ORGATEC 2024 – REVIEW
Nervös im Flow
Beim Gang durch die Hallen der Koelnmesse merkte man: Was auch kommen wird, die Möbelbranche ist vorbereitet. Mit modularen Strukturen und flexiblen Elementen, individuellen Lösungen und ganzheitlichen Ansätzen. Am Schreibtisch und auf Sesseln sitzen wir geschützt hinter hohen Rückenlehnen und Trennwänden, gepolstert, versteht sich. Auf den bodennahen Sofas, die je nach Bedarf durch den Raum geschlängelt werden, wählen wir aus einem großen Angebot an Kissen, die statt eines klassischen Quadrats auch gerne asymmetrische Formen zeigen. Der wachsenden Unsicherheit stellen wir mit kräftigen, natürlichen Farben, die warm und vertraut wirken, eine große Portion Optimismus gegenüber, dass die Stabilität noch nicht verloren ist – wie bei Lindner, ege & Ambright, Prostoria, Arper oder COR. Zu dieser ursprünglichen Farbwahl wurde ein Hauch von Violett und hellem Flieder addiert, an dem sich der Wunsch nach spiritueller Weitsicht und Heilung ablesen lassen könnte, sofern man der Esoterik hier Glauben schenkt. Das wohnliche Büro dominierte die Präsentationen, technische Feinheiten sind nun lieber versteckt platziert oder als dezenter Schmuck gestaltet, wie das minimalistische "System 25" von ZETR in Kooperation mit e15. Die einstigen Spielereien für Open Spaces der letzten Jahre haben parallel an Eleganz gewonnen – Bewegung ja, schließlich zeigen doch Studien, das sowohl langes Sitzen wie langes Stehen ungesund ist, aber dann bitte mit Stil.
Präsentiert wurden uns diese Ideen auf ungewohnt luftigen Flächen, die zum einen auf die reduzierte Anzahl der großen Aussteller hinwiesen, wie auf die hoffentlich finale Abkehr von aufwändigen und verschwenderischen Standarchitekturen. Stattdessen diente neben Holzaufbauten und feinen Metallketten vermehrt transparentes Gewebe als Deckenstruktur und eindrucksvolle Installation – wie bei NowyStyl. Palmberg brachte das leichte Textil kurzerhand mit einem Gebläse in Schwung und kreierte so einen dynamischen Raumtrenner. "Kein Messestand" plottete indes Unternehmen Form zur Präsentation ihrer "UF Kollektion" auf die Wand und beschwor mit der "Nein-Kampagne" ein radikales Umdenken in der Gestaltung von Arbeitswelten für multifunktionale Lösungen.
Gefragt ist die einzig wahre Lösung für alle Anforderungen, denn jetzt geht es um das Ganze. Für den Fortschritt braucht es eine holistische Ergonomie, in der Licht und Akustik, Raum und Möbel eine stimmige Einheit bieten. Bei Pedrali kombinierte Robin Rizzini beispielsweise mit der "Rizz Workstation" leichte Strukturen mit hoher Stabilität. Ausgestattet werden kann der Tisch mit einer Brückenstruktur inklusive Beleuchtung, Ablage und Pflanzgefäßen, einem Kabelmanagementsystem und schallabsorbierenden Flächen. Mit "Everything is connected" als Motto unterstrich Kinnarps, das Ergonomie im Büro durch die gesamte physische und soziale Umgebung geprägt ist und nicht nur durch einzelne Möbelstücke definiert wird. Wir sollen uns wohlfühlen in dieser neuen Arbeitswelt, denn in ihr steht der Mensch im Fokus. Und der braucht neben der Isolation am heimischen Schreibtisch den sozialen Austausch im Team. Somit bot sowohl das Programm des Wherever Whenever – Work Culture Festivals, wie das der benachbarten Design Post, zahlreiche Bühnen, um den Status quo und das Vorgehen in der Transformation auszuloten. Midgard Licht lud zudem abseits der Ausstellungen unter dem Titel "Designing the Future: Krise oder Chance auf Change?" zu einem offenen Talk im MAKK, in dem die Journalistin Jasmin Jouhar mit den Designern Stefan Diez und Sebastian Herkner, den ArchitektInnen Anabelle von Reutern und Chris Middleton sowie der wissenschaftlichen Zukunftsforscherin Doris Sibum diskutierte.
Die wenigen verbliebenen Büromöbelhersteller, die in dieser freien Programmatik weiterhin versuchten mit konservativen Aufbauten und großen Produktschlachten zu glänzen, wirkten wie aus der Zeit gefallen. Und auch an den immer gleichen trendy Formen hatte man sich schnell sattgesehen. Umso deutlicher traten die Unternehmen hervor, die den Blick aus der Box wagen: Wie gumpo. Dessen KreativdirektorInnen Ana Relvão und Gerhardt Kellermann verleihen mit Leichtigkeit der puren Gestaltung eine eigene Handschrift. "yay" und "ohh" heißen ihre beiden neuen Sitzmöbel, die sehr verschieden sind und trotzdem harmonieren: Ein klares Statement mit Victory-Zeichen zum einen, eine zurückhaltende Geste, die auf den zweiten Blick mit großer Vielseitigkeit überrascht, auf der anderen. Wagner Living weiß dank dem kreativen Tausendsassa Peter Wagner auch in herausfordernden Zeiten stets zu überraschen, vom ausgebauten Airstream Wohnwagen vor der Design Post bis zu cleveren Weiterentwicklungen, wie des "D2"-Baukastens von Gonzalez Haase AAS & Diez Office. Das parametrische Raumsystem aus handelsüblichen Aluminium- oder Kartonleichtbauplatten ermöglicht robuste Strukturen ohne Schrauben und Kleber. Die Produktion und der Aufbau der Möbelstücke in individueller Ausführung wird von lokalen Handwerksunternehmen durchgeführt. Speziell für das lange Sitzen eignet sich darüber hinaus der "D1 Office Pro" Drehstuhl von Stefan Diez mit Dondola® 4D Sitzgelenk, der die Körperhaltung aktiv unterstützt und Verspannungen vorbeugt. Und für das richtige Licht am Platz sorgen die Tischleuchten von Heavn, die den natürlichen Tagesverlauf der Sonne simulieren.
Noch ist er ergebnisoffen, der viel beschworene Wandel der Arbeitswelt, den man irgendwo zwischen den auferlegten Bürotagen und der Freiheit des Home Office sucht. Die Veränderung schwebt als Drohung wie Versprechen über unserer Gegenwart, und das zeigt sich auch im Angebot einer Fachmesse für die Ausstattung und Einrichtung von Büro wie Objekt. Während die Vorstellungskraft dafür hier und da mit VR-Brillen unterstützt wurde, wie bei Interstuhl, blieb die große Werbung für die künstliche Intelligenz aus. Stattdessen zählte das Handwerk, für das man die eigenen Fähigkeiten in Workshops auch selbst erkunden durfte. Dem Ruf nach Zirkularität und einem achtsamen Umgang mit Ressourcen trug die Koelnmesse indes mit der Netzwerkplattform "Circular House", oder dem Konzept "Blind Date" Rechnung: 20 europäische Designmarken waren eingeladen, anonymisierte Briefings zu dem Thema "Reduktion" einzureichen. Jede dieser Aufgaben wurde durch Auslosung an Designerinnen und Designer übergeben, deren Identität ebenfalls bis zum Messestart verborgen blieb.
Was bleibt nun von dieser Ausgabe der Orgatec? Ein gemischtes Gefühl zur Lage der Branche, auch mit Blick auf die vor kurzem abgesagte internationale Möbel- und Einrichtungsmesse imm cologne 2025, deren Zukunft nun im Nebel steht. Relevante Marken sind abgekehrt, und ob es zukünftig eine Fusion von imm cologne und Orgatec geben kann, ist noch fraglich. Nachdem viel zu lange an den einst bewährten Konzepten festgehalten wurde, ist nun große Ratlosigkeit spürbar. Die Lorbeeren der Vergangenheit reichen nicht mehr aus, um die Zukunft zu gestalten, damit ist der Messestandort Köln nicht allein. Die Bedeutung von Deutschland für die Neuheitenpräsentation und das Netzwerktreffen der Branche schwindet aktuell und damit wird auch der Wettbewerb unvollständig. Parallel wurde in den Gesprächen mit VertreterInnen den Aussteller schnell klar: Hinter den glänzenden Präsentationen und der lockeren guten Laune Strategie stehen bei vielen Unternehmen handfeste Existenzängste, die dazu führen, jedes Investment in ein potenzielles Risiko mehr als sorgsam zu überdenken. Das führt zu homogener Gestaltung, die den über Jahrzehnte so gelobten deutschen Erfindergeist blass werden lässt. Die Baukrise und Ressourcenkonflikte haben die von der Pandemie bereits gezeichnete Möbelindustrie schwer erfasst und die darauffolgende Kettenreaktion wird zunehmend sichtbar.
Das deren Auswirkungen vielseitig sind, zeigte sich auch Köln: Die Design Post profitiert von der Schwäche der Koelnmesse, gewinnt in diesem Jahr wie mit Brokis neue Aussteller hinzu und die, die sich einst verabschiedet hatten (wie Moroso), haben nun Mühe wieder Platz in der historischen Dreigelenkbogenhalle zu finden. Die Nähe zu den Messehallen war für die Design Post stets ein Vorteil, daher wird es spannend zu sehen, in welche Richtung das Konzept nach der Absage der imm cologne weiterentwickelt wird. Zur Orgatec waren die konstanten Ausstellungsflächen dort gut besucht, die Stimmung professionell, die Atmosphäre gastfreundlich. Das Potenzial wäre gegeben, sich in diesem Vakuum als unabhängige, interdisziplinäre Plattform für die Designbranche zu etablieren.
Informell geworden ist hingegen das Klima auf der Orgatec: In den halbleeren Messehallen lohnte selbst der Aufbau eines Spielfelds für Paddle-Tennis. Während sich die Gäste in den Focus Areas mitunter in den breiten Gängen verloren, waren die stark nachgefragten Eventangebote mit Gastronomie, Talks und Livemusik oft sehr nah an den Ausstellungen platziert. Beim Versuch dort ein paar Worte zu wechseln, forderten die kräftigen Beats von gegenüber eindringlich dazu auf, stattdessen die Hüften kreisen zu lassen. Der Ansatz mit einem möglichst großen, bunten Angebot auf eine Krise zu reagieren, ist nicht der Richtige, wenn er den ursprünglichen Sinn der Fachmesse konterkariert, könnte man nun meinen. Aber vielleicht liegt in diesem Kurswechsel auch eine Chance. Transformation braucht das Experiment, und als solches kann man die diesjährige Ausgabe der Orgatec begreifen. Wie sang schon Herbert Grönemayer im Jahr 1998: "Stillstand ist der Tod, geh voran, bleibt alles anders".
Orgatec
22. bis 25.10.2024
9 bis 18 Uhr