Adolf Loos, 1898
Design verleiht Flügel. Jedenfalls könnte man das glauben, wenn man durch die prall mit mehr oder weniger edlem Blech gefüllten Hallen der 65. Internationalen Automobil-Ausstellung in Frankfurt am Main schlendert. Noch nie gab es derart viele Studien mit Flügeltüren. Man könnte meinen, die Designer hätten sich abgesprochen oder seien alle von ein und demselben Virus infiziert worden. Der Mercedes AMG SLS hat – schon aus Tradition – tatsächlich serienmäßig welche, der Rest ist geflügelte Show. Die Schwingen der Studie Opel „Monza“ fallen dabei besonders mächtig aus, der Kia „Niro“ hat welche und der Audi „Nanuk Quattro Concept“ braucht sie offenbar so dringend wie der BMW „i8“. Was soll uns das sagen, uns automobilen Alltagsmenschen? Sicher nicht, dass wir, um auch künftig aus dem Wagen steigen zu können, unsere Garage in Höhe und Breite erweitern müssen. Eher soll mittels solch geflügelter „Concept Cars“ beschworen werden, was die Automobilindustrie so dringend braucht: Zukunft. Also sind fast alle Studien breit, flach, stark, extravagant und ebenso effektiv wie effektvoll umströmt von den Winden, die uns ins Reich des Futur tragen sollen.
So verstanden hat die Manie der nach oben schwingenden Türen also durchaus einen sachlichen Kern. Allein bei Smart – wo die Studie „Forjoy“ überraschenderweise die längst in die Jahre gekommene Ästhetik der ersten Apple-i-pods aufwärmt und gleich ganz auf Türen verzichtet – weiß man nicht so genau, ob man das allgemeine Flügelschlagen nun ironisch nehmen oder als Geschmacksverirrung abtun soll. Dort steht nämlich auch der „Forjeremy“, die bereits in Shanghai gezeigte, „streng limitierte“ Version eines „Fortwo electric drive“. Der besitzt keine Flügeltüren, doch hat der amerikanische Modedesigner Jeremy Scott die hinteren Dachenden des Zweisitzers tatsächlich mit Flügelchen aus Plastikgefieder geschmückt. Mehr Kitsch geht kaum.
Vernünftig oder emotional?
Mag ein Auto für viele auch kein Statussymbol mehr sein, so bleibt es doch ein unübersehbares Statement. Fast vor jedem Haus in Deutschland steht ein Exemplar, und selbst wenn es zeitweise in einer Garage versteckt wird, so unterhält es doch eine innige Beziehung zu seinem Besitzer. Oft funktioniert es im Seelenhaushalt seiner Besitzer wie ein Accessoire, etwa wie eine fahrende Handtasche oder wie ein rollender Abenteuerspielplatz. Wobei heute alle alles zugleich haben wollen: am besten einen familientauglichen und geländegängigen Sportwagen mit großer Ladefläche und Anhängerkupplung oder alternativ einen ebenso für Grünschnitt, Surfbrett und Rennstrecke geeigneten „Shootingbrake“. Was Fahrleistungen und Fahrwerksabstimmung angeht, macht die Technik heutzutage viele hybride Kombinationen möglich. Was die Raumökonomie angeht, bleibt solch ein Vehikel hingegen ein Unding. Wie überhaupt soll der Kunde entscheiden, welches Modell für ihn das richtige ist? Soll er nach Vernunftgründen wählen? Oder soll er den Emotionen folgen, die ihm das Marketing immer und überall verspricht?
Das Biedere und das Extravagante
Die ästhetischen Signale, die man auf der diesjährigen IAA empfängt, fallen entsprechend widersprüchlich aus. Und weil die Hersteller auf der Jagd nach Stückzahlen und Marktanteilen jede noch so kleine Nische besetzen, wird das Angebot immer unübersichtlicher. Auf der einen Seite stehen mehr oder weniger biedere, im besseren Fall sehr funktional, sprich sachlich, wenn nicht gar „ehrlich“ gestaltete Modelle, ausgestattet mit vernünftiger Technik. Weil das auf Dauer aber wenig Glamour verströmt, gibt es auf der anderen spektakuläre „Showcars“ zu sehen, mit deren Hilfe die Hersteller in gewissen Zyklen austesten, was „dem Kunden“ in Sachen Design gefallen könnte.
Design braucht das Erhabene
Dass es selbst bei solchen Studien, die den Weg so manchen Details in die Serienfertigung weisen sollen, nicht darum geht, schöne, elegante Autos, sondern zuallererst die Markenidentität zu gestalten, zeigt ein Statement von Gorden Wagener, dem Vice President Design der Daimler AG, das man auf dem Mercedes-Stand in der Festhalle unter der Überschrift „Design braucht das Erhabene“lesen kann:
„Im Mittelpunkt des Schaffens der Designer von Mercedes-Benz steht sinnliche Klarheit als Ausdruck eines modernen Luxus. Die Designphilosophie von Mercedes-Benz ist, klare Formen und Flächen zu gestalten, die Hightech inszenieren und gleichzeitig starke Emotionen wecken. Die Bipolarität aus Intelligenz und Emotion – verankert in der Mercedes-Benz Markenphilosophie – wird in der Fahrzeugentwicklung aufgenommen und unterschiedlich akzentuiert. Jedes Fahrzeug erhält somit seinen eigenen Charakter, ist dabei aber stets als Mercedes-Benz erkennbar.“
Es fällt auf: In allen fünf Sätzen kommt „Mercedes-Benz“ vor. Die Marke steht immer im Vordergrund. Auch die Kombination aus Hightech und Emotion darf nicht fehlen. Gleichwohl mag man darüber streiten, ob es in den aktuellen Mercedes-Modellen tatsächlich „sinnliche Klarheit als Ausdruck eines modernen Luxus“ steckt – oder ob sich hinter so mancher dynamischen Linie und vielen nur vorgetäuschten Lufteinlässen eher eine Art postmoderner Barock verbirgt. Etwas aufgedonnert wirken die Entwürfe Wageners manchmal schon.
Ganz oben in der Klassengesellschaft von Mercedes steht – neben der nagelneuen S-Klasse, das entsprechende Coupé. Auch wenn das langgestreckte und silberglänzende Gefährt „Mercedes Concept S-Klasse“ heißt, so handelt es sich hierbei doch nicht um ein Showcar, sondern um eine seriennahe Studie. Und diese ist – im Sinne der Designphilosophie des Hauses – durchaus gelungen. Lang und flach und mit Sicken und Kanten versehen wie ein von strömendem Wasser geschliffener Stein – so sehen Autos heute nun mal aus, selbst im Highend-Bereich. (Man schaue sich zum Vergleich einmal den naturgemäß wuchtiger auftretenden Rolls-Royce „Purple Wraith“ an, bei dem die Raumökonomie ebenso wenig eine Rolle spielt.) Was fällt bei den Studien, Showcars und Prototypen kommender Designsprachen besonders ins Auge? Klar: Der Kühlergrill. Kaum ein Exemplar, bei dem zumindest das Design der Frontpartie um den Grill und das – auch immer größer werdende – Logo herum entwickelt wurde.
Skandinavische Zurückhaltung
Etwas anders verhält es sich bei Volvo. Hier hat der neue Designchef Thomas Ingenlath lange „hinter verschlossenen Türen“ ebenfalls an einem „Grand Coupé“ gefeilt. Auch wenn er es ganz anders sagt als Gorden Wagener, auch er setzt beim Design auf den Markenkern und darauf, wie sich dieser erneuern lässt: „Jeder, der mich kennt, wird sagen: Volvo passt perfekt zu dir. Mir hat noch nie das gefallen, was allen anderen gefallen hat, ich mag kein schnelles und lautes Design. Ich bin nachdenklich und mag es, die intellektuellen Elemente unter der Oberfläche zu entdecken. Wenn man das richtig macht, kommt die Ästhetik ganz von allein. Volvo ist eine Marke mit einer außergewöhnlich starken Geschichte. Sie stellt den Menschen in den Mittelpunkt. Es ist eine besondere Herausforderung, ein neues Design zu entwickeln, das die bewährten Markenwerte aufgreift und auch die Neupositionierung hin zu einer noch markanteren Premium-Marke ermöglicht.“
Sicher, auch Ingenlaths „Concept Coupé“ tritt breit, flach, lang, stark und selbstbewusst auf; auch es zeigt hier und da Muskeln und trägt einen mächtigen Kühlergrill samt großem Firmenlogo. Gleichwohl ist es ihm gelungen, Elemente der klaren skandinavischen Designsprache in die Gegenwart zu übertragen. Etwas weniger Body-Building hätte trotzdem gut getan. Einzelne Linien spannen sich – wie im Übergang von der Heckscheibe zum Kofferraumdeckel – nicht in einem Bogen; sie knicken ab, kehren die Spannung um und bilden so dreidimensional ausgearbeitete Flächen. Doch auch bei dieser Studie, an deren Serienfertigung wohl nicht gedacht ist, darf der Hinweis aufs „Gefühl“ nicht fehlen: „Wir ergänzen die Markensprache mit ihrer ruhigen, selbstbewussten Schönheit, die ein Sinnbild skandinavischen Designs ist, um eine emotionale Komponente“. Und: Schaut man sich Zum Vergleich den alten cremeweißen P 1800, der am Volvo-Stand eine Etage höher steht, so erkennt man, was das Design seit den 1950er Jahren an schlichter Eleganz verloren hat.
Geflügelte Wesen
Ganz anders verhält es sich beim Opel „Monza“. Bei diesem handelt es sich um einen ultraflachen Viersitzer in Form eines Shootingbrakes mit wenig Laderaum. Also gilt auch hier: breit, flach, lang. Was den Antrieb angeht, so verfügt der „Monza“ über einen Elektromotor mit einem 1-Liter-Verbrennermotor als Range Extender. Statt einer B-Säule hat er, raten Sie mal: gigantische Flügeltüren. Diese werden wohl wegfallen, sollte tatsächlich eintreten, was der Opel-Vorstandsvorsitzende Karl-Thomas Neumann vorhersagt: „Der Monza Concept stellt das Opel-Fahrzeug von morgen dar“.
Bei Audi lockt man die Besucher nicht nur mittels einer gelungenen Standarchitektur mitten in Häuserschluchten à la Tokio, es werden auch gleich zwei Studien vorgestellt: der „Audi Sport Quattro Concept“ – ohne Flügeltüren – und der „Audi Nanuk Quattro Concept“ – mit solchen. Beide nehmen auf je eigene Art Elemente der Kastenform des Ur-Quattro auf, interpretieren sie aber auf unterschiedliche Weise. Sind es beim „Sport quattro concept“ die sogenannten „Blister“ über den Kotflügeln, die als Reminiszenz auf die ausgestellten Kotflügel beim Ahnherrn dem Wagen zusammen mit der kantigen C-Säule einen athletischen Touch geben, so akzentuieren diese den aggressiveren „Audi nanuk quattro concept“ auf andere Weise. Das zusammen mit Italdesign Giugiaro entwickelte Crossover-Konzept soll „die Dynamik eines Mittelmotor-Sportwagens mit der Vielseitigkeit eines sportlichen Freizeitautos“ verbinden. Die Außenhaut besteht aus kohlenstofffaserverstärktem Kunststoff (CFK) und ist in „Extremrot“ lackiert. Ob beide tatsächlich darauf hindeuten, dass das Audi-Design künftig mehr Kante zeigen wird?
Für den Stadt-Cowboy gibt es die Studie „Niro“ von Kia, das eher ein neues urbanes Lifestyle-Konzept als ein Automobil ist. Der kleine Schwarze – mit den obligatorischen Flügeltüren – ist ein Crossover für den Großstadtnomaden, der zwar auch nur von A nach B fährt, sich dabei aber fühlen möchte wie auf großer Expeditionsfahrt durch unbekanntes Terrain. Oder eben: Eine aufgedonnerte Ego-Prothese, deren neongelbe Haken am hinteren Stoßfänger signalisieren: Ich schleppe alles ab!
Der heimliche Star heißt i3
So heißt der heimliche Star der 65. IAA am Ende wohl doch BMW i3. Der fährt rein elektrisch, ist weder groß, noch flach, noch stark, noch breit. Freilich weist auch er Designelemente auf, an die wir uns in den kommenden Jahren werden gewöhnen müssen. Denn Autodesign, das bedeutet heutzutage: Nichts bleibt ungestaltet. Alles wird körperhaft und dreidimensional bis ins Detail ausgeformt. Jeder Türgriff, jede Sicke, jede Falte. Alles wird in die fließende Gesamtform integriert. Kurz: Wir leben noch immer in einem technischen Barock, dessen Triumphwagen mal elegant und mal aggressiv wirken.
Wie also werden sie aussehen, die Autos von morgen? Sie sind groß, breit, stark, flach, tragen ihre Muskeln offen zur Schau, bauen auf emotionale Eleganz und sind angefüllt mit raffinierter Technik. Damit wir nur ja nicht vergessen, dass Autofahren eine emotionale Angelegenheit bleibt. Wer sich nach einem Automobil umschaut, dass nicht einem glattgeschliffenen Stein mit irgendwelchen Blistern, Lufthutzen, Spoilerlippen, Bügelfalten, Sicken oder Diffusor-Attrappen gleicht, der hat es nicht immer leicht. Es sei denn, er schaut sich im Standardprogramm um. Manchmal bekommt man richtig Lust, nach einem Auto Ausschau zu halten, dessen Frontscheibe senkrecht steht.
www.mercedes-benz.de
www.bmw.de
www.audi.de
www.volvocars.com
www.opel.de
www.kia.com
www.smart.de
www.iaa.de