Aus Devon in die Welt
"Für die Strenge, Integrität und Relevanz eines Werks, das über die Architektur hinaus für sein soziales und ökologisches Engagement spricht, wird David Chipperfield zum Pritzker-Preisträger 2023 ernannt." Das verkündete die Jury des wichtigsten Architekturpreises der westlichen Welt um ihren Vorsitzenden Alejandro Aravena am 7. März 2023 in Chicago.
David Alan Chipperfield, 1953 in London geboren, wächst auf einem Bauernhof in der englischen Grafschaft Devon auf. Erste Kontakte mit der Architekturproduktion macht er, als der Vater einige Teile des eigenen sowie des zugekauften Nachbarhofs zu Ferienwohnungen umbaut. "Akademisch ziemlich hoffnungslos", wie er selbst einst sagen wird, dafür sehr gut in Sport und Kunst, besucht er die Kingston School of Art in London und im Anschluss die ebenfalls in der britischen Hauptstadt ansässige und einen legendären Ruf genießende Architectural Association (AA). Nach den Experimenten an der Kingston School führen ihn die Freiheiten der AA zu einer nachgerade konservativen Auffassung der architektonischen Moderne und einer formalen Beherrschtheit, die sich in fast allen späteren Arbeiten von David Chipperfield Architects wiederfinden wird. An der AA damals nicht gern gesehen, wird diese Haltung ausgerechnet von Zaha Hadid goutiert, deren gute Worte dabei helfen, dass Chipperfield nicht durch eine wichtige Prüfung fällt, und sein Studium 1977 abschließt. In der Folge arbeitet er unter anderem bei Douglas Stephen, Richard Rogers und Norman Foster, die beiden letztgenannten selbst Träger des Pritzker-Preises.
England, Japan und Deutschland
1985 gründet David Chipperfield sein eigenes Büro und entwirft unter anderem das Interieur für das Ladenlokal des japanischen Modedesigners Issey Miyake auf der Londoner Sloane Street. Der Kontakt zu Miyake öffnet die Tür nach Japan, wo Chipperfield weitere Innenraumgestaltungen für den Einzelhandel übernimmt, vor allem aber das Gotoh Museum (1988–1991) in Chiba nördlich von Tokyo und ein Bürogebäude für Toyota (1989–1990) in Kyoto realisieren kann. Beide sind deutlich vom damaligen Sichtbeton-Chic japanischer Architektur beeinflusst, zeigen aber bereits die bis heute vorherrschende Vorliebe für klare Volumen, hochaufgehende, schlanke Wandscheiben und von filigranen Pfeilern oder Säulen getragene Dachscheiben. "Mit den Ladeneinrichtungen, den Projekten in Japan und einigen Wettbewerbsbeiträgen konnte man mit Taschenspielertricks den Eindruck erwecken, ich hätte ein echtes Büro“, bekannte Chipperfield jüngst im Gespräch mit dem englischen Guardian.
Auf diese Weise aber gelingt zu Beginn der Karriere der Sprung auch nach Deutschland. Hier entstehen im Laufe der Jahre einige der eindrücklichsten Projekte, die der Architekt fortan mit einem stetig wachsenden Team angeht. Diese Teams und die BüropartnerInnen sollten nicht nur für das Gelingen der Projekte wichtig werden, sondern auch für die Auffassung des gebürtigen Engländers. Ebenfalls im Guardian sagte David Chipperfield: "In meiner Generation ging es immer um das Produkt, aber jetzt glaube ich mehr als alles andere, dass wir uns auf den Prozess konzentrieren müssen.“ Von 1993 an saniert das Büro das von August Stüler entworfene Neue Museum auf der Berliner Museumsinsel – ein Projekt, das sich über einen Zeitraum von 16 Jahren erstrecken sollte. Auch bei der Instandsetzung von Ludwig Mies van der Rohes Neuer Nationalgalerie (2012–2021) in Berlin scheint der Prozess wichtiger als die eigene architektonische Handschrift.
Shops, Museen und Wohnhäuser
Wie diese Handschrift aber aussieht, ist inzwischen auf und an der Berliner Museumsinsel zu sehen. Mit der Galerie am Kupfergraben (2003–2007) zeigt das Team um Chipperfield beispielhaft, wie zeitgenössische Architektur die Einflüsse des Ortes und seiner Bebauung aufnehmen und zu einem angemessen baulichen Amalgam verschmelzen kann. Traufhöhen und Gesimse der historischen Nachbargebäude werden als weiße Betonsteinbänder weitergeführt und kulminieren in einer kubistischen Eckbebaung, deren helles Mauerwerk durch dunkles Holz für Fenster und Türen fein gekontert wird. Mit der unmittelbar Vis-a-vis dieses Hauses gelegenen James-Simon-Galerie (1999–2018) vollendet das Büro eine Art eigenes Arkadien mit einer städtebaulich ebenso selbstverständlichen wie selbstbewussten Setzung, die die Ausstellungsorte der Museumsinsel in sinnfälliger Art und Weise verbindet, um ein Eingangsbauwerk ergänzt und das Gesamtensemble in Richtung Lustgarten vollendet.
Überhaupt die Museen: Im Laufe der Jahre entstehen weltweit beeindruckend schöne und gut bespielbare Ausstellungshäuser. Das River and Rowing Museum in Henley-on-Thames (1989–1997), das Museum für Moderne Literatur des Literaturarchivs in Marbach am Neckar (2001–2006), das MUDEC in Mailand (2000–2015), das Hepworth Wakefield in West Yorkshire (2003–2011), das Saint Louis Art Museum in Missouri (2005–2013), das herrliche Turner Contemporary an der Küste von Kent (2006–2011), das Museo Jumex in Mexico Stadt (2009–2013) oder West Bund Museum in Shanghai (2013–2019) – um nur einige zu nennen.
Immer wieder zeigen David Chipperfield und seine Mitstreiter:innen ihre besondere Fähigkeit, sensibel mit der gebauten Umwelt umgehen zu können, nicht gegen bestehendes, sondern mit dem baulichen Erbe zu arbeiten. Bereits der Friedhof San Michele (1998–2017) in Venedig zeugt davon, zuletzt wurde diese Könnerschaft, ebenfalls in der Lagunenstadt, mit der Sanierung der Procuratie Vecchie (2017–2022) deutlich, die sich über die gesamte Nordseite des Markusplatzes erstreckt. Zwischen diesen Projekten entstehen mit den Jacoby Studios in Paderborn (2014–2020) oder den Um- und Anbauten im Rahmen des Masterplans für die Royal Academy of Arts in London (2008–2018) weitere Beispiele für die Kunst der eigenen Zurückhaltung.
Ehrungen und ein Leben in Galizien
Dass mit Blick auf das Gesamtwerk nicht immer alles Gold ist, was glänzt, zeigen die Debatten um den recht uninspirierten Entwurf für das Kunsthaus Zürich (2008–2020) oder den seit 2017 projektierten Elbtower in Hamburg. Auch private Wohnhäuser entwirft David Chipperfield weitaus souveräner. In Berlin rekurriert ein generöses Wohnhaus (1994–1996) deutlich auf die Mies´sche Backstein-Moderne, das Fayland House in Buckinghamshire (2009–2013) öffnet sich nach einer Folge von Höfen hinter einer Reihe von massiven Säulen in die sanft hügelige Landschaft, in Kensington werden diese Säulen merklich schlanker als räumliche Schwelle zu einer luxuriösen Stadtvilla (2008–2012) variiert. Den eigenen Rückzugsort fügt der Architekt wie selbstverständlich in die Altstadtbebauung des galizischen Fischerdorfs Corrubedo (1996–2002) ein. Hierhin zieht er sich immer wieder zurück, widmet dem Dorf und der Region eine gehörige Portion Arbeit. Inzwischen betreibt David Chipperfield hier eine Bar, hat 2017 die öffentliche Stiftung Fundación RIA gegründet, mit der er von der galizischen Regierung mit der Überwachung des regionalen Entwicklungsplans beauftragt wurde und versucht, aus den eigenen Privilegien einen Mehrwert für Ort und Region zu schaffen. Mit dem Ergebnis, dass ihm zusätzlich zu den zahlreichen Preisen und Ehrungen – wie der Ehrenmitgliedschaft des Bundes Deutscher Architektinnen und Architekten (2007), der Royal Institute of British Architects Royal Gold Medal (2011) oder dem Praemium Imperiale (2013) – auch die Auszeichnung zum Galizier des Jahres 2019 zuteil wurde.
Die beeindruckende Breite der bearbeiteten Bauaufgaben lässt nun diese jüngste Auszeichnung für David Chipperfield gleichermaßen verdient erscheinen, wie sie deutlich macht, dass die Würdigung einer Einzelperson, in der von Prozessen und Teams geprägten Disziplin Architektur doch mehr und mehr merkwürdig anmutet. Chipperfield und mit ihm die Gesamtheit des Büros aber sind ob der Güte, mit der die Bauten in aller Regel entworfen und bis ins kleinste Detail akkurat entwickelt werden, würdige Pritzker-Preisträger.