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Cabinette

STYLEPARK SIGEL
Zusammen arbeiten

Als 2005 in San Francisco die Coworking-Idee erfunden wurde, entwickelten sich die digitalen Nomaden zur Avantgarde einer neuen Arbeitswelt. 15 Jahre später boomt das flexible Büro, gerade in Zeiten einer globalen Pandemie.
von Jeanette Kunsmann | 05.10.2020

"In zehn Jahren nennen wir es nicht mehr Coworking, wir nennen es Arbeit", meint Tobias Kremkau, Head of Coworking im legendären St. Oberholz. Dass sich diese Prognose tatsächlich bewahrheiten könnte, hat sich im Zuge der Corona-Pandemie offenbart. Immer mehr Angestellte wissen die Vorteile des flexiblen Arbeitens zu schätzen und erproben neue Routinen: der Mensch bleibt ein Gewohnheitstier, Gewohnheiten verändern sich. Coworking verzeichnet in den letzten Jahren ein enormes Wachstum und hat sich in verschiedenen Facetten weltweit etabliert. 2005 als Begriff vom amerikanischem Programmierer Bradley Neuberg in San Francisco geprägt, definiert sich Coworking als gemeinsame Nutzung klassischer Bürostrukturen mit Highspeed-Internet, Drucker, Briefkasten und Kaffee: über allem steht die Community. Das Konzept geht nämlich weit über eine physische Verortung hinaus und betont besonders den Wert der Gemeinschaft. Kollaboration, Offenheit, Nachhaltigkeit, Gemeinschaft und Zugänglichkeit zählt das Coworking-Manifest als seine elementare Werte auf. Einen Ort für alle zu öffnen, ist für Ansgar Oberholz und Tobias Kremkau immer der Schlüssel dafür, dass ein Standort als Angebot für alle angenommen wird. "Coworking ist eine Kultur des Miteinanders, deshalb funktioniert es per se überall", sagt Kremkau.

Von der Avantgarde zum Trend

Man findet Coworking heute in Groß- und Kleinstadt, auf dem Land und an den Hauptbahnhöfen von der Deutschen Bahn. Es gibt Angebote für Angestellte und Freiberufler sowie Serviced Coworking für Mitarbeiter von großen und von kleinen Unternehmen. Die Avantgarde ist zum Trend, der Trend zum Mainstream geworden – mit individuellen Konzepten für jede Zielgruppe. Auf eine maßgeschneiderte, inspirierende Gestaltung für sogenanntes "Corporate Coworking" hat sich Design Offices spezialisiert, und bietet mit rund 40 Standorten in 15 Städten ein deutschlandweites Angebot in diesem Feld. Die 2010 gegründete Mega-Marke WeWork richtet sich an Global Player wie Microsoft, Facebook oder Samsung und betreibt mittlerweile mehr als 800 Standorte weltweit, davon zehn Serviced Coworking-Spaces in Berlin. Analog zum Fitnessstudio adressieren spezielle Angebote ausschließlich an Frauen, wie die amerikanische Coworking-Kette The Wing. Ins Leben gerufen wurde The Wing im Jahr 2016 als zeitgemäßer Frauenclub von den New Yorkerinnen Lauren Kassan und Audrey Gelman. Seitdem expandierten sie das Modell, sahen sich aber auch immer wieder mit Vorwürfen von Diskriminierung und Rassismus konfrontiert. Seit März 2020 erfinden sie das Konzept laut ihrer Webseite neu. Womit The Wing zu einem der wenigen Strauchler im Coworking-Bereich zählen dürfte.

Denn die Nachfrage wächst rasant. Basis für den Coworking-Boom bilden das Mantra von Flexibilität und Effizienz. Laut einer Befragung des Forschungscenters Betriebliche Immobilienwirtschaft der TU Darmstadt passen lange Vertragsbindungen und festgelegte Bürogrößen überhaupt nicht mehr zu den aktuellen Anforderungen von Büronutzern und Unternehmen. Als Nutzer der Coworking Spaces identifiziert die Studie zunehmend größere Unternehmen, insbesondere aus den Bereichen Consulting und IT, die sich neben Freelancern und Start-ups in Coworking-Arbeitsflächen zuhause fühlen. Die Betreiber profitieren oft von einer guten Erreichbarkeit und können über variable Vertragslaufzeiten sowie die Ausgestaltung von halboffenen Layouts den Erfolg ihrer Spaces steuern. Und Investoren generieren über eine Beimischung von flexiblen Büroflächen einen Mehrwert für ihre gesamte Immobilie.

Fosbury & Sons Alfons

Arbeit neu gedacht

Seit Covid-19 stehen in der Arbeitswelt alle Zeichen unumstößlich auf Wandel und Veränderung. Mit Coworking, Homeoffice und Workation verortet sich Arbeit nicht nur neu, sondern wird auch neu gedacht. Die Pandemie gilt als Verstärker von Entwicklungen, die sich schon längst abzeichnet haben – auch wenn manchmal nur ganz leise. Und so wie die Vorzüge des Homeoffice von vielen entdeckt werden konnte, erfährt die Coworking-Idee ebenfalls einen neuen Boom. Gerade weil das Konzept so flexibel ist, erleichtert es Unternehmen und ihren Mitarbeiter, die Möglichkeiten auszuprobieren und für einen Zeitraum von Monaten, Wochen oder tageweise zu testen – begleitet von der Erkenntnis: Arbeit kann auch anders sein.

Ein weiterer Vorteil flexibler Arbeitsorte ist ihre enorme Anpassungsfähigkeit. Die Vorgaben der SARS-CoV-2-Arbeitsschutzregeln für den Coronaschutz am Arbeitsplatz mit einem Sicherheitsabstand von mindestens 1,50 Meter zwischen zwei Arbeitsplätzen lassen sich im Coworking leicht umsetzen. Zutritt und Registrierung erfolgen per App, die Mitglieder achten auf regelmäßiges Lüften und Handhygiene. Nur die Gemeinschaftsküche wurde im Lockdown zur Tabu-Zone. Viele Coworking-Flächen haben ihre Kapazitäten zwar eingeschränkt, aber nicht geschlossen – so auch die belgische Linie Fosbury & Sons von Serge Hannecart, Stijn Geeraets und Maarten Van Gool. An ihren stilvollen Standorten in Brüssel, Antwerpen und Amsterdam, die sie seit 2016 ausbauen, wurde festen Mitgliedern jederzeit der Zugang zum Coworking gewährt. Auch hier nutzen vor allem Unternehmen das Coworking als Local-Hub für ihre Angestellten, erzählt CEO Maarten Van Gool. Weil die Büroflächen entsprechend entdichtet wurden, mussten sie ihr Interieur-Konzept kaum ändern, im Gegenteil. Fosbury & Sons-Nutzer schätzen gerade jetzt die gemütliche Atmosphäre des Zusammenseins – den "lobby vibe", wie Van Gool konkretisiert. "Auch wenn die Menschen nicht eng beieinandersitzen können, haben sie trotzdem das Bedürfnis, mit anderen Menschen zusammen zu sein." Um produktiv zu arbeiten wollen sich die Mitglieder verbunden fühlen, sonst bleiben sie im Homeoffice. Raumgreifende Verkehrsflächen machen es möglich.

Cabinette
Cabinette
Cabinette

Filmkulisse in Valencia

Wie Coworking sich in Zeiten von Covid-19 völlig neu positionieren kann, beweist ein unkonventionelles, passioniertes Beispiel aus Valencia. Erst im Mai 2020 eröffnet, erfreut sich Cabinette in La Fuensanta einer hohen Nachfrage. Stereotypen und Clichées sind hier nicht gestattet, denn "sexy, lux and fun" lautet die Devise, was sich im Interieur widerspiegelt. 2019 vom spanischen Studio Masquespacio entwickelt, wurde Cabinette als inspirierender Ort voller Energie in einem retrofuturistischen Look mit silbernen Vorhängen und Wandfarben in Violett und Schokoladenbraun gestaltet, der als visuelle Zeitmaschine die späten Sechziger- und Siebzigerjahre mit dem Heute verbindet. Das Designerduo Ana Milena Hernández Palacios und Christophe Penasse aus Valencia hat den 200 Quadratmeter großen Coworking Space nicht mit klassischem Büromobiliar eingerichtet, sondern greift auf eigene Entwürfe zurück: Die Masquespacio-Stuhlmodelle Déjà-Vu und Arco sorgen zusammen mit den Wink Leuchten für einen ironischen Kontrapunkt zur Monotonie steriler Arbeitswelten, während die strenge Anordnung der eisblauen Schreibtische an die Bürokabinette aus Jacques Tati`s Playtime angelehnt ist. "Der Raum muss emotional sein, damit sich die Mitarbeiter inspirieren lassen und sich im Raum wohl fühlen können", ist Christophe Penasse überzeugt. Sollte Cabinette ursprünglich vor dem Lockdown im Februar eröffnen, konnten die Designer ihr Konzept updaten. Implementierte Trennwände isolieren die Arbeitsplätze und schaffen geschützte Bereiche. Mit Cabinette übersetzen Palacios und Penasse das Coworking-Konzept in eine unverwechselbare, kunstvolle Kulisse, die bestimmt bald Nachahmer findet.

Fosbury & Sons Boitsfort
Fosbury & Sons Boitsfort
Fosbury & Sons Boitsfort

Coworking im Dschungel

Als "Biophilic Design" beschreiben die spanischen Architekten SelgasCano ihr Entwurfskonzept für die kollektiven Arbeitslandschaften von Second Home, bei der die Natur im Mittelpunkt steht. Die beiden Kreativunternehmer Sam Aldenton und Rohan Silva eröffneten 2014 das erste Second Home in London Spitalfields, weitere folgten in Lissabon und Los Angeles. "Die Leute haben nach dem Lockdown erkannt, dass sie wirklich von überall aus arbeiten können", lautet das Feedback aus dem Mercado da Ribeira, den Selgas Cano 2017 in ein Second Home verwandelt haben.

Auch die aktuelle Dependance in Hollywood von Selgas Cano wächst und gedeiht: Über 6.500 Bäume und Pflanzen wurden in dem Coworking-Garten gepflanzt, die Architektur gleicht der vorigen Second Home-Orte in Lissabon, London und Los Angeles. "Wir haben Glück – die Hälfte des Second Home Hollywood befindet sich im Freien. Unsere Büros sind alle freistehende Pods mit Frischluft, die direkt von außen eingepumpt wird", berichtet Geschäftsführer Rohan Silva. Die Luftfilter seien im Gegensatz zu denen der sonstigen Bürogebäude für Krankenhäuser geeignet und weil der Campus flach ist, kommen sie ohne Aufzüge aus. "Sogar unsere Schreibtische bestehen aus Corian – einem Material, das vorwiegend in Krankenhäusern verwendet wird, da es nicht porös ist und daher einfach hygienisch sauber zu halten ist." Weil die Basis stimmt, mussten im Second-Home Hollywood keine "healthy features" nachgerüstet werden, der Ort selbst sei eben ein "healthy campus". So kam es, dass hier mit der Covid-19 Pandemie ein Dutzend neue Unternehmen als Mieter mit etwa 100 neuen Mitgliedern eingezogen sind. Für Silva die beste Bestätigung dafür, dass sich die Investition gelohnt hat.

Second Home Coworking

Pioniere der Neuen Arbeit

"Covid 19 ist der Sturm, der die Welt der WissensarbeiterInnen durcheinanderwirbelt. Coworking sitzt im Auge des Sturms", meint Ansgar Oberholz, der mit seinem Team tagtäglich aufs Neue darüber nachdenkt, wie man Arbeit für ein besseres und erfüllteres Leben wirksamer gestalten kann. Seiner Ansicht nach, werden die Flexibilisierung von Flächen und das Aktivieren von Orten eine ganz neue Bedeutung erlangen, die Nische verlassen und zu einem großen Thema für die Arbeitswelt im Ganzen werden. "Arbeit findet völlig dezentral und vernetzt statt", sagt Oberholz, seine Vision: "Leistung wird nicht anhand von Zeit, sondern an Ergebnissen gemessen." Mit dem ersten Standort am Rosenthaler Platz hat er 2005 einen Grundstein gelegt. Neben weiteren Coworking-Standorten in Berlin expandierte das St. Oberholz 2018 nach Frankfurt-Oder und eröffnet im Herbst 2020 eine Dependance im Potsdamer Stadtteil Babelsberg. Beide Erweiterungen beleben leerstehende, denkmalgeschützte Funktionsbauten der Ostmoderne mit zukunftsorientierten Konzepten. Gerade finden die letzten Handgriffe im Innenausbau der Alten Post in Babelsberg statt. Weil der Bau des Architekten Wolfgang Müller seit 2009 unter Denkmalschutz steht, ist das Berliner Modiste Design Studio für den Ausbau des Coffee und Lobby Bereiches im engen Dialog mit der Denkmalbehörde. Den Ausbau der Coworking Flächen betreut parallel die Architektin Astrid Pankrath.

In der deutsch-polnischen Grenzstadt Frankfurt-Oder hat sich das St. Oberholz mit seinem BLOK O bereits als guter Nachbar etabliert. Das zugrundeliegende Konzept klingt nach einem ungewöhnlichen Experiment: Es kombiniert Bankfiliale, Café und Coworking, so dass hier alle, auch die Bankangestellten, ohne festen Schreibtisch zusammenarbeiten. Initiiert wurde das Projekt durch eine Kooperation mit der Sparda-Bank Berlin. Es funktioniere, weil es sich um eine genossenschaftliche und regionale Bank handele, deren Werte mit denen des Coworking übereinstimmen, meint Tobias Kremkau, der BLOK O als Projektleiter von der ersten Idee bis zur Eröffnung begleitet hat. "Die Bank ordnet sich dem Coworking-Prinzip unter", zitiert er den Sparda Bank Berlin-Vorstand. Neben Studierenden, die sich hier auf ihre Prüfungen vorbereiten, mieten sich vor allem mittelständische Unternehmen ein, die neu nach Frankfurt gezogen sind. Denn es gebe zwar viel gewerblichen Leerstand, aber der sei in einem desolaten Zustand, erzählt Kremkau. "Wir haben eigentlich für wirtschaftliches Wachstum gesorgt." Mittlerweile gibt es in der Stadt einen zweiten Coworking Space, weitere folgen. Für die Pioniere geht es so weiter, wie vor 15 Jahren alles angefangen hatte. "Der Standort am Rosenthaler Platz in Berlin stand zwei Jahre leer, niemand wollte dort 2005 etwas machen. In dem Gründerzeit-Haus war nach der Wende der erste Burger King auf dem Gebiet der ehemaligen DDR, der wieder ausziehen musste. Das coole Berlin schlug am Hackeschen Markt auf. Wir sind hingegangen, wo keiner sein wollte."

Ob flexibles Provisorium, elegantes Wohnzimmer, urbane Lounge im Dschungel oder Kreativ-Hub mit bester Büroausstattung: 15 Jahre Coworking zeigen, dass die neuen Orte kreativer Arbeit längst auch allgemeine Arbeitsprozesse beeinflussen.

BLOK O