„Prototyp. Bitte nicht berühren.“ Dies oder Ähnliches ist bei so manchen, neu vorgestellten Produkten zu lesen. Andere Objekte sind vorsorglich gleich außerhalb der Reichweite des Betrachters aufgestellt, etwa auf Podesten oder unter Acrylglashauben. Einen ersten visuellen Eindruck sollen die Modelle vermitteln, einem Funktionstest könnten sie meist noch nicht standhalten. Die Wahl des richtigen Moments, um ein neues Produkt zu präsentieren, ist eine Wissenschaft für sich. So scheiden sich die Geister, ob man ein Produkt schon als Prototyp präsentieren oder lieber warten sollte, bis die ersten Serienmodelle verfügbar sind. Im Gespräch mit Mitarbeitern von Möbelherstellern stößt man bei diesem Thema auf unterschiedliche Einschätzungen, die mal sachlich, gelegentlich mit leisem Bedauern und dann wieder enthusiastisch vorgetragen werden. Der Mittelweg scheint darin zu bestehen, ein Produkt in dem Moment zu präsentieren, wenn die Entwicklungsarbeit nahezu abgeschlossen und der Produktionsstart absehbar ist – in der Hoffnung, dass kein Teufel im Detail steckt. Beim diesjährigen Mailänder Salone del Mobile war auf Nachfrage meist die Prognose zu hören, die neuen Produkte sollten im kommenden Sommer oder Herbst, also ein Viertel bis ein halbes Jahr nach Mailand, lieferbar sein. Diese Auskunft mag jedoch mit noch so viel Überzeugung ausgesprochen werden, bis ein Produkt tatsächlich lieferbar ist, sind meist noch viele Probleme zu lösen.
Wie weckt man Interesse?
Der Druck, regelmäßig mehrere Neuheiten präsentieren zu müssen, ist in der Möbelbranche lange nicht so groß wie in der Modewelt, gleichwohl auch hier allgegenwärtig. Wann ein Produkt erstmals präsentiert wird, ergibt sich als Antwort auf eine Reihe von Fragen: Welche Haltung möchte das Unternehmen vermitteln? Wie weckt man ernsthaftes Interesse und wie schafft man es, in den Medien präsent zu sein? Welche Produkte sind kommerziell wichtig? Soll vor größeren Investitionen die Resonanz eines Produkts auf dem Markt getestet werden? Lassen sich die benötigten Tools für Marketing, Presse und Vertrieb rechtzeitig herstellen? Wie hoch ist der firmeninterne Druck, etwas Neues herausbringen zu müssen? Die Risiken einer verfrühten Produktpräsentation liegen auf der Hand: Wenn es ein durchschnittlicher Entwurf ist, flaut das Interesse ab, ehe damit Umsätze gemacht wurden; wenn es ein gutes Produkt ist, wird es schneller kopiert.
Das „offene“ Unternehmen
Die Idee zu „Biknit“ beispielsweise entstand erst einen Monat vor dem diesjährigen Salone. Trotzdem entschieden sich Patricia Urquiola und Moroso dazu, die Liege auf der anstehenden Möbelmesse nicht nur zu zeigen, sondern ihr noch dazu einen besonders prominenten Platz direkt am Standeingang zu geben. Karmelina Martina, die verantwortliche Produktentwicklerin, spricht sich ausdrücklich und mit einem gewinnenden Lächeln für die Präsentation von Produkten in der Entwicklungsphase aus. Sie vertritt die Idee eines „offenen“ Unternehmens. Jeder solle sehen, was im Inneren des Unternehmens geschehe. Sie hofft, dass „Biknit“ in etwa einem Jahr als Produkt den Kunden zum Kauf angeboten werden könne. Im Normalfall dauere die Entwicklung solcher Produkte von einigen Monaten bis zu zwei Jahren. Der Hauptgrund, sagt sie, warum es ein Prototyp gelegentlich nicht auf dem Markt schaffe, sei der Preis. Neben „Biknit“ zeigte Moroso im vorderen Teil des Stands viele weitere Prototypen wie den „Moon Chair“ von Tokujin Yoshioka und den „Impossible Wood Chair“ von Doshi Levien; im hinteren Teil sowie im VIP-Bereich waren die inzwischen verfügbaren Produkte der letzten Jahre zu sehen.
Verhüllte Zukunft
Ein völlig anderes Bild ergab sich auf dem Stand von Nils Holger Moormann. Dort stießen die Besucher auf dunkelbraune Podeste mit Produkten darauf, die vollständig in helle Tücher, die von einem roten Band zusammengehalten wurden, gehüllt waren. Auf Schildchen standen fiktive Designernamen, poetisch anmutende Produktbezeichnungen und Jahreszahlen, die in der Zukunft liegen, etwa „Bankgeheimnis“ von Dr. Urs Monet von 2013. Auf diese Weise möchte man bei Moormann das „Neu! Neu! Neu!“ innerhalb der Möbelbranche und die Gerüchteküche, wer wie viele Neuheiten hat, bewusst konterkarieren. Neben diesem Statement, das mehr an eine Kunstinstallation als an eine Messepräsentation erinnert, gab es auf dem Stand aber auch neue Produkte zu sehen. Im Zentrum stand der – bei der imm cologne ausgezeichnete – „Pressed Chair“ von Harry Thaler. Obwohl man es bei Moormann vorzieht, bereits bestellbare Produkte zu präsentieren, ist es in diesem Fall – dem Herstellungsverfahren geschuldet – ein Prototyp, der von September 2011 an als Serienprodukt verfügbar sein soll. Um die Zeit bis dahin zu überbrücken, gibt es eigens entworfene „Obligationsscheine“, mit denen Händler vorab ihr Interesse verbindlich bekunden können.
Jetzt sehen, später kaufen
Eine Liste mit den Prototypen der diesjährigen Möbelmesse würde sich vermutlich über einige Seiten ziehen, stellvertretend seien in Kürze einige weitere Beispiele genannt: Vom „Knot Chair“ von Tatsuo Kuroda für Normann Copenhagen existiert bisher nur ein vom Designer handgemachtes Exemplar; die serielle Variante soll im kommenden Jahr auf den Markt kommen, leichte Anpassungen im Entwurf vorbehalten. „The Invisibles“ von Tokujin Yoshioka für Kartell, eine Serie von Stühlen, Bänken und Tischen aus einem transparenten Technopolymer-Kunststoff, wurden erstmals auf dem Salone 2010 präsentiert. Dieses Jahr folgte eine Weiterentwicklung mit geringeren Wandstärken, ab 2012 müsste die Kollektion im Handel verfügbar sein. Die meisten neuen Produkte bei Magis sollen im kommenden Sommer ihren Weg zum Kunden finden, bei der „Troy Family“ von Marcel Wanders – einer Gruppe aus Tischen und Stühlen – könnte sich der Reifungsprozess jedoch auch bis ins kommende Jahr hinziehen. Das Schaukelpferd „Rocker“ von Doshi Levien für Richard Lampert wurde seit der letzten imm Cologne mit formal leicht veränderten Kufen ausgestattet und soll künftig an einer noch zu definierenden Stelle die Designernamen tragen. Auch den Kippstuhl „Tip Ton“ von Barber Osgerby für Vitra gibt es bisher nur als Kleinserie für Messeauftritte und sonstige Präsentationen; er müsste im Herbst in Produktion gehen.
Optimierung bis zur Serienreife
Der diesjährige Salone ist vorbei. Die Prototypen sind zurück in den Entwicklungsabteilungen und Werkstätten. Jetzt ist es an den Herstellern, die während der Messe gewonnenen Einsichten auszuwerten und die Entwürfe bis zur Serienreife zu entwickeln. Manche Produkte werden wie geplant auf dem Markt erscheinen; andere Projekte müssen funktional, formal oder technisch optimiert werden: Vielleicht arbeitet man noch an der Farbpalette oder den Oberflächen, dem Namen, den Produktbildern oder der Story. Einige Entwürfe haben sich zwischenzeitlich als Makulatur erwiesen und werden nie wieder zu sehen sein. Ein Blick in die Kataloge und Preislisten von 2012 wird die aktuellen Ankündigungen und Spekulationen zur Gewissheit reifen lassen.