Berlin sei als Stadt dazu verdammt, „immerfort zu werden und niemals zu sein" - so hat es vor genau hundert Jahren der Kulturkritiker Karl Scheffler in seinem Buch „Berlin - ein Stadtschicksal" formuliert. Der oft zitierte Satz, vom Autor mit Blick auf die Vergangenheit und seine Gegenwart geschrieben, erweist sich als geradezu prophetisch. Keine andere westliche Metropole ist innerhalb des letzten Jahrhunderts so häufigen und radikalen (bau)politischen, ideologischen und ästhetischen Umbrüchen ausgesetzt gewesen wie die deutsche Hauptstadt. Keine andere Stadt wurde in ihrer Struktur und in ihrer Anmutung so oft in Frage gestellt, umgeplant und zumindest in Teilen neu erfunden.
Das gilt insbesondere für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, der die stärkste Zäsur der Stadtentwicklung markiert. Die physische Zerstörung der alten Stadt - die nicht allein den Kriegsereignissen, sondern auch der Abrisswut der folgenden Dekaden geschuldet war - lud damals zu grundsätzlichen Neuplanungen ein und machte Berlin zu einem Experimentierfeld für ebenso visionäre wie utopische Stadtkonzepte. Durch international ausgeschriebene Wettbewerbe und baupolitische Großereignisse wie die Interbau in den fünfziger Jahren und die IBA in den achtziger Jahren gelang es der Stadt, vermehrt auch bedeutende ausländische Architekten zu Planungen für Berlin anzuregen. Das erklärt, weshalb wohl kaum eine andere Weltstadt eine derart umfang- und facettenreiche Planungsgeschichte aufzuweisen hat wie Berlin. Naturgemäß - und in den meisten Fällen muss man sagen: glücklicherweise! - ist nur ein Bruchteil von all diesen Planungen, Konzepten und Einzelentwürfen umgesetzt worden.
Mit dem großen Rest, mit den zahllosen nicht realisierten Projekten für Berlin beschäftigt sich jetzt eine originelle Ausstellung. Unter dem Titel „Das ungebaute Berlin" präsentiert sie genau hundert zwischen 1907 und 1997 entstandene Arbeiten, die in der Regel von renommierten Architekten aus dem In- und Ausland stammen. Carsten Krohn, Initiator und Kurator des Projektes, gelang eine spannende Auswahl, die sowohl einschlägig bekannte als auch längst vergessene Projekte umfasst. Während etwa Mies van der Rohes Hochhaus Friedrichstraße aus den frühen zwanziger Jahren - der wohl bekannteste und wirkungsmächtigste nicht realisierte Bau der Moderne - oder Albert Speers grauenerregende „Germania"-Planung mit seiner zentralen Nord-Süd-Achse von 1941 selbst dem interessierten Laienpublikum vertraut sein dürften, sind viele andere Entwürfe allenfalls noch Spezialisten präsent. Wer weiß beispielsweise noch von Hannes Meyers Planungen für die Arbeiterbank des ADGB südlich der Fischerinsel von 1929? Und wer erinnert sich an die Vorschläge von Max Bill beziehungsweise von Renzo Piano für eine Erweiterung der Neuen Nationalgalerie aus den Jahr 1981? Es sind solche Fundstücke und Wiederentdeckungen, die die Beschäftigung mit dem ungebauten Berlin ungemein lohnend machen, auch wenn man die These Krohns, dass die „Kenntnis der imaginierten, der unsichtbaren Stadt... für das Verständnis der gebauten Stadt notwendig" sei, vielleicht nicht uneingeschränkt gelten lassen will.
Die Ausstellung selbst, die in der legendären Party-Location Café Moskau zu sehen ist - das sich zwar als ungewöhnlicher, aber nicht unproblematischer Präsentationsort entpuppt - dokumentiert die Projekte teils mit Plänen und Zeichnungen, teils mit neu geschaffenen Modellen und teils mittels Beamer-Projektionen. Die Informationen zu einzelnen Arbeiten bleiben angesichts der Fülle der vorgestellten Entwürfe bisweilen etwas dürftig. Auch für die Kategorien, unter denen einen Teil der Projekte gezeigt wird, fehlt die Erklärung. Kurz, um nicht nur ein Fachpublikum anzusprechen, hätte hier etwas mehr an Ausstellungsdidaktik nicht geschadet. Die Hintergrundinformation, die man in den Ausstellungsräumen vermisst, bietet freilich der voluminöse und sehr lesenswerte Ausstellungskatalog, in dem die hundert Projekte von ebenso vielen Autoren kompetent beschrieben, historisch eingeordnet und kommentiert werden.
Das ungebaute Berlin
vom 16. Juli bis 15. August 2010
Café Moskau, Karl-Marx-Allee 34, Berlin
www.dasungebauteberlin.de
Ausstellungskatalog Das ungebaute Berlin
Herausgegeben von Carsten Krohn
328 Seiten, über 300 Abbildungen, Softcover, deutsch, 48 Euro
www.dom-publishers.com