Auf dieses Buch haben wir jahrzehntelang gewartet! Die Autorin Phyllis Lambert war 27 Jahre alt, als im Sommer 1954 ein Abenteuer begann, das ihr Leben für immer verändern würde. Die Tochter aus sehr gutem Hause lebte damals in Paris und versuchte, sich als Künstlerin durchzuschlagen. Da erhielt sie einen Brief von ihrem Vater Samuel Bronfman, dem Chef des kanadischen Whisky-Imperiums Seagram. In dem legte er ihr die Pläne zum Bau seines neuen Headquarters für den US-amerikanischen Markt vor, das in New York entstehen sollte. Seine Tochter reagierte mit Entsetzen: NO NO NO NO NO, so beginnt sie ihr Antwortschreiben. Umgehend reiste sie zurück, was wohl die heimliche Absicht des Vaters war, und wirbelte alles durcheinander. Ihr donnerndes NO zu mittelmäßiger Architektur kegelte die bereits engagierten Architekten aus dem Rennen. Und aus dem NO ging ein Meilenstein der Architekturgeschichte hervor.
Das Hochhaus als einheitliche Großform
Phyllis Lambert wurde als Beraterin engagiert und erstellte mit gehörigem Selbstbewusstsein Architektenlisten: Marcel Breuer? Zu suburban! Louis Kahn? In seiner Vorliebe für ehrlichen Sichtbeton viel zu moralisch! Zuletzt blieben noch zwei Namen übrig: Le Corbusier und Ludwig Mies van der Rohe. Mies erhielt letztlich den Zuschlag für das Seagram Building. Sein erstes Bürohochhaus, das dass nicht weniger bedeutende Four-Seasons-Restaurant von Philip Johnson beherbergte, beides eingeweiht im Jahr 1959.
Phyllis Lambert hätte das Buch „Building Seagram“ bereits damals schreiben können: Darüber, wie Mies und Philip Johnson, deren Verhältnis nicht immer einfach war, gemeinsame Räume in New York angemietet hatten, in denen Mies nie vor 11 Uhr morgens auftauchte, um Halbeins zum Lunch ging, der immer mit zwei Martini-Cocktails begann, im Büro hingegen still dasaß, Zigarren rauchte und nachdachte. Oder über die Schwierigkeiten, das braun eingefärbte Glas für die Fensterscheiben zu bekommen, weil Mies größten Wert darauf legte, dass das Hochhaus mit der Bronzefassade als einheitliche Großform wirken sollte. Und natürlich wollten wir die ganze Zeit schon wissen, wie es gelingen konnte, das Unternehmen Seagram davon zu überzeugen, nur die Hälfte des möglichen Bauvolumens auf das Grundstück zu stellen und so den grandiosen Vorplatz, die Plaza mit den beiden Wasserbecken, als öffentlichen Raum an der Park Avenue frei zu halten.
Aber Phyllis Lambert hatte 1959 einfach keine Zeit, das alles aufzuschreiben. Sie begann ein Architekturstudium bei Mies am Illinois Institute of Technology (IIT), das sie mit 36 Jahren abschloss. 1979 gründete sie eines der fortan weltweit bedeutendsten Architekturmuseen, das Canadian Centre for Architecture (CCA) in Montréal. Sie arbeitete als Kuratorin, Museumsdirektorin, Architektin und hält im CCA noch immer die entscheidenden Fäden in der Hand.
Nach 30 Jahren bereits ein Denkmal
Wir sollten darüber froh sein, dass die Autorin sich so viel Zeit gelassen hat. Über die Hälfte des Buchs handelt davon, was sich ereignete, nachdem das Seagram Building fertiggestellt war und reicht bis in die heutige Zeit hinein. Es ist eine romanhaft-große Erzählung vom Aufstieg und Niedergang selbstbewussten Unternehmertums. Nie lief das Whisky-Geschäft so gut wie in den Jahren, als Mies die Firmenzentrale baute. 1979 verkaufte das Unternehmen sein Hochhaus an einen Pensionsfonds, der auf Initiative von Phyllis Lambert mit strengen Auflagen zum originalgetreuen Erhalt verpflichtet wurde. 1989 erfolgte die Eintragung als Denkmal, im Jahr 2000 wurde das Gebäude abermals verkauft. Weite Teile der Inneneinrichtung blieben auf der Strecke, nur das „Four Seasons“ ist noch immer als Gesamtkunstwerk vorhanden, zu dem auch ein Bühnenvorhang von Pablo Picasso zählt. Im „Grill Room“ gegenüber der Bar hatte Philip Johnson bis zu seinem Tod im Jahr 2005 einen exklusiv für ihn reservierten Tisch. Das Lebenswerk von Phyllis Lamberts Vater war zu diesem Zeitpunkt bereits längst in anonymen Aktiengesellschaften ohne jedes Traditionsbewusstsein ertränkt.
Noch sind Luftrechte zu vergeben
Für den heutigen Besitzer ist das Hochhaus nicht zuletzt deswegen interessant, weil Seagram und Mies die „Luftrechte“ über dem New Yorker Straßenblock an der Park Avenue bei weitem nicht ausgeschöpft hatten. Kurz nach der Fertigstellung im Jahr 1959 stellte die städtische Steuerbehörde die Frage, wieso Seagram 36 Millionen Dollar für ein Hochhaus bezahlt, das aufgrund der Nicht-Auslastung des Baugrunds aber nur Mieteinnahmen erzeugt, die dem eines 17,8 Millionen Dollar teuren Gebäudes entsprechen. Es kam zu Prozessen, die das Unternehmen alle verlor. Seagram wurde dafür bestraft, so wenig Fläche bebaut und die Plaza den Bürgern der Stadt als Geschenk gemacht zu haben! Mittlerweile lassen sich „Luftrechte“ innerhalb eines Block übertragen und die Stadt New York hat nach dem Vorbild des Seagram Buildings ihre Vorschriften geändert. Investoren, die einen öffentlichen Raum schaffen, dürfen die Grundstücke höher als zulässig bebauen. Bisher haben nur die Wirtschaftskrisen der vergangenen Jahre verhindert, dass durch die „Air Rights“ des Seagram-Hochhauses auf dessen Rückseite ein alles überragender Nachbar heranwächst.
„Building Seagram“
von Phyllis Lambert
306 Seiten, gebunden, zahlreiche Abbildungen, Text in Englisch
Yale University Press, 2013
EUR 47,70
Rechts: Der Wandvorhang von Pablo Picasso im Four Seasons Restaurant. Foto: Ezra Stoller, 1959 © Esto
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