Neue Britische Welle
Wo steht eigentlich geschrieben, eine Stadt müsse ihren Fluss lieben? Lissabon zum Beispiel hätte gute Gründe, den Tejo zu hassen. Oder ist es nachtragend, ihm immer noch den Tsunami vorzuwerfen, der dem verheerenden Erdbeben von 1755 folgte, der etwa zwei Drittel der Stadt zerstörte und wohl 50.000 Lissabonnern das Leben kostete? König Joseph I., der den Tag der Katastrophe zufällig im Grünen verbracht hatte, entwickelte nach der Katastrophe eine unkontrollierbare Angst davor, in festen Wänden zu leben und ließ sich als neuen Herrschersitz eine Zeltstadt in den Hügeln von Ajuda errichten. Viele Generationen lang fürchteten die Portugiesen ihren Fluss. Die Monsterwelle könnte ja wiederkommen.
Es sollte über 200 Jahre dauern, bis die Stadt sich diesem Fluss vorsichtig wieder annähern würde, den sie zuvor nur mit schlechten Wohnvierteln und schäbigen Hafenanlagen umgeben hatte, aber auch mit einigen besonders schönen Brücken, die allerdings auf besonders hohen Füßen stehen, als würden sie einen maximalen Abstand zu seinen Wassern wahren wollen. Erst die Expo 1998 war ein deutliches Signal, die verkommenen und untergenutzten Industrieanlagen am Flussufer wieder zu einem Schwerpunkt der Stadtentwicklung zu machen, ein Ausrufezeichen hinter den vielen, kleineren Bemühungen, die schon zuvor „Zurück zum Fluss“ gerufen hatten.
Wiederbelebung der Uferzone
Anfang Oktober wurde nun ein weiterer Schritt in Richtung einer Revitalisierung der Tejo-Ufer eröffnet: der neue Erweiterungsbau des MAAT, des „Museums for Art, Architecture and Technology“, entworfen von der britischen Architektin Amanda Levete. Es liegt ein gutes Stück vom immer noch sehr beliebten Expo-Gelände entfernt im Stadtteil Belem, den auch Touristen besuchen, wegen des Königspalasts von 1559, seines gewaltigen Kulturzentrums von 1993 und wegen der tatsächlich sensationellen Puddingtörtchen, die hier angeblich erfunden wurden und seit mehr als 150 Jahren sehr erfolgreich verkauft werden.
Belém war vom Erdbeben des Jahres 1755 weitgehend verschont geblieben, ist jedoch vom Flussufer ebenfalls weitgehend getrennt. Dafür sorgen eine vielbefahrene Eisenbahnstrecke und eine noch viel befahrenere, vierspurige Schnellstraße. Nur hier und dort führt ein dunkler Fußgängertunnel oder ein schmales Brückchen auf die jeweils andere Seite.
Die Lissabonner scheinen begeistert zu sein vom neuen Angebot am Flussufer. An einem milden, sonnigen 5. Oktober, dem Nationalfeiertag und dem Tag der feierlichen MAAT-Eröffnung, nutzten mehr als 22.000 Besucher den kostenlosen Eintritt, um sich selbst ein Bild des neuen Hauses zu machen, was sofort als neuer Rekord gefeiert wurde.
Bauen in schwieriger Lage
Dabei steht der Neubau tatsächlich an einer schwierigen Stelle. Im Rücken hat es Bahnstrecke und Schnellstraße, vor sich die öffentliche Promenade und den Fluss, direkt daneben steht das alte Heizkraftwerk – ein blitzschöner, historischer Industriebau aus schwerem Backstein, Stahlträgern und großen Fensterbändern, der von 1908 bis 1951 immer wieder erweitert wurde und dadurch wie ein Baulexikon Elemente von der Art Nouveau bis zum Klassizismus vorführt. Das Gebäude war eines der zentralen Kraftwerke Lissabons, bis es 1990 stillgelegt und zunächst zum Elektrizitätsmuseum umgebaut wurde. Es gehörte zum Besitz des Energieunternehmens EDP, das im Rahmen der Entschuldung und auf Druck der EU 2011 privatisiert wurde. EDP hatte schon zuvor eine gemeinnützige Stiftung gegründet, die das Museum betreibt und nun auch den 20 Millionen teuren Neubau finanziert hat.
Gewünscht: ein neues Wahrzeichen
Als 2010 der internationale Architekturwettbewerb für den Erweiterungsbau ausgeschrieben wurde, war der Auftrag klar: Am Tejo-Ufer sollte ein neues Wahrzeichen entstehen, ein ikonisches Gebäude wie das Guggenheim-Museum in Bilbao oder die Tate Modern in London, auch wenn das Raumprogramm in Lissabon deutlich bescheidener war. Für die Rückkehr der Stadt an den Fluss, einerseits, aber sicher auch für die EDP und ihre Stiftung als sichtbares Zeichen, schließlich haben sie sich von einem staatlichen Unternehmen inzwischen - und mit chinesischer Beteiligung – zu einem der finanzkräftigsten Akteure nicht nur in Portugals Kulturszene gemausert. Diese Aufgabe, mit kleinem Raumprogramm und schmalem Budget ein Wahrzeichen zu drechseln, meisterte der Entwurf von Amanda Levete am überzeugendsten. Sie biegt die Uferpromenade in die Höhe wie eine Seeschlange, positioniert die Schokoladenseite eindeutig und ausschließlich zum Wasser. Die Rückseite zur Straße, zur Stadt hin, ist eine pragmatische Anlieferzone mit Parkplätzen und einigen sehr schlichten Türen und Toren.
Die geschwungene Seite zum Fluss hingegen glänzt mit einer Fassade aus 15.000 dreidimensional geformten Keramikfliesen, die als Neuinterpretation der portugiesischen Tradition der Azulejos gelesen werden soll. Gleichzeitig formt das Gebäudedach mit seinem sanften Schwung einen neuen, jederzeit öffentlich zugänglichen Teil der Uferpromenade - wie ein künstlicher Hügel am Wasser. So entsteht über dem Eingang ein geschwungener Stadtbalkon mit einer grandiosen Aussicht auf die „Brücke des 25. April“ und die Christo Rei-Statue am anderen Ufer. Während der Eröffnung wurden hier schon wie wahnsinnig Fotos und Selfies geschossen, Kinder wurden aus dem Weg geschubst, um ein noch besseres Selbstporträt machen zu können.
Hier lebt die Signature-Architecture
Nicht erst seit Zaha Hadids überraschendem Tod ist derzeit ja oft zu hören, die Signature-Architecture a la Bilbao sei mausetot. Wäre dem so, müsste Amanda Levetes Gebäude wie aus der Zeit gefallen wirken. Das tut es aber keineswegs. Levete selbst ist der beste Beweis für das Weiterexistieren einer zur Extravaganz oder gar zur Exzentrik neigenden Architektur. Die Britin hat die Star-Architektur sozusagen mit der Muttermilch eingesogen, hat erst bei Will Alsop, dann bei Richard Rogers gearbeitet, bevor sie 1989 als Partnerin bei Future Systems einstieg und dort bis zu Jan Kaplickýs Tod 2009 blieb. Den Namen Future Systems legte sie danach selbstbewusst ab, um ihr eigenes Büro zu gründen, mit dem sie die Form- und Materialsprache von Future Systems durchaus fortführt.
Gleichwohl hat ihr Bau in Lissabon mit ähnlichen Problemen zu kämpfen wie viele Entwürfe von Hadid, Calatrava oder Gehry: Um die gewünschten fließenden Formen zu bauen, ist ein relativ großer Aufwand nötig, der dann meist zu Lasten der Details und vor allem der Qualität der Innenräume geht. Das ist auch im MAAT zu sehen. Hat man die im satten portugiesischen Licht schimmernde Fassade mit ihren 15.000 dreidimensional geformten Kacheln hinter sich gelassen, findet man sich in einem dunklen, relativ schlichten, wenn auch aufwendig geformten Gebäude wieder, dessen Ausführung im besten Falle kostengünstig ist. Man muss nur mal den Blick zur Decke über dem ovalen Hauptraum wenden oder sich Einbauten, Fußboden und Wände im Foyer genauer anschauen.
Glitzernde Fassade, dunkle Räume
Da die komplette Dachfläche begehbar oder begrünt ist, fällt Tageslicht nur über eine kleine Glaswand am Eingang ins Gebäude. Ein fröhliches Diagramm der Architekten zeigt, dass das Sonnenlicht eigentlich über die Oberfläche des Flusses und die reflektierenden Kacheln zweifach gespiegelt und dann ins Innere „transportiert“ werden soll, wovon zumindest während der Eröffnung nichts zu sehen ist. Tritt man aus dem hellen Sonnenschein ins Foyer, wirkt der Innenraum zappenduster. Von dort führt ein gebogener Weg als Galerie zunächst um den Hauptausstellungsraum herum und dann über eine breite Treppe hinab. Das ist die „Oval Gallery“, etwa 1.200 Quadratmeter groß. Sie sitzt wie ein Auge mittig im Grundriss. Das funktioniert soweit ganz gut, besonders weil die französische Künstlerin Dominique Gonzalez-Foerster dort zur Eröffnung eine eigens für diesen Raum entwickelte, sehr unterhaltsame Installation eingebaut hat: „Pynchon Park“ soll ein von Außerirdischen eingerichtetes Gehege oder Laboratorium darstellen, in dem menschliches Verhalten untersucht wird. Besucher dürfen sich zeitweise in den durch ein Netz abgesperrten Hauptraum einschließen lassen, um mit großen Plastikbällen und einer Art Turnmatte zu spielen. Das lässt sich von der erhöhten Position auf der Galerie aus bestens beobachten, fotografieren und filmen – irgendwie scheint inzwischen alles darauf ausgerichtet zu sein, dass sich Menschen heutzutage besonders gerne fotografieren wollen.
Runde Räume
Die drei anderen Ausstellungsräume leiden jedoch unter den Krümmungen dieses zentralen Raumes. Die „Main Gallery“ bietet zwar weitere 1.000 Quadratmeter Fläche, hat aber keine gerade Wand. Auch der dreieckige „Project Room“ ist durchgehend gekrümmt; der „Video Room“ besitzt immerhin eine relativ plane Projektionsfläche. Vielleicht braucht man dies auch nicht im neuen MAAT, weil die historischen Räume im Altbau ja ausgesprochen rechteckig sind. Vielleicht ergänzen sich die Gegensätze in der Praxis auch bestens, was sich erweisen wird, wenn der neue Museumsdirektor Gadanho dauerhaft ein so individuell auf sein Haus zugeschnittenes, hochklassiges Programm hinbekommt wie zur Eröffnung.
Das Gebäude selbst ist ja noch nicht fertig, wie seine Architektin zur Eröffnung mehrfach betonte. Ihm fehlt noch die neue Fußgängerbrücke, die das Museum direkt mit der Stadt verbinden wird. Diese soll im Frühjahr 2017 fertig sein und sie wird dem Gebäude mehr als eine Kleinigkeit hinzufügen, da der Fußweg, der nun über das Gebäude führt, sich dann noch einmal in Richtung Stadt verzweigen wird. Darüber hinaus wird bereits ein „Campus“ geplant, der weitere Gebäude von Alejandro Aravena, Aires Mateus sowie ein Restaurant von Philippe Starck umfassen soll. Wie das alles aussehen soll, wird allerdings leider noch nicht verraten.
Erst einmal aber sitzt man am Flussufer, wo nun direkt vor dem Haupteingang hohe Sitzstufen bis zum Wasser hinabführen und eine der raren Gelegenheiten in Lissabon bieten, auf dieser Flussseite die Beine ins Wasser baumeln zu lassen. Zwar zieht man die Beine dann doch rasch wieder zurück, weil im Wasser spektakuläre Quallen schwimmen, aber die öffentlichen Räume rings um das Gebäude sind tatsächlich die große Stärke dieses Entwurfs: Der Balkon oben auf dem Gebäude und die Stufen vor ihm formen Plätze von besonderer Qualität. Von hier aus schaut man den vorüberfahrenden Booten zu, auf denen Menschen stehen, die das Gebäude fotografieren – oder sich selbst. Und neben einem sitzen Menschen, die wiederum die Boote fotografieren oder sich mühsam verrenken, so dass auf den Selfies noch eine Ecke der spektakulär gekrümmten, schimmernden Fassade des MAAT zu sehen ist. Das Schimmern verdankt sie übrigens einem speziellen Ilmenit-Zusatz in den Fliesen, der das Licht bricht. Ob die Menschen wissen, dass diese 15.000 Fliesen, die doch an die große portugiesische Tradition der Azulejos erinnern sollen, in Spanien produziert werden mussten, weil im wirtschaftlich immer noch schwachen Portugal keine Firma dafür gefunden werden konnte? Wir leben in seltsamen, immerhin aber fotogenen Zeiten.