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"Als aktiver Architekt und Propagandist des Parametrismus kann ich nicht bei der Analyse stehenbleiben, sondern muss mich auch politisch positionieren.", so Patrik Schumacher.

Architektur in einer postfordistischen Netzwerkgesellschaft

Parametrische Architektur sei die logische Konsequenz aus den gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen. Architekten und Politiker aber würden sich scheuen, daraus die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Die Thesen von Patrik Schumacher, dem Direktor von Zaha Hadid Architects, sind umstritten. Wir stellen sie anhand eines Vortrags, den er ursprünglich in München gehalten hat, zur Diskussion.
von Patrik Schumacher | 18.05.2017

Der Aufbau von Gesellschaft überhaupt: Es gibt keine menschliche Gesellschaft ohne artifiziell gestaltete Umwelt. Die gebaute Umwelt – zusammen mit den gestalteten Artefakten – stellt der kulturellen Evolution erst ihr notwendiges, Generationen übergreifendes materielles Substrat zur Verfügung, mittels dessen vorteilhafte Strukturen persistieren und akkumulieren können, und ist in dieser Hinsicht vergleichbar mit der DNA der biologischen Evolution. Die menschlichen Siedlungen bilden und akkumulieren immer größere und differenziertere räumlich-materielle Gebilde, gleichsam als Skelett gesellschaftlicher Strukturen, die ohne dieses Substrat nicht den für Primaten unnatürlichen Umfang hätten erreichen können. Damit hätte das für die Produktivkompetenz so wichtige Kooperationsniveau nicht aufgebaut, reproduziert und weiterentwickelt werden können.

Was für den Anbeginn der kulturellen Evolution und damit für die Menschwerdung überhaupt gilt, gilt auch noch in der Jetztzeit, in Bezug zu unseren heutigen Entwicklungsaufgaben: Architektur ist nicht nur ein Ausdruck, sondern ein wesentlicher Faktor des gesellschaftlichen Fortschritts. Ihre fundamentale originäre Leistung ist nicht der so oft beschworene Schutz vor den Elementen, sondern vornehmlich eine strukturbildende Leistung, eine Ordnungsleistung.

Die Stadtentwicklung könnte laut Schumacher unter dem Vorzeichen des Parametrismus aufblühen, eine neue organische Identität entwickeln und das visuelle Chaos der letzten Dekaden, das einer obsoleten Architektur mit unzureichender kommunikativen Kapazität geschuldet sei, überwinden. Mit dem Projekt "Galaxy Soho" in Beijing wurde eine 360-Grad-Schnittstelle der Kommunikation für die postfordistische Netzwerkgesellschaft geschaffen.

Die gebaute Umwelt ordnet gesellschaftliche Interaktionsprozesse und wirkt bei der Etablierung und Stabilisierung der Gesellschaftsordnung mit. Dabei geht es auch um Eigentum, um räumliche Ausgrenzungen und Abgrenzungen mittels physischer Schranken mit entsprechenden Zugangsberechtigungen. Vor allem aber geht es erst einmal um die funktionale, räumliche Sortierung von Interaktionstypen oder Kommunikationssituationen mittels semiotischer Kodierungen, wobei relative räumliche Positionierung auch schon ein Mittel der Kodierung ist. Die gebaute Umwelt sortiert die Situationen und orientiert die sich dann selbstständig einordnenden Teilnehmer der so geordneten gesellschaftlichen Prozesse. Sie kommuniziert die Gesellschaftsstruktur, allerdings kaum mehr anschaulich die Gesellschaftsstruktur als Ganzes, aber nach wie vor die jeweils lokalen gesellschaftlichen Strukturen, Angebote und Kommunikationsmöglichkeiten, kurz: Wer, wo, wie an welchen Kooperationen teilnehmen kann.

Die Räume der Stadt – sowohl Außenräume als auch Innenräume – sind immer gestaltete Räume und funktionieren immer auch als Kommunikationen: Sie informieren über die zu erwartenden Interaktionstypen und Teilnehmertypen und leisten damit eine erste, rahmende Definition der zu erwartenden Situationen. Ohne eine vorhergehende Definition der Situation kann Kommunikation kaum stattfinden.

Ein wohlplatzierter und wohlartikulierter Raum ist demnach eine Kommunikation, nämlich eine Einladung zur Teilnahme an einer spezifischen kommunikativen Situation, die, wie jede Kommunikation, angenommen oder abgelehnt werden kann. Im Falle der Annahme der Kommunikation, die durch das Eintreten in den Raum kommuniziert wird, funktioniert der Raum als gemeinsame Prämisse aller Teilnehmer und aller weiteren Kommunikationen, die in diesem Rahmen dann stattfinden.

Des Weiteren rahmt und konfiguriert das Mobiliar die kommunikativen Interaktionsprozesse im Zusammenspiel auch mit weiterem Gerät und Gestell.

Die adaptiv-innovative Weiterentwicklung dieser notwendigen, kommunikativ bewerkstelligten Sortierung, Rahmung und Konfigurierung aller Kommunikation ist die eigentliche gesellschaftliche Funktion von Architektur und von allen Designdisziplinen, inklusive Modedesign, Webdesign und Grafikdesign.

Ein wohlplatzierter und wohlartikulierter Raum ist für ihn eine Einladung zur Teilnahme an einer spezifischen kommunikativen Situation, die angenommen oder abgelehnt werden kann. Das Projekt: "Library Learning Center" an der Universität Wien verbindet Kommunikation und Orientierung.

Die Architektur bildet zusammen mit den anderen Designdisziplinen – inklusive des städtebaulichen Entwerfens, aber ohne Regional- und Stadtplanung – einen einheitlichen Diskurszusammenhang, das heißt ein Funktionssystem im Sinne des Bielefelder Sozialwissenschaftlers Niklas Luhmann (vgl. Niklas Luhmann, "Die Gesellschaft der Gesellschaft", Frankfurt am Main, 1998) mit exklusiver Universalkompetenz bezüglich der Physiognomie der gebauten Umwelt und der Artefakte weltweit. Die Produktion von allem, was uns in der alltäglichen Lebenswelt phänomenologisch umgibt und uns als Kommunikations-Interface dient, muss durch das Nadelöhr unseres Diskurses.

Das Bauhaus hat gezeigt, wie potent die Disziplin von einem Punkt aus die Welt transformieren kann. Jede Kommunikation – ausnahmslos, auch die telekommunikativ oder textuell vermittelte Kommunikation, siehe Webdesign und Graphikdesign –  ist auf unseren Ordnungsbeitrag angewiesen, wie übrigens auch auf die Ordnungsleistungen der anderen Funktionssysteme (Wirtschaft, Politik, Rechtssystem, Wissenschaft).

Das Modedesign beispielsweise stellt uns situationsspezifisch differenzierte Identifikationsoptionen zur Verfügung. Diese quasi-grafische "Visualsprache" der sozialen Markierungen ist, genauso wie die gebaute Umwelt, ausnahmslos ein Phänomen gesellschaftlichen, das heißt menschlichen Lebens, und damit wohl ebenfalls ein funktional notwendiger Aspekt von Menschwerdung. Die grafische Markierung – das Ornament im weitesten Sinne – ist auch fast ohne Ausnahme ein universelles Phänomen aller gebauten Umwelten und Artefakte, immer schon und immer noch. Die rein physisch-praktische, das heißt ingenieursmäßig bedingte Ausdifferenzierung der baulichen Morphologie reicht zumeist nicht aus, die gesellschaftlich zu differenzierenden Situationen ohne zusätzliche Markierungen zu kommunizieren. 

Diese Kommunikationsleistung der gestalteten Umwelt und Artefakte wird bei zunehmender Komplexität und mit zunehmenden Freiheitsgraden aller Stadtentwicklungsakteure schwieriger und damit zu einer nicht-trivialen Herausforderung, die meiner Meinung nach zu einem expliziten Entwurfsziel der Architekten – wie auch der Gestalter aller anderen Designdisziplinen – werden sollte. Alles Design ist auch immer Kommunikationsdesign, von nun an hoffentlich explizit und sich in dieser Hinsicht einer diskursiven Kritik stellend.

Die Architektur als Disziplin hat sich seit der Renaissance gegenüber dem handwerklich tradierten Bauwesen als diskursiv reflektierter, theoriegeleiteter Beruf etabliert. Alles Vorangehende war traditionsgebundenes Bauen. Dieser Urknall des Funktionssystems Architektur, das, wie alle modernen Funktionssysteme, auf Innovation hin ausgerichtet ist, hat ein enorm gesteigertes historisches Entwicklungstempo der transformativen Stadtentwicklung eingeleitet und im Zusammenhang mit anderen Funktionssystemen wie Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Rechtssystem, die sich zur gleichen Zeit ausdifferenziert haben, das gleichsam gesteigerte historische Entwicklungstempo der Gesamtgesellschaft mitbewirkt.

Aufgrund der sozioökonomischen Strukturveränderungen seit 1980 mit ihren wesentlichen Merkmalen wie ‘mass customisation’, ‘flexible specialisation’, ‘life-style differentiation’, ‘fast cycles of product and service innovation’, ‘the Hollywood principle of organisation’, ‘focus on R&D’, ‘self-directedness of work’, ‘life-long learning’ und vielem mehr, hat sich unsere Gesellschaft von der fordistischen Industriegesellschaft inzwischen schon weit entfernt.

Der Parametrismus habe laut Patrik Schumacher seine Methoden und adaptiv gehandhabte Formenvielfalt im Kontext dieser neuen Bedingungen entwickelt und sei, im Gegensatz zum Modernismus und den überholten Retrostilen, den damit verbundenen Herausforderungen gewachsen. Projekt: Heydar Aliyev Centre in Baku

In der Stadtentwicklung wurde die Suburbanisierung der vorangegangenen Periode umgekehrt. Diese suburbane Industriegesellschaft hatte im architektonischen Modernismus ihren angemessenen Ausdruck gefunden. In den Dekaden seit 1980 konstatieren wir eine neue urbane Konzentration, die der jetzt in der Fokussierung auf Forschung, Marketing, und Finanzierung notwendigen kommunikativen Intensivierung des Arbeitsprozesses und des gesellschaftlichen Prozesses überhaupt Rechnung trägt. Postfordismus bedeutet ökonomische Dynamisierung und urbane Verdichtung, die mittels der Prinzipien des modernen Städtebaus – Separation, Spezialisierung, Repetition –  weder organisiert, noch mit den monotonen Mitteln der modernen Architektur angemessen artikuliert werden kann.

Der Parametrismus hat seine Methoden und adaptiv gehandhabte Formenvielfalt im Kontext dieser neuen Bedingungen entwickelt und ist, im Gegensatz zum Modernismus und den überholten Retrostilen, den damit verbundenen Herausforderungen gewachsen. Die Stadtentwicklung könnte unter dem Vorzeichen des Parametrismus aufblühen, eine neue organische Identität entwickeln und das visuelle Chaos der letzten Dekaden, das einer obsoleten Architektur mit unzureichender kommunikativen Kapazität geschuldet ist, überwinden. Die Komplexität des Entwicklungsprozesses übersteigt dabei die Kompetenz und Kapazität staatlicher Zentrallenkung. Insofern war die sogenannte neoliberale Revolution eine Anpassung an die Möglichkeiten der postfordistischen Produktivkraftentwicklung, die nur unter neoliberalem politischem Vorzeichen zu haben war und ist. Die Stadtentwicklungsplanung hat sich ebenfalls entsprechen transformiert, aber meiner Meinung nach nicht radikal genug, und ist deshalb – wie übrigens die reformschwache Politik auch – zur Bremse geworden.

Die gebaute Umwelt ordnet seiner Ansicht nach gesellschaftliche Interaktionsprozesse und wirke bei der Etablierung und Stabilisierung der Gesellschaftsordnung mit. Dabei gehe es auch um Eigentum, um räumliche Ausgrenzungen und Abgrenzungen mittels physischer Schranken mit entsprechenden Zugangsberechtigungen. Projekt: Heydar Aliyev Centre in Baku

Als aktiver Architekt und Propagandist des Parametrismus kann ich allerdings nicht bei der Analyse stehenbleiben, sondern muss mich auch politisch positionieren. Zwar wird die grobe, technologisch fundierte sozioökonomische Entwicklungsrichtung des Postfordismus, die ich mit dem Begriff postfordistische Netzwerkgesellschaft positiv anspreche, im Großen und Ganzen (wenn auch nicht in allen Detailauswirkungen) positiv beurteilt und angenommen. Ihre politische Fundierung im Neoliberalismus wird dagegen aber zumeist – und seid 2008 in zunehmendem Maße – negativ beurteilt und durch politische Gegenbewegungen zurückzudrängen versucht. Ich muss mich auch deshalb politisch positionieren, weil nicht zuletzt auch meine Disziplin, zumindest in ihren expliziten diskursiven Äußerungen, sich fast vollständig gegen den Neoliberalismus stellt und seit 2008 insgesamt – wie wohl die Weltgesellschaft überhaupt – eine Politisierung erfahren und erlitten hat. Meine Position verhält sich konträr zu der Mehrheit meiner Disziplin, und konträr zur gesamtgesellschaftlichen Mehrheit: nämlich libertär.

Mein auf die Zukunft als wegweisend ausgerichtetes Architekturforschungs- und Aktionsprogramm hat deshalb drei Aspekte:

1.) Die generelle Verbreitung des Parametrismus als dem epochalen Architekturstil des 21. Jahrhunderts und damit als definitivem Beitrag der Architektur zur Entwicklung der postfordistischen Netzwerkgesellschaft.

2.) Das Programm einer neuen, explizit auf die kommunikative Kapazität der gebauten Umwelt ausgerichteten Architektursemiologie, die der Komplexität und Dynamik der postfordistischen gesellschaftlichen Strukturen und Interaktionsprozesse kommunikativ gerecht werden kann.

3.) Das Programm einer marktbasierten urbanen Ordnung, in der Entwicklungsunternehmer möglichst ohne restriktive Planungsvorgaben, orientiert an Gewinn und Verlust, den Markt zur Entdeckung von Synergien der urbanen Netzwerkbildung – um derentwillen wir ja überhaupt alle erst in die Stadt drängen – ausloten können. Nur so kann ressourcenoptimierend eine Nutzungsordnung (die oben genannte Sortierung der Interaktionstypen und Interaktionsteilnehmer) im Zusammenspiel der flexibel aufeinander eingehenden baulichen Interventionen hervorgebracht werden, ohne dabei von einem immer schon obsoleten und kruden bürokratischen Zentralplan verhindert oder systematisch fehlgeleitet zu werden.

Architekten sind sodann – parametrisch-semiologisch aufgerüstet – dazu berufen, diese allokative Ordnung der von den Entwicklern und Klienten platzierten Partizipationsangebote (d.h. diese Gruppen von Kommunikationssituationen) extern im Neben-und Nacheinander artikulativ aufeinander abzustimmen und intern weiter zu sortieren, zu konfigurieren und phänomenologisch (d.h. anschaulich) und semiologisch (d.h. mittels einer morphologisch-grafischen Kodierung) so zu kommunizieren, dass Orientierung, Navigation und zielsichere Partizipation auf einem neuen Komplexitätsniveau funktionieren, und so zum Fortschreiten von Produktivität und Lebensqualität produktiv beitragen.

Laut Patrik Schumacher gibt es keine menschliche Gesellschaft ohne artifiziell gestaltete Umwelt. Die gebaute Umwelt – zusammen mit den gestalteten Artefakten – stelle der kulturellen Evolution erst ihr notwendiges, Generationen übergreifendes materielles Substrat zur Verfügung, mittels dessen vorteilhafte Strukturen persistieren und akkumulieren könnten. Das Projekt des Heydar Aliyev Centers in Baku ermöglicht eine räumliche Komplexität durch die formale Einheitlichkeit der Teilsysteme.