Das Chamäleon-Garn
Der Effekt ist verblüffend: Das weiße Textil des Schlüsselbandes färbt sich sofort violett, wenn es ins Sonnenlicht gehalten wird. Dann, nach ein oder zwei Minuten in der Tasche, ist die Farbe verschwunden, der Stoff wieder weiß. Den Hut färben die Sonnenstrahlen sogar doppelt, den oberen Teil rosa, die Krempe violett. Gabriela Kapfer und Karina Wirth lachen, als sie auf der Straße vor ihrem Büro den Effekt vorführen. Die beiden Designerinnen genießen sichtlich den Moment der Verblüffung, den sie mit ihren "Sunkolor"-Textilien auslösen. Es stecken ja auch gut zwei Jahre Entwicklungsarbeit in dem Material – einem synthetischen, recycelbaren Garn, das unter UV-Strahlung seine Farbe wechselt.
Für die beiden Berlinerinnen ist "Sunkolor" ein Kommunikator: Ganz ohne Strom, Messgeräte oder sonstige Hilfsmittel kann es Menschen vor Augen führen, dass sie sich gerade der potenziell schädlichen Strahlung aussetzen. "Es macht etwas sichtbar, was sonst unsichtbar ist", sagt Gabriela Kapfer. "UV-Strahlen kann man ja nicht sehen oder fühlen." Anwendungen für das Chamäleontextil sehen sie viele: Als Anhänger am Wanderrucksack, als Armband fürs Musikfestival oder als Aufnäher an einer Kinderjacke. Überall da, wo man "Bewusstsein für Sonnenstrahlung schaffen möchte", sagt Karina Wirth. Durch die Klimakrise gebe es mehr Sonnenstunden als früher und entsprechend mehr UV-Strahlung. Die Idee für "Sunkolor" treibt Karina Wirth bereits länger um, schon im Bachelorstudium experimentierte die 32-jährige mit Garnen, die auf UV-Strahlung mit einem reversiblen Farbumschlag reagieren, wie es in der Fachsprache heißt. Wirth studierte damals an der Hochschule Hof Textildesign. An diesen eher technische ausgerichteten Studiengang hängte sie ein Masterstudium in Textil- und Flächendesign an der Weißensee Kunsthochschule Berlin an. "In Weißensee haben wir konzeptioneller und interdisziplinärer gearbeitet, das hat sich gut ergänzt", sagt Wirth. Seit mehreren Jahren arbeitet sie im "Textile Protoyping Lab", einer Einrichtung, die Designerinnen und Designern Innovationen in technischen Textilien zugänglich macht. So hat Wirth etwa das textile Band für Stefan Diez‘ Leuchtensystem Plusminus von Vibia entwickelt.
Die Idee mit dem UV-sensiblen Garn ließ die Designerin jedoch nicht los. Als sie durch Zufall Gabriela Kapfer kennenlernte, ging alles ganz schnell. Sie erzählte der Grafikdesignerin von ihrem Projekt, schon beim zweiten Treffen entschieden sie, dass sie es gemeinsam auf den Weg bringen wollten. Textil- und Grafikdesign, das habe einfach perfekt gepasst, so Wirth. Kapfer hatte visuelle Kommunikation studiert, zuerst an der Kunsthochschule Weißensee und dann an der Universität der Künste in Berlin. "Es gab ein Textil, das kommunizieren kann", erinnert sich Kapfer. "Aber wie soll es kommunizieren? Wir hatten beide das Gefühl, dass wir diese Fragen beantworten können", so die 31-jährige weiter.
Die beiden gründeten ihr Studio Panorama Fabrics und bewarben sich 2020 um eine Förderung der Designfarm Berlin, einem an die Kunsthochschule Weißensee angeschlossenen "Design in Tech"-Accelerator. Jetzt, nach zwei Jahren Forschungs- und Entwicklungsarbeit sehen sie "Sunkolor" reif für den Markt. Kürzlich haben sie das Garn bei der Münchner Messe "Munich Fabric Start" für textile Innovationen vorgestellt, mit exemplarischen Produkten wie dem Schlüsselband oder dem Sonnenhut. "Die Messe war unser Reality-Check", sagt Gabriela Kapfer. "Wir haben gemerkt, dass viele Branchen Interesse haben." Gerade gründen die beiden ein Unternehmen, um "Sunkolor" zu vermarkten. Sie suchen Partner aus der Industrie, die daraus Produkte herstellen wollen. Schritt für Schritt gehen die Designerinnen dabei vor, wollen sich nachhaltig entwickeln – um so noch möglichst viele Momente der Verblüffung auszulösen zu können.