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Nicht nur Grillo hatte Zukunft
von Thomas Edelmann
17.05.2016

Das Design der Nachkriegszeit kommt in die Jahre. Vor 100 Jahren, am 14. Mai 1916, wurde Marco Zanuso in Mailand geboren. Er ist eine der Gründerfiguren des italienischen Designs nach 1945. In ihrem „Design Lexikon Italien“ bezeichnet ihn Claudia Neumann als einen der „Gründungsväter des Italienischen Industriedesigns“, eine Formulierung, die in Italien einige Verbreitung fand.

Als Architekt, der auf Industriebauten spezialisiert war, aber auch eine große Zahl von Wohn- und Privathäusern schuf, ist Zanuso diesseits der Alpen ebenso aus dem Gedächtnis verschwunden wie als Industrial Designer der Pionierzeit des italienischen Wirtschaftswunders. Einerseits zeigt dies, wie sehr Design heute nur noch als Phänomen ästhetischer Differenzierung betrachtet wird, losgelöst von den Bedingungen seiner Produktion. So können wir es längst nicht mehr in Bezug auf die Industrie verstehen, die es herstellt und unter die Leute bringt. Selbst die Materialität, auf der es beruht, und der Gebrauch, für den es konzipiert ist, erscheinen uns im Grunde zweitrangig. Obwohl wir weder aktuelle Smartphones mit dem heimischen 3-D-Drucker fabrizieren, noch andere Gebrauchsgegenstände, interessiert uns – über Marke und Marketing hinaus –nicht mehr wie Dinge gedacht wurden, welchen Zwecken sie dienen sollten. Doch das Vermögen ästhetisch zu differenzieren, beruht auf Geschichte und ihrer Kenntnis und Interpretation. Marco Zanuso hätte uns da einiges zu bieten, würden wir uns an ihn erinnern wollen. So befand er, was Design und Architektur betrifft, müssten keine „Wünsche beim Publikum geweckt werden, solange Bedürfnisse“ bestünden, die noch nicht berücksichtigt sind.

Vergriffene Erinnerung

Marco Zanuso wiederzuentdecken ist einerseits ganz leicht: Noch immer sind viele seiner Entwürfe auf dem Markt, werden angeboten von A wie Alessi bis Z wie Zanotta. Andererseits ist Akribie gefragt und „Wissbegierde“, die Zanuso sich als persönliches Merkmal attestierte, um über den Mailänder Architekten, der auch Designer war, etwas herauszubekommen. Zunächst einmal sollte man ihn nicht mit seinem Neffen Marco Zanuso jr. verwechseln, der erst 1954 in Mailand geboren wurde und zeitweise im Büro des Onkels an Architektur- und Designprojekten mitarbeitete. Monografien über den Architekten gibt es, doch sie erschienen meist ausschließlich auf Italienisch und sind längst vergriffen. Das gilt auch für die beiden jüngsten Veröffentlichungen zu Zanusos Werk, die erst 2013 bei Silvana herauskamen. Beide verdanken sich der Mailänder Architektenkammer und ihrer Präsidentin Daniella Volpi, die bei Zanuso studiert hat. Selbst antiquarisch kann man diese jüngsten Werke kaum noch bekommen.
Das Büchlein, „MZ Progetto Interato“ begleitete eine Ausstellung der Architektenkammer, die Zanusos Designprojekten gewidmet war. Der umfangreichere, von Roberta Grignolo edierte Band enthält Marco Zanusos Schriften, die im Kontext seiner Projekte für Architektur und Design entstanden. Gillo Dorfles’ Darstellung des Designers Zanuso erschien 1971 und kann daher allenfalls als Zwischenbilanz des Œurvres gelten. Umso wichtiger sind die kluge, materialreiche und anschauliche Monografie von François Burkhardt, die 1994 bei Motta erschien und die bislang umfangreichste, die Manolo De Giorgi bei Skira anlässlich einer Zanuso-Ausstellung der Triennale 1999 herausbrachte. So ist der Architekt und Designer Marco Zanuso auch 15 Jahre nach seinem Tod 2001 für viele überhaupt erst noch zu entdecken.

Anfänge im Umkreis der Rationalisten

Als fünftes von sechs Kindern eines Arztes wurde er in Mailand geboren. Am Politechnico studierte er von 1934 an. Schon während des Studiums nahm er mit Kommilitonen an Wettbewerben teil, etwa, wenn es um die Neuordnung des Domplatzes ging. Dort, wo seit 1936 der faschistisch auftrumpfende Repräsentationsbau des Palazzo dell’Arengario seines Lehrers Portaluppi entstand, schlugen Zanuso und seine vier Mitstreiter 1938 ein geschlossenes kubisches Gebilde vor, mit einem vorangestelltem Glasquader als Eingang. 1939 schloss Zanuso sein Studium ab und kam früh in Kontakt mit dem Mailänder Büro B.B.P.R. (Banfi, di Belgiojoso, Peressutti und Rogers), für das er ebenso arbeitete wie für Giuseppe Terragni. Auch zu den Zeitschriftenmachern, dem „Domus“-Gründer Giò Ponti sowie zu Giuseppe Pagano, damals Chefredakteur von „Casabella“, knüpfte er früh Bande. Als von 1943 an die deutsche Wehrmacht und faschistische Milizen besonders brutal gegen jede Art von Widerstand vorgingen, gerieten viele Mailänder Vertreter des gestalterischen Rationalismus durch Widerspruchsgeist und die Hilfe für Verfolgte selbst in Lebensgefahr. Pagano und Banfi starben kurz vor Kriegsende im KZ Mauthausen-Gusen. Im Umfeld dieser engagierten Architekten erlebte Zanuso seine ersten Berufsjahre.
Schon 1942 fragte ihn „Domus (neben den Architekten von B.B.P.R. und Carlo Mollino), wie er sich sein ideales Haus vorstelle. Zanuso konzipierte einen „Nucleus“, ein wachsendes Haus, das veränderten Bedürfnissen durch gemächliche Erweiterung entsprechen kann. Als Ernesto N. Rogers aus dem Schweizer Exil nach Mailand zurückkam und die Leitung von „Domus“ und später von „Casabella“ übernahm, macht er Marco Zanuso zu seinem Assistenten. Dort stellt er bald eigene Visionen vor. Etwa ein schmales, langgestrecktes Wohnhaus, das sich an ligurische Terrassengärten anfügt.

Auf einen freieren Lebensstil zugeschnitten

Im Jahr 1949 tritt Zanuso erstmals als Gestalter eines Alltagsgegenstands in Erscheinung. Mit dem Prototyp eines zerlegbaren Sessels nimmt er am internationalen Wettbewerb des New Yorker Museum of Modern Art teil, der sich dem Entwurf preiswerter Möbel widmet. Die meisten Einsendungen kamen damals aus Deutschland. In seine zerlegbare Röhrenkonstruktion spannt er ein Tuch ein, seitlich mit Dreiecken gegen das Verrutschen der zwei beweglichen Polster gesichert; am oberen Rohrende lässt sich eine Leseleuchte einstecken. Bilder des Prototyps erinnern uns heute an Projekte von Matali Crasset und an Produkte des großen schwedischen Möbelhauses, das damals noch in den Anfängen steckte. Was er machte, war auf einen „freieren und dynamischen Lebenstil“ zugeschnitten, berichtet Zanuso François Burkhardt, „immer bereit zur Veränderung, für den zeitweisen Aufenthalt“ und daher zerlegbar und in seinen Teilen erneuerbar.
Jahrzehnte später entwickelt Zanuso seinen Sessel weiter, passt ihn Repräsentationsbedürfnissen an. 1972 bringt er ihn modifiziert und – dem Zeitgeist entsprechend mit Leder und verchromten Rohren veredelt – als Modell „Maggiolina“ neu heraus. Noch heute eignet er sich als kompakte Alternative zum Eames „Lounge Chair“ oder der Perriand/Le Corbusier-„Chaiselounge“.

Ideen für Schaumstoff

Im Design prägen Erfindungen das Werk von Marco Zanuso und tragen damals international zu seiner Bekanntheit bei. Material, Form, Herstellungsverfahren: Wenigstens eine dieser Größen, oft eine Kombination aus mehreren, ist bestimmend für seine Neuerungen. Da ist die Firma Pirelli, die mit ihren elastischen Bändern und Schaumgummi ideales Ausgangsmaterial für die Fertigung flexibler Möbel besaß. So gründete Pirelli 1947 eigens die Möbelfirma Arflex. Marco Zanuso entwarf die ersten Produkte, die 1951 auf der Mailänder Triennale ausgestellt und mit einer Goldmedaille geehrt wurden. Liegen und Klappsessel der ersten Kollektion sind vergessen, da sie mit ihren sichtbaren flexiblen Bändern stark an Campingmöbel erinnern. Als erstes Stück entstand der Sessel „Antropus“ (1949), dessen Seitenteile, Sitz, Rücken und Struktur weitgehend unabhängig voneinander „industrialisiert“ gefertigt werden konnten.

Der Sessel „Lady“ (1951) ist eine Weiterentwicklung dieses Prinzips. Zusammen mit dem Modell „Woodline“ (1964) hat Cassina die drei Sitzmöbel im Rahmen der „I Maestri“-Kollektion neu aufgelegt. Wem diese Möbel zu sehr nach „miracolo economico“ aussehen, den Formen einer wirtschaftswunderlichen Organik, der mag sich für andere Schaffensphasen Zanusos mehr begeistern. Sein umfassendes Werk kann man immer wieder auch als Teamarbeit begreifen. Er war nicht nur Anreger im eigenen Architektur- und Designbüro, sondern wurde im Laufe der Zeit auch zu einem Interessenvertreter, der sich an der Gründung des italienischen Designerverbandes ADI ebenso beteiligte wie an der Konzeption und Durchführung des bis heute renommierten Wettbewerbs „Compasso d’oro“. Auch bei der einflussreichen Triennale spielte Zanuso immer wieder maßgebliche Rollen. Etwa bei der X. Triennale 1954, als er mit Carlo di Carli und Lucio Fontana zum Kuratorenteam gehörte. Damals stand die Veranstaltung unter dem Motto einer „Einheit der Künste“, wozu aus Sicht der Macher Architektur ebenso selbstverständlich wie Handwerk und dekorative Gestaltung gehörten. Gut 500 Kilometer nördlich, in Ulm, versuchten gleichzeitig die Gründer der HfG Ulm deren erstem Rektor Max Bill auszureden, dass er eine Kunsthochschule leitet. Oder, um es mit Otl Aicher zu sagen: In Ulm wird zu dieser Zeit „kunst als design-irritierend verstanden“.

Lehrer und Inspirator

Nicht nur in der Zusammenarbeit mit Fontana ein für Zanuso fremder Gedanke. Auch er nimmt als Hochschullehrer zwischen 1961 und 1991 Einfluss auf das Designverständnis seiner Zeit. Renzo Piano assistierte ihm. Etliche Designer, wie zuletzt etwa Patricia Urquiola, berufen sich auf seine Lehre des Industrial Design. Zu seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Büro gehören Cini Boeri, Aldo Rossi und Luca Meda. Die längste Zusammenarbeit was die Architektur angeht, verband Zanuso mit Pietro Crescini.
Im Design dagegen wurde der 16 Jahre jüngere Richard Sapper (1932 bis 2016) zu einem partnerschaftlichen Freund. Zwischen 1959 und 1977 arbeitete Sapper bei Zanuso. Viele bekannte Gegenstände schufen beide gemeinsam. „Wir wissen alle“, erinnerte sich Zanuso 1993 an diese Zeit, „dass Diskussionen sehr produktiv sein können. Denn da passiert nichts anderes, als dass unterschiedliche Sichtweisen zusammentreffen. So haben wir gemeinsam gearbeitet“. Bis heute werden beider Credits in Italien und Deutschland mitunter etwas einseitig ausgelegt. Erst kürzlich wurden in der 1000. Ausgabe der „Domus“ gemeinsame Projekte allein Zanuso zugeschrieben. Hier dagegen wird Sapper gelegentlich als deren Hauptautor gesehen. Zudem betrieben beide auch während der Zeit ihrer Zusammenarbeit jeweils eigene Designprojekte.

Erfinder künftiger Typologien

Mit dem Klapptelefon „Grillo“ schufen Zanuso und Sapper für Siemens Italia ein Kommunikationsgerät, das aus dem Entwurfsjahr 1965 weit in die Zukunft weist. Es ist typisch für den Gestaltwandel vieler gemeinsamer Früchte der beiden Designer. „Grillo“ liegt als handschmeichelnde, leicht gewölbter Gegenstand zusammengeklappt auf dem Tisch, bevor man ihn benutzt. Ergreift man das Telefon, klappt der kleinere, untere Teil mit dem integrierten Mikrofon nach unten und gibt die im Hörer integrierte Wählscheibe frei. Allein die Reduktion des Volumens gegenüber herkömmlichen Telefonapparaten war ein riesiger Schritt. Im Grunde ist mit „Grillo“ die Typologie späterer Tasten- und Schnurlostelefone bereits entwickelt. Nur die Technik und die Bedürfnisse der Nutzer mussten noch nachziehen.
Viele weitere innovative Projekte folgten, etwa der erste, ganz aus Kunststoff hergestellte Stuhl, das Modell K1340 für Kartell aus dem Jahr 1964. Aufgrund struktureller Notwendigkeiten wurde das Kindermöbel zum vielseitig verwendbaren Spielobjekt das, wie Zanuso schrieb, „die Phantasie des Kindes stimulierte in der Konstruktion von Burgen, Türmen, Zügen und Rutschbahnen“. Denn, um stabil zu sein, hatte der Stuhl Verbindungselemente, die ihn in einen modularen Baukasten verwandelten.

Mit der Arbeit für die von Giuseppe Brion gegründeten Firma Brionvega schrieben Zanuso und Sapper ein eigenes Kapitel des Designs der Unterhaltungselektronik. Wenn das Design von Apple heute mit Braun-Produkten in Verbindung gebracht wird, dann ist vielfach auch der Vergleich mit Fernsehern und Radios von Brionvega angebracht. Zanuso entwirft zudem die Fabrik für Brionvega in Caselle d’Asolo, die zwischen 1963 und 1968 entsteht. Tischartige Betonstrukturen unterschiedlicher Höhe verbindet Zanuso mit umlaufender Verglasung. Seinen Ruf als Fabrikarchitekt hatte er sich mit großen Werksanlagen für Olivetti in Brasilien (1959) und Argentinien (1962) erworben.

Radio- und Fernseh-Ikonen

Der in rotes Leinen gebundene Brionvega-Katalog des Jahres 1965 zeigt noch zahlreiche konventionelle Radios und Fernseher. Später wird Ennio Brion, der Sohn des Firmengründers, das Programm deutlicher in Richtung jenes „Good Design“ ausrichten, das auch Zanuso propagiert. Zu den wichtigsten Projekten von Zanuso und Sapper gehören die Fernseher „Doney“ (1962), „Algol“ (1964) und „Black“ (1969) sowie das Radio „TS 502“.
Mit „Doney“ minimierten die Designer das bis dato übliche schrankartige TV-Gehäuse, indem sie die technischen Bauteile neu anordneten und dicht an die Bildröhre schoben. Zu Werbezwecken gab es „Doney“ auch mit transparentem Gehäuse. Der erste „iMac“ gleicht diesem Modell. Nachdem „Doney“ bereits transportabel war, mobilisierten die Designer mit „Algol“ das Fernsehen zusätzlich. Die kleinere Bildröhre richteten sie im farbigen Kunststoffgehäuse mit leichter Neigung nach oben aus: Das ideale Gerät für alle, die in den Sixties auf dem Boden liegend Fernsehen wollten. Zudem sicherte ein großes Akkupaket die Nutzung abseits der Steckdose.
Kurz darauf machen die Gestalter mit „Black“ das Medium zur Botschaft. „Black“ ist ein rätselhaftes dunkles Etwas, ein beinahe erhabenes Objekt. Jedenfalls solange niemand die Glotze einschaltet. Erst dann wird sichtbar, wofür dieser skulpturale Gegenstand gemacht ist.
Das Radio „TS 502“ bringt Lautsprecher und Empfangsteil in zwei separaten Kuben unter, die mit einem Scharnier verbunden sind. Klappt man beide Teile zusammen, verschwinden Regler und Lautsprecher geschützt im Gehäuse mit abgerundeten Kanten. Auch der Tragegriff und die Antenne können – eine Herausforderung für die damalige Fertigungstechnik – flächenbündig versenkt werden. Die Fernsehapparate wie das Radiogerät haben die beiden Gestalter weiterentwickelt. Der ikonische Charakter dieser Geräte ist so groß, dass sie selbst den mehrfachen Verkauf von Brionvega überlebten. Bis auf „Black“ sind sie noch heute erhältlich. Dank verändertem technischen Innenleben halten sie via Bluetooth, USB und WLAN Anschluss zur Gegenwart.

Design tritt zurück

Im Jahr 1993 mit 77 Jahren erklärte Zanuso, Design sei etwas „für junge Leute“, er begreife es mittlerweile eher als „Ergänzung für meine Architektur“. Von Brutalismus bis Regionalismus bietet sein Bauen viele herausragende Beispiele. Etwa die Ferienhäuser auf Sizilien (1962 - 1964), die aus der Landschaft zu wachsen scheinen; kleine spartanische Gehäuse, gruppiert um einen gemeinsamen Innenhof, den eine Baststruktur vor zu viel Sonne schützt. Oder die Farm für den südafrikanischen Handelstycoon und Philanthropen Sydney Press in Lydenburg (1975), die sich heute im Besitz eines Kollektivs seiner früheren Mitarbeiter befindet. Oder die Theaterbauten für Girogio Strehler, mit denen er in seiner Heimatstadt Mailand „ein Zeichen setzen wollte“. Dass das Piccolo Teatro, eine „fabbrica dello spettacolo“, bereits 1979 geplant, erst 1998 nach Strehlers Tod und ohne den Architekten eröffnet wurde, machte Zanuso melancholisch. Politische Intrigen um fehlende Genehmigungen, ästhetische Geschmacksurteile und die Verquickung des Projekts mit der Tangetopoli-Korruptionsaffäre belasteten seinen Ruhm. Das 1999 eingeweihte Stadttheater in Bozen für deutsches und italienisches Sprechtheater ist das letzte Werk, das Zanuso realisieren konnte. Am 11. Juli 2001 starb er in seinem Mailänder Haus.

www.cassina.com
www.brionvega.it
www.zanotta.it
www.alessi.it
www.kartell.com