Der Klang der Dinge
Gibt es eine Magie des Ortes? Die Elbphilharmonie ist in Hamburg ein Gebäude ohne Vorbild. Sie steht für die Neuerfindung eines Stücks Stadt ebenso wie für den Weiterbau auf Basis des Vorgefunden. Das ist in der „Freien und Abrissstadt Hamburg“, wie Alfred Lichtwark sie nannte, eine Errungenschaft. Für den Welthandel und die Zollfreiheit im Hafen musste einst ein ganzer Stadtteil mit 24.000 Bewohnern weichen. Nun kommt das Wohnen auf meist exklusivem Niveau in die Hafencity zurück. Auch die Elbphilharmonie löscht Traditionen aus und führt sie zugleich fort. Sie präge einen Ort in der Stadt, schreiben die Architekten Jacques Herzog und Pierre de Meuron in ihrer Baubeschreibung, „welcher bislang den meisten zwar irgendwie bekannt war, ohne dass sie ihn aber wirklich kannten.“ Künftig werde dieser Ort „für sämtliche Hamburger und für Leute aus aller Welt zu einem neuen Zentrum des gesellschaftlichen, kulturellen und alltäglichen Lebens.“ Der Bau wird zum Superzeichen der Stadt, nicht mehr nur in Renderings, sondern zunächst als begehbarer Aussichtsort. Mitte Januar 2017 öffnen sich von der Plaza im 8. Stock auf rund 37 Meter Höhe die Wege zu den Konzertsälen. Nähert man sich dem Bau von verschiedenen Seiten, fällt auf, dass seine spektakuläre zeltartige Dachstruktur kein Zufallsgebilde ist, sondern präzise Bezüge und Blickbeziehungen herstellt zu seiner unmittelbaren Umgebung.
Am Hamburger Grasbrook mischen sich seit langem Spektakel und Geschäft. Einst Zentrum des Hafens, sind dessen ursprüngliche Aufgaben und Funktionen – Schiffbau, Umschlag und Lagerung von Waren – spätestens mit der Erfindung der Hafencity und der Verbreitung des Containers auf dem Rückzug. Der Hafen wanderte westwärts. Durch kontinuierliche Effizienzsteigerung verlor er seine Anschaulichkeit und Vielgestaltigkeit zu Gunsten normierter Transportkisten. Damit schwanden auch die Aufgaben der umgebenden Bebauung. An die Stelle von flachen Schuppen und Lagerhäusern traten Wohn- und Geschäftshäuser.
Manche Städtebauer kritisierten schon früh, dass mit der aktuellen Bebauung der historische Bezugspunkt der Kirchtürme für das Hamburger Stadtbild verloren ging, der sich hier länger hielt als in mancher anderen deutschen Großstadt. Die Elbphilharmonie markiert gleichermaßen das Festhalten am Bestehenden wie auch dessen Überformung durch Neues. Sie sitzt auf dem trapezförmigen Kaispeicher A, den Architekt Werner Kallmorgen entwarf. Er bildete, 1963 bis 1966 gebaut, eine Zwischenstation der Rationalisierung des Hafenbetriebs: So konnten die Schiffe direkt an der Seewasserseite entladen werden, bewegliche Halbportalkräne hievten die Waren auf Klappbalkone, Gabelstapler verteilten sie im Innern des Gebäudes. Als Speicher für Tee, Kakao und Kaffee war der Bau aber schon kurz nach seiner Fertigstellung nicht mehr zeitgemäß. Als weithin sichtbares Zeichen am Hafenrand stand er in der Tradition des kriegszerstörten Vorläufer-Baus von 1875, der mittels eines auf dem Dach montierten Zeitballs zwischen 1876 und 1934 für alle Schiffe im Hafen die Zeit erkennbar anzeigte und synchronisierte. Zu Beginn der 1960er Jahre war vorgesehen, den erhaltenen Turm des alten Kaispeichers in den Neubau zu einzubeziehen. Ein Plan, der wohl nicht an Architekt Kallmorgen scheiterte, der gewohnt war, alt und neu zu verbinden, sondern eher am damaligen städtebaulichen Zeitgeist, der sich mit historistischen Überbleibseln schwer tat. Kallmorgen löste sich vom Motiv des traditionellen Geschäfts- und Kontorhauses, das die Architekten der Speicherstadt in Form von Türmchen, Giebeln und Erkern nutzten, um den Hafen stadtverträglich erscheinen zu lassen. Er verpasste seinem Kaispeicher A eine kahle Backsteinhaut.
Auf diese ursprüngliche Fassadengestaltung haben Herzog & de Meuron den Bau nun wieder zurückgeführt. Das Erdgeschoss wurde um drei Meter angehoben, das Innere entkernt. Den 1.111 Gründungspfeilern wurden 634 hinzugefügt. Wer nicht Musiker oder Bühnenarbeiter ist, betritt die Elbphilharmonie von der breiten Ostseite her. Durch eine „Tube“, deren Wände mit glitzernden Pailletten bekleidet sind, führt eine Rolltreppe quer durch den alten Speicher. Erst während der knapp fünf Minuten langen Fahrt bis ins sechste Stockwerk sieht man deren Endpunkt. Schon Kallmorgen hatte hier eine Kantine für die Arbeiter des Kaispeichers vorgesehen, was die damalige Bauaufsicht aber verweigerte. Jetzt bietet sich hier ein erster Ausblick auf die Stadt nach Westen in Richtung Unterelbe und sehr viel besser kann der Blick aus den obersten Stockwerken eigentlich auch nicht sein, wo 44 Luxuswohnungen auf Käufer warten. Der Zugang zu den Wohnungen, die sich im Westen des Gebäudes auf die Etagen 11 bis 26 verteilen, sowie zu den zugehörigen Parkplätzen in den Garagen sind vom öffentlichen Betrieb komplett separiert: „Es fühlt sich so an, als gehörte die Elbphilharmonie ganz Ihnen,“ bejubeln das die Immobilienvermittler der Firma Quantum.
Bleiben wir aber lieber in den öffentlichen Bereichen des Gebäudes. Die Plaza im achten Stock wird von einer großen, parabelförmig in die Höhe geschnittenen Aussparung im oberen Gebäudeteil überdacht und damit weithin sichtbar gemacht. Hier stehen die Menschen und staunen, ihr Blick geht hier in Richtung Stadt und man sieht von hier wieder die historischen Bezugspunkte: die Kirchtürme – sowie all die Türme und Hochhäuser, die sie inzwischen überragen. Auf der gegenüberliegenden Seite der Plaza formt die Decke ein breites, flaches Kreissegment, hier geht der Blick nach Süden über die noch vorhandene Hafenindustrie und die Musicaltheater. Beide Seiten bieten einen oft windigen, aber einigermaßen regensicheren Umgang, von dem man die Stadtlandschaft Hamburgs mit allen Sinnen einsaugen kann. Vielleicht wird dies auch ein Ort für Planer und Investoren, für Bürger und Initiativen, um die Ausmaße künftiger Projekte im Maßstab 1:1 in Augenschein zu nehmen und zu diskutieren? Von der Plaza gelangt man in die Lobby des 5-Sterne-Hotels. Dessen Interieur, gestaltet von Tassilo Bost und ausgestattet mit Möbeln von Walter Knoll, fehlt noch ein wenig Patina, um wirklich großzügig und entspannt zu wirken.
Erst am 11. Januar 2017 werden sich für die Öffentlichkeit auch die Wege in den Großen und den Kleinen Saal der Elbphilharmonie öffnen. Der Große Saal, nach dem Weinberg-Prinzip mit hoch aufragenden Rängen entworfen, hat eine Oberfläche aus 10.000 individuell gefrästen Gipsfaserplatten, jede zwischen 30 und 125 Kilogramm schwer, die – nicht eben zur Freude der Architekten – „Weiße Haut“ genannt werden. Jacques Herzog empfindet den Vergleich mit dreidimensionalen Schalen von Krustentieren oder Muscheln weitaus passender. Rund 1.000 dimmbare LED-Leuchten von Zumtobel stecken unter dieser Oberfläche, deren eigens mundgeblasene Glaskörper für eine besondere Lichtverteilung sorgen. Die rund 1 Million asymmetrischen Vertiefungen in den Faserplatten formen den Klang des Saales, über den einige, die ihn schon gehört haben, begeistert sind. Nur wenn dieser Saal mit seinen 2.100 Sitzen die Erwartungen erfüllt oder sogar übertrifft, nur dann wird das Projekt Elbphilharmonie gelungen sein. Denn dieser Saal zeigt in seinen Details beispielhaft den gewaltigen Aufwand, der für dieses Projekt betrieben werden musste und der an Charles Eames denken lässt: „The details are not the details; they make the product“. Zum „Produkt“ gehören hier wie auch in den weitläufigen Foyers, die sich über mehrere Etagen ziehen und zwölf Zugänge zum Saal bieten, der akustisch optimierte Sitz von Poltrona Frau (er basiert auf einem früheren, von Herzog & de Meuron 2004 für Barcelona entworfenen Modell), die Geländer und der riesige am Saaldach über der Bühne schwebende akustische Reflektor.
Dass dieser Große Saal sehr gut klingen und alte und neue Freunde klassischer Musik mobilisieren wird, ist sehr gut vorstellbar. Ob sich aber die Elbphilharmonie so selbstverständlich als Ergebnis „lohnenswerter demokratischer Anstrengungen“ in die Hamburger Stadtgesellschaft einfügt, wie es der Erste Bürgermeister erwartet, wird wohl schon bald zu hören sein. Dann entfaltet dieser Ort seine Magie.