Im ersten Raum des Pavillons Brasiliens werden auf großformatigen Fotos die bekannten Bauten Oscar Niemeyers gezeigt. Auch wenn er die Erscheinung einer ganzen Stadt prägte, begreift er sich nicht als Städtebauer. Den Plan von Brasilia hatte Lucio Costa gezeichnet, doch demonstriert auch Niemeyers Regierungszentrum eine Einheit von Architektur und Städtebau. Mit dem Bau dieser kompromisslos modernen Stadt schien vor fünfzig Jahren der Beweis erbracht, dass die große Utopie der Architekten im 20. Jahrhundert - die Neuerfindung der Stadt - realisierbar ist. Rückblickend erscheint das Konzept einer geordneten Stadt eher als historisches Zeugnis des Fortschrittsglaubens denn als eine Lösung der aktuellen Entwicklung der unaufhaltsam voranschreitenden Urbanisierung.
Brasilia als Anti-Stadt
Mit zunehmendem historischen Abstand zeichnete sich die Einzigartigkeit dieser Stadtneugründung immer deutlicher ab. Während sogar die allgemeine Kritik an der modernen Architektur Brasilia ins Visier nahm, und während heutzutage die Durchmischung der Funktionen sowie Urbanität durch Dichte gelehrt werden, wurden die weiten Freiflächen im Zentrum Brasilias zum Synonym für eine Anti-Stadt. Andererseits führte das dramatische Anwachsen der Metropolen zu Megacities speziell in Brasilien zu enormen Problemen, denen die Stadtplaner lange Zeit wie eine Art Feuerwehr im Einsatz hinterherliefen. Diese relevanten Zusammenhänge werden in der Ausstellung leider nicht thematisiert. Stattdessen werden Bauten als isolierte Objekte präsentiert.
Dies entspricht Niemeyers eigener Ohnmacht gegenüber dem städtischen Wildwuchs, den er als Resultat des ausbeuterischen kapitalistischen Systems betrachtet. Während er den Glauben an ein regulierendes Eingreifen aufgegeben hat, zeigt sich die Großzügigkeit seiner freien Gesten immer deutlicher als ein spezifischer Ausdruck eines historischen Moments. Nachdem sich spätere Architektengenerationen mit bemerkenswerten Resultaten bemüht haben, aus seinem langen Schatten herauszutreten, zeigt die Ausstellung, wie andersartig die gegenwärtigen Bauaufgaben sind. Trotz einer etwas willkürlich erscheinenden Auswahl von Architekten - Biselli/Katchborian, Bucci, Corsi/Hirano, Boldarini und Penna - ist noch immer ein gestalterischer Einfluss von Niemeyer ablesbar.
Währenddessen bleibt dieser seinem Stil treu und zeichnet weiterhin mit geschwungenen Linien Solitäre, die sich erkennbar vom urbanen Durcheinander abheben. Ein Geheimnis seines langen Lebens wie der Lebensdauer seiner Bauten ist sicherlich, dass er ein Einpersonenbüro betreibt. Sobald er ein prägnantes Bild gefunden hat, gibt er seine Zeichnungen ab und überlässt es anderen, sich mit den Problemen des Bauprozesses und des Kostenrahmens herumzuschlagen. Sogar bei dieser wenig inspirierten Ausstellungsgestaltung ruft Niemeyers fortdauernde Produktivität - fünf Bauten hat er in den letzten acht Jahren entworfen - Staunen hervor.
Architektur als Ort der Kommunikation
Wie ein Gegenmodell zur Objektfixierung zeigt Kazuyo Sejima in der Hauptausstellung der Biennale Arbeiten von Lina Bo Bardi (1914 bis 1992). Anhand sorgfältig ausgewählter Zeichnungen der in Brasilien wirkenden Architektin sowie eines riesigen Modells ihres Kulturzentrums Pompéia wird eine Position vermittelt, die Räume insbesondere als Orte der Kommunikation auffasst. So wird ihr Museum in Sao Paulo, eine gigantische Brückenkonstruktion, auf einem Foto dargestellt, das eine Menschenansammlung zeigt. Da das Bauwerk einen öffentlichen Freiraum überspannt, tritt es auf der Abbildung lediglich als ein Rahmen für Aktivitäten in Erscheinung und bekräftigt damit abermals das Thema der Biennale: people meet in architecture.
http://labiennale.org
In unserer Serie zur Architekturbiennale sind bislang erschienen:
› Oliver Elser über die zentrale Ausstellung der Biennale-Leiterin Kazuyo Sejima
› Dirk Meyhöfer über „Sehnsucht" im deutschen Pavillon
› Sandra Hofmeister über urbane Freiräume und Leerstand in den Pavillons von Frankreich und den Niederlanden
› Annette Tietenberg über den britischen Pavillon, in den eine Schule des Sehens Einzug gehalten hat
› Carsten Krohn über das Ende der "signature architecture" und den Beginn einer Atmosphärenproduktion
› Dirk Meyhöfer über die Gefühlslagen auf dem Weg zur Reanimierung der russischen Industriestadt Vyshny Volochok
› Claus Käpplinger über die Länderpavillons außerhalb der Giardini und der Arsenale
› Axel Simon über den japanischen Pavillon und Tokio als metabolistische Stadt voller Puppenhäuser
› Annette Tietenberg über den Pavillon Bahrains, der mit einem Goldenen Löwen für den besten Länderbeitrag ausgezeichnet wurde
› Axel Simon über die Inszenierung von Zukunftsvisionen
› Claus Käpplinger über Brückenbau in der Schweiz