Attraktionen wird in unseren Breitengraden derzeit vermehrt diskutiert. Würden Sie sagen, dass diese Mobilitätsform in unsere jetzige Mobilitätsstruktur integriert werden kann?

Prof. Hubert Klumpner: Es wird sie wahrscheinlich nicht überraschen, dass wir durch die Veränderungen der Energieträger das Problem des Verkehrs aus den Städten nicht verbannen werden. Das würde vielleicht die Luftqualität verbessern, aber die große Herausforderung, wie wir unsere vorhandenen Flächen verteilen, wird damit nicht gelöst. Wenn wir unsere Städte verändern wollen, brauchen wir Technologien, die nicht auf einem Mobilitätsträger beruhen. Diesen Ansatz haben wir schon vor gut zehn Jahren im Rahmen der Audi Urban Future Initiative gemeinsam mit Stylepark erforscht. Man muss viel mehr darüber nachdenken, wie man die einzelnen Mobilitätsträger verbindet und wie man sich als Person in einer Stadt bewegt. Das zu analysieren, lässt erkennen, wo das Angebot einer Seilbahn Sinn macht. In Zürich, wo ich mich auch gerade befinde, gibt es die gut hundert Jahre alte Dolderbahn, die jeden Tag von vielen Menschen als Transportmittel verwendet wird. Wir müssen uns grundsätzlich aber von der Annahme verabschieden, jede Form der Mobilität in jedes System integrieren zu können. Für erfolgreiche Mobilitätskonzepte muss das jeweilige Klima, die Topografie, das Verhalten der Menschen und die Ökologie verstanden werden. Das bedingt auch, das wir die Deutungshoheit aus den Gruppen holen, die mit ihren Lobbys diese vorzeichnen und stattdessen einen ergebnisoffenen Diskurs führen. Das beschreibt im Grunde die Vorgehensweise des Method Design, bei dem verschiedene Stakeholder miteinbezogen werden, um zu ermitteln was wirklich Sinn macht.

Die urbane Nachhaltigkeit war für Sie schon sehr früh ein Thema – wie bei der Gründung des Sustainable Living Urban Model Laboratory. Gibt es Ansätze, die Ihrer Meinung im Diskurs zu wenig Beachtung finden?

Prof. Hubert Klumpner: Was ich unterstreichen möchte ist die Solidarität, die Bedeutung des Sozialen. Viele von den Angeboten, die wir besprochen haben, werden nicht funktionieren, wenn wir sie nur den wenigen Leuten zur Verfügung stellen, die sich diese leisten können. Die Realität an vielen Orten der Welt ist, dass sie keine dieser beschworenen urbanen Qualitäten bieten, weder mitten in der Stadt noch in einer peripheren Lage. Wir brauchen den ganzheitlichen Blick in andere Weltgegenden zum Thema Digitalisierung, Nachhaltigkeit und soziale Ausgeglichenheit. Wir brauchen ein stärkeres Systemdenken, denn diese Herausforderungen lassen sich nur im Verbund lösen. Wir sind aktuell in einer Zeitwende, und da sehe auch bei jungen Leuten ein großes Engagement die Veränderung der Stadt mitzugestalten. Eine nachhaltige Auseinandersetzung bedingt die Projekte nicht auf ein Territorium zu isolieren.

Woran arbeiten Sie gerade?

Prof. Hubert Klumpner: Wir arbeiten unter anderem am Generalplan für die Stadt Sarajevo. Der bisherige stammt aus den 1980er-Jahren. Die Welt bewegt sich aber nicht in den Bahnen, die man sich vor Jahrzehnten überlegt hat. In diesem speziellen Fall kam auch noch die massive Zerstörung durch einen Krieg hinzu. Sarajevo war einmal die Stadt großer Innovationen, sie hatten die erste elektrische Straßenbahn, die auf einem Fahrplan basiert. Man hat dort Häuserblocks gebaut, nach deren Vorbild Häuserblocks in Berlin und Wien gebaut wurden. Für die Stadtplanung haben wir eine Laborsituation vor Ort geschaffen und einen digitalen Zwilling der Stadt erstellt, der uns die Möglichkeit gibt, unterschiedliche Szenarien zu testen. Dazu haben wir ein Studiofahrzeug entwickelt, womit sich die atmosphärische Luftverschmutzung messen lässt, denn Sarajevo gehört aktuell zu den zehn kontanimiertesten Städten der Welt. Es braucht mehr Mut, um ergebnisoffener zu arbeiten und zu justieren wo es notwendig ist, statt vorher schon die Leitplanken zu setzen. Die Möglichkeiten hierfür haben wir heute – und auch die Bereitschaft für einen flexibleren Prozess ist meiner Ansicht da. Wir müssen nur noch loslegen.

Colombia Urban Transformation Programme
Torre David