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Digital: "Hortensia" von Andrés Reisinger

Experiment mit neuen Welten

Virtuelle Werke in Kunst, Design und Architektur haben in den letzten Monaten dank dem Aufkommen der NFTs (Non-Fungible Tokens) eine immense Aufmerksamkeit erfahren – und mit Blick auf Wert und Nachhaltigkeit stark polarisiert. Designer Andrés Reisinger setzt aktuell mit Moooi auf einen Mittelweg.
von Anna Moldenhauer | 14.05.2021

Die Möglichkeit, digitale Werke mit einem Copyright zu versehen, das transparent Informationen zur Urheberin oder dem Urheber sowie über den Verkaufsprozess gibt, gewährt Kreativen aktuell die Möglichkeit, ein digitales Original zu erstellen, das ihnen jederzeit klar zugeordnet werden kann – selbst wenn dieses vielfach kopiert wird. Zudem bieten NFTs die Option, auch ohne Mittler gegen eine Gebühr auf virtuellen Plattformen mit den Werken zu handeln um neue Zielgruppen zu erschließen, oder prozentuale Anteile an den Arbeiten verkaufen. Die Summen, die in Kryptowährungen für die digitalen Originale erzielt wurden, waren bisher immens – sei es das "NFT digital house" von Krista Kim für umgerechnet 512.000 Dollar, eine Collage von Beeple wechselte für 69.346.250 Dollar den Besitzer, die surreale Möbelkollektion "The Shipping" von Andrés Reisinger erreichte 450.000 Dollar. Omer Arbel bot zudem kürzlich das DIY-Rezept für die Herstellung des filigranen Kerzenprotoyps 64.0 als NFT für umgerechnet etwa 198 Dollar in limitierter Auflage an. KünstlerInnen und DesignerInnen wie Omer Arbel oder Alexis Christodoulou experimentieren aktuell auch mit zeitbasierten programmierbaren Assets – digitalen Bildern, die sich im Laufe der Zeit verändern.

Der Handel mit NFTs polarisiert – die Meinungen über Sinn und Wert der digitalen Werke gehen je nach Perspektive stark auseinander. Auch sind viele Fragen zu den Themen Recht, Datenschutz und Sicherheit noch ungeklärt. Darüber hinaus verbraucht die Infrastruktur der NFTs und Kryptowährungen momentan hohe Mengen Energie, ebenso wie die Transaktionen zeitintensiv sind. Designer Andrés Reisinger suchte einen Mittelweg und erstellte unter dem Titel "The Shipping" zehn digitale Entwürfe, von denen vier analog produziert wurden. Der Sessel "Hortensia" aus der digitalen Kollektion wurde so als limitierte Edition in Zusammenarbeit mit der Textildesignerin Júlia Esqué realisiert und gehört in Kürze zum Sortiment von Moooi. Seine Perspektive auf die Diskussion um Chance und Schaden im Zuge der Entwicklung der NFTs erklärt uns Reisinger im Interview.

Anna Moldenhauer: Andrés, du hast dich entschlossen, einige deiner digitalen Designs analog produzieren zu lassen, wie gemeinsam mit der Textildesignerin Júlia Esqué den Sessel "Hortensia". Nachdem ihr eine limitierte Edition erstellt habt, wird dieser nun in Kürze zum Sortiment von Moooi gehören. Inwieweit musste das 3D-Rendering für die Massenproduktion angepasst werden?

Andrés Reisinger: Das hängt von der Komplexität des Designs ab, im Fall des Sessels "Hortensia" lag die Herausforderung in der Polsterung. Wir haben von Beginn an mit Júlia Esqué zusammengearbeitet, einer Produktdesignerin mit textilem Schwerpunkt, und gemeinsam dieses Projekt aus der digitalen in die physische Welt gebracht. Die limitierte Auflage von "Hortensia" wurde vollständig von lokalen KunsthandwerkerInnen hergestellt: Wir haben diese von der Prototypenphase bis zum Endergebnis angeleitet. Die Struktur wurde aus Holz gefertigt, der Überzug besteht aus geformtem Schaumstoff. Schließlich entwickelten wir ein spezifisches Textilsystem, das komplett von Hand gepolstert wurde. Die Basis der Version für Moooi besteht aus Stahl und eingespritztem Schaumstoff, was nur bei einer Großserienproduktion eingesetzt werden kann. Moooi nutzte das gleiche textile System für die Polsterung, verwendete aber eigene Stoffe. Natürlich unterscheiden sich die lokale Produktion und die industrielle Fertigung voneinander und beide haben ihre Vor- und Nachteile.

Spielen nachhaltige Materialien in diesem Prozess für dich eine Rolle?

Andrés Reisinger: Natürlich spielen nachhaltige Materialien eine Rolle. Allerdings möchte ich auch mit meiner Herangehensweise die Reihenfolge von Nachfrage und Angebot umdrehen. Das bekannte Modell basiert darauf, große Mengen eines Produkts zu produzieren, diese zu lagern und dann die Nachfrage danach zu forcieren. Die Umkehrung der Denkweise und die Konzentration auf die tatsächliche Nachfrage könnte die Produktion optimieren.

Empfindest du es nicht als Abwertung des analogen Handwerks, dass im Zuge des aktuellen Hypes hohe Summen für virtuelle Werke erzielt werden können?

Andrés Reisinger: Ich glaube, dass die analoge Handwerkskunst unabhängig davon weiter existieren wird und gute HandwerkerInnen immer gefragt sein werden. Es gibt einen Konsens unter ZukunftsforscherInnen, dass die Menschheit die Metaverse, die digitale Zwischenwelt, als eine Form der Flucht nutzen wird und das Analoge sich auflöst. Meine Vision ist eher eine Alternative dazu: Anstatt zu koexistieren, sollten die beiden Welten singulär werden, das Physische und das Digitale könnten zu einer Einheit verschmelzen.

NFTs stehen derzeit in der Kritik, sehr viel Energie zu verbrauchen, wie ist deine Meinung dazu?

Andrés Reisinger: Die Berechnung des CO2-Fußabdrucks auf Basis der Transaktionsanzahl missversteht grundlegend, wie das System Ethereum funktioniert. Die ökologische Belastung, die NFTs Prozesse erzeugen, ist unbedeutend im Vergleich zu den Schäden, die das derzeitige Bankensystem an der Umwelt verursacht. Jedes Argument hierzu basiert auf einer oberflächlichen Wahrnehmung der Art und Weise, wie diese Prozesse ablaufen. Vor ein paar Wochen fand ein wichtiger Übergang von POW (Proof of Work) zu POS (Proof of Stake) in einer der großen NFTs-Plattformen statt. POS ist die Lösung für dezentralisierte Transaktionen, mit fast null ökologischen Kosten.

Was wird von der aktuellen Vermischung aus digitaler und analoger Produktion deiner Meinung nach übrigbleiben, wenn der Hype um NFTs vorbei ist?

Andrés Reisinger: Objekte, die gut gemacht sind: mit Liebe, Sorgfalt und Zeit. Mit einem durchdachten Konzept und hochqualifizierten HandwerkerInnen. Ob digital oder physisch, das spielt keine Rolle.

Analog: "Hortensia" von Andrés Reisinger und Júlia Esqué für Moooi