Hoch hinaus
Es ist das erste Werk von Ólafur Elíasson in Südtirol überhaupt: Im Oktober 2020 eröffnete der deutsch-dänische Künstler persönlich eine begehbare Arbeit namens "Our Glacial perspectives", in 3.212 Meter Höhe auf dem hochalpinen Grawand-Grat über dem Skigebiet. Zusammen mit dem 410 Meter langen Besinnungsweg bildet die Skulptur eine Zeitreise ab und will in Form einer Armillarsphäre – ein metallener Ring mit 700 blauen Glasfenstern – ein Warnruf sein zum desaströsen Zustand der Gletscher. "Die Idee geht auf das Cyanometer von Horace-Bénédict de Saussure zurück, ein Alpinist, Naturforscher und Philosoph, der dieses Instrument Ende des 18. Jahrhunderts zum Messen der Farbintensität der Himmels entwickelte. Es diente dazu, die Zukunft besser zu verstehen. Eine Armillarsphäre ist die dreidimensionale Darstellung eines Astrolabiums, früher Weltmaschine genannt. Sie dient der Darstellung von Bewegung. Diese Geräte helfen uns, das Abstrakte darzustellen, wie den Wandel des Klimas zum Beispiel", erklärt er.
Von der Gipfelstation der Schnalstaler Gletscherbahnen mit dem Glacier Hotel Grawand führt der Weg wie eine Pilgerreise durch neun Bögen, die für die Längen der Eiszeiten stehen, und hält genau auf die blaue Kugel zu. Eine Art Kalender oder Sonnenuhr, auf der man anhand der Ringe die Zeit bis zur nächsten Sommer- oder Wintersonnenwende bemessen kann. So die rationale Erklärung des Künstlers, dessen Schaffen sich seit jeher um physikalische Naturphänomene dreht. Auf der emotionalen Ebene will Eliasson transportieren, dass "wir nicht hier sind, um die Welt zu konsumieren oder für den Wettbewerb, sondern um zusammenzuarbeiten."
Vier Jahre dauerte es, bis der eigens gegründete Kulturverein "Talking Water Society" rund um Ui von Kerbl das Projekt mit Kosten von rund einer Million Euro realisieren konnte. Kerbl ist ebenfalls Künstler und stammt aus Salzburg. Er sagt: "Statt Berge versetzen wollen wir lieber Kunst auf Berge setzen". Hier oben sei "eine Art Kapelle entstanden, und zwar auf nachhaltige Weise, denn die Bauteile wurden ohne Einsatz eines Helikopters hinaufgebracht." Seine Intention: "Es geht darum zu zeigen, wie klein wir sind in dieser Sekunde dort vor Ort". Während Eliassons Werk diverse Lesbarkeiten bietet, bleibt die neue Aussichtsplattform auf der anderen Seite der Bergstation eindeutig: Ein beinah freischwebender ovaler Balkon als Hinweis, die hochalpine Ausgesetztheit des Alpenhauptkamms noch deutlicher wahrzunehmen. Gebaut von noa* - network of architecture unter Projektleiter Andreas Profanter, umschließt die kühne Plattform namens "Iceman Ötzi Peak" rund 80 Quadratmeter, begrenzt von vertikalen Lamellen aus Corten-Stahl, die je nach Standpunkt immer neue Blicke auf die umliegenden Dreitausender freigeben. Das bestehende Gipfelkreuz wurde in die Planung integriert. Die Sichtachsen gehen zu zahlreichen Gipfeln, zur Ötzi-Fundstelle am Tisenjoch – und hinüber zu Eliassons blauer Zeitkugel.
Modernes Bauen in den Alpen polarisiert. Zuverlässig. Zeitgemäße Objekte in alpinen Regionen ziehen absehbar KritikerInnen an, sei es um des Kritisierens willen, sei es aus echter Sorge um ökologische Aspekte oder um die visuelle 'Verschandelung der Alpen' – wobei da jeder etwas anderes darunter versteht. Im Schnalstal schlugen die Wellen noch etwas höher, weil selbst das Team von Eliasson erst im letzten Moment von der zeitgleich geplanten Aussichtsplattform erfuhr. Auch das anglophone Naming der Ötzi-Iceman-Plattform irritiert mitunter. "Die in der Nähe gefundene Mumie 'Ötzi' wird für das Marketing eines Berggipfels missbraucht“, so Reinhold Messner, der als Überraschungsgast zum örtlichen Dinner mit eingeladenen Journalisten erscheint. Exakt 30 Jahre ist der Fund nun her, der dem abgelegenen Schnalstal weiterhin viel Beachtung verschafft. Während Messner davon abgesehen den künstlerischen Ansatz von Eliasson goutiert, richtet sich seine Kritik einmal mehr an den Athesia-Verlag aus Bozen, inzwischen größter Verlag Südtirols und zum Mischkonzern avanciert. Und: 'Die Athesia' ist heute alleiniger Inhaber eben jener Schnalstaler Gletscherbahnen auf die Grawand. Das legt folgende Strategie nahe: Sollen die architektonischen Projekte von Eliasson und noa vor allem der Auslastung der Bahnen dienen, auch weil sie ein neues Publikum anziehen und die Sommersaison stärken, zumal die Gletscher absehbar verschwinden? Investiert man in Kunst und Architektur, um als touristische Alpendestination relevant zu bleiben?
Andererseits: Wie ginge es dem abgelegenen, mitunter als "vergessen" bezeichneten Tal ohne seine Wirtschaftsfaktoren – wie Bergbahnen, die touristisch aufbereitete Gletscherleiche Ötzi und neue Attraktionen aus Kunst und Architektur? Was wäre die Alternative zur ambitionierten Architekturkampagne der Bahneninhaber? "Ruhe. Stille. Gute Küche. Es geht um die Begegnung Mensch und Berg, das habe ich immer gesagt", meint Messner dazu. Doch der Extrembergsteiger, der am Taleingang auf dem restaurierten Schloss Juval wohnt, weiß gut, dass die Gattung des "selbstständigen Alpinisten" ebenso ausstirbt wie die Gletscher ringsum. Im Instagram-Zeitalter wollen TouristInnen in kurzer Zeit viel erleben, möglichst ohne großen Aufwand und gern mit künstlichen Aufstiegshilfen. Was den Nutzen von Bahnen und Betrieben betont, auch um Arbeitsplätze zu schaffen und die Jugend der Täler davon abzuhalten, in die Städte abzuwandern. Derzeit planen noa* - network of architecture ein ganzes Hoteldorf an der Talstation der Bergbahnen in Kurzras. Dieses Abwägen und das Ringen um baulich passende, nachhaltige Lösungen und um die Balance zwischen wirtschaftlichen Interessen, Fortschritt und Umweltbewusstsein, es wird sich in den kommenden Jahren ebenso verstärken wie der Klimawandel.