Heldengeschichten mit Brüchen
Als eine bekannte ZDF-Moderatorin einmal gefragt wurde, weshalb Design als Gegenstand der Berichterstattung im Fernsehen kaum ein Thema sei, antwortete sie: „Das ist ganz einfach: Es zappelt zu wenig.“ Fernsehdokumentationen über Design hat es immer wieder gegeben. Doch meist „versendete“ sich rasch, was mit großem Aufwand begann. Das gilt für die Magazinreihe „design 360°“, die CNN einst ausstrahlte, ebenso wie für die Objekt-Dokumentationen auf Arte, die mittlerweile als preiswerte Konserve, als Lückenfüller im Programm dienen. Zuletzt sorgte der amerikanische Dokumentarist Gary Hustwit international mit Design- und Architekturfilmen für Aufsehen. Bekannt wurde Hustwit mit Werken über die Schrift „Helvetica“ (2007), oder „Objectified“ (2009), eine historischen Momentaufnahme des Produktdesigns in Zeiten der Globalisierung. Mittlerweile setzt er stärker auf monografische Darstellungen. So ist eine Dokumentation zu Leben und Werk von Dieter Rams in Vorbereitung. Huswit nutzt eine Mischung von lokalen Präsentationen, Kickstarter-Finanzierung und Online-Vertrieb für seine Produkte.
Selbst historisches Material wird wieder zugänglich: So hat FSB, der Hersteller von Klinken, Tür- und Fensterbeschlägen kürzlich einige Filme von Peter Schubert digitalisiert, die hauptsächlich während der 1980er Jahre der Gründungs- und Wirkungsgeschichte der Hochschule für Gestaltung in Ulm nachspürten. Die Filme des HfG-Absolventen werden als DVD-Edition und in lokalen Vorführungen präsentiert.
Selbst anspruchsvolle Dokumentationen, von öffentlich-rechtlichen Sendern gern in Randzeiten und Spartensender verbannt, erfreuen sich Dank der Konkurrenz durch Streaming-Dienste inzwischen steigender Beliebtheit. Nun hat der international tätige Streaming-Dienst Netflix mit „Abstract“ die erste Staffel einer Dokumentationsserie produziert, die persönliche Porträts mit Geschichten um die Entstehung von Design verbindet. Zunächst acht Persönlichkeiten werden vorgestellt, wobei Leben, Werk und innerer Antrieb im Fokus stehen. Alle Protagonisten der ersten Staffel sind hauptsächlich in ihrer jeweiligen Fachszene weltberühmt, vom Autodesigner, der Innenarchitektin über den Illustrator, die Bühnendesignerin, die Grafikdesignerin, den Fotografen, den Architekten, bis zum Sneaker-Designer. Dreh- und Angelpunkt der jeweils circa 40 Minuten langen Folgen ist New York. Regisseure und Produzenten der Serie bieten visuell anregende Überraschungen auf, etwa bei Illustrationen oder Bühnenbildern, die sich von der Fläche plötzlich in den filmischen Raum ausdehnen. Ohne große definitorische Anstrengungen stellen die Beiträge einzeln und in Summe dar, was heute Design ist. Dabei geht es um Erlebnisse, Traditionen, Gefühlszustände, die mittels Gestaltung geprägt, verändert oder neu arrangiert werden. Demgegenüber rücken Marken oder Produkte, die seriell hergestellt werden, in den Hintergrund.
Den bisherigen Versuchen Design, zu „demystifizieren“, hat die Serie ihre ungeheure Reichweite voraus. Weltweit zählte der Streaming-Dienst Mitte Januar 2017 rund 94 Millionen Nutzer, 49 Millionen davon in den USA, wo Netflix 1998 als DVD-Versand startete. Das Wachstum ist so rasant, dass bis Ende März 99 Millionen Abonnenten erwartet werden, die es gilt, mit frischem Stoff bei der Stange zu halten. Rund 1000 Stunden eigenproduziertes Netflix-Material soll 2017 für Abonnenten verfügbar sein, doppelt soviel wie im Vorjahr. Und zumindest in Deutschland hält sich die erste Staffel von „Abstract“ auf den vorderen Beliebtheitsrängen.
Zu den maßgeblichen Produzenten der Serie gehören Morgan Neville, der 2013 für seine Dokumentation über Background-Sängerinnen „20 Feet from Stardom“ einen Oscar erhielt sowie Designer Scott Dadich, bis vor kurzem Chefredakteur von Wired. Anspruch der Serie ist, „die besten Designer jeder Disziplin“ zu präsentieren. Doch wer sind die? Und wie werden sie ausgewählt? Das bleibt offen, doch die Mischung erscheint anregend und stimmig. So beginnt die Serie mit einer Folge über den Illustrator Christoph Niemann, der in Berlin lebt und unter anderem für den New Yorker arbeitet – seine erste Cover-Illustration für das Magazin erschien am Tag seiner Hochzeit. Im Film, der stets auch persönlichen Aspekten und Antrieben der portraitierten Kreativen nachgeht, wirft Niemann die Frage auf, ob man ihn etwa beim Zähneputzen im Bad zeigen wolle, was er mit einfallsreichen Kontern unterläuft.
Reibt man Jugendlichen am Times Square ein bestimmtes Bild eines älteren Herrn mit Hut unter die Nase, dann rasten sie aus vor Begeisterung: „Oh my god, that’s Tinker Hatfield!“. Kein Wunder, der Mann, dem Episode zwei gewidmet ist, hat nicht nur Machart und Aussehen von Sportschuhen revolutioniert, sondern sie zum Statussymbol einer eigenen Subkultur gemacht. Seinen ersten Kontakten zum Sportlehrer und Nike-Mitgründer Bill Bowerman sowie seiner späteren Zusammenarbeit mit Basketballspieler Michael Jordan, für den er lange im Jahresturnus neue Schuhmodelle entwarf, räumt die Folge breiten Raum ein. Das verbreitete Vorurteil, dass es im Design keine Frauen von internationalem Rang gäbe, wird in drei Folgen gründlich widerlegt. Die britische Stage Designerin Es Devlin, die fürs Theater, für Popstars von Beyoncé über Kanye West bis zu Adele arbeitet, führt in ihre Welt ein. Mit ihren Bühnenentwürfen schafft sie eine neue Art von ästhetischem Gemeinschaftserlebnis, ob in der Shakespeare-Inszenierung oder fürs Popkonzert, die jede herkömmliche Guckkastenästhetik hinter sich lässt.
Obwohl im Grunde Heldengeschichten erzählt werden, lassen die Porträts immer wieder auch Brüche erkennen. Für Autodesigner Ralph Gilles wie für Grafikdesignerin Paula Scher gilt, dass ihre Väter eigentlich nur ein Ingenieur-Studium für ihren Nachwuchs als angemessen erachteten. Überhaupt spielen die Eltern der Kreativen, die gelegentlich zu Wort kommen, eine eigene Rolle in der Serie. Oder Ereignisse, die einen aus der Bahn werfen und die doch einen neuen Weg erst sichtbar machen. Etwa den brutalen Übergriff, den Platon Antoniou als Jugendlicher und Opfer eines ausländerfeindlichen Schlägers schwer verletzt überlebt. „I now know what it is to hurt“, sagt er im Film. Sein Schmerz wird zum Ausgangspunkt für sein außergewöhnliches Einfühlungsvermögen, das seine Arbeit kennzeichnet und ihn zu dem weltberühmten Fotografen Platon macht, der regelmäßig die Titelseite des Time Magazine bespielt.
Es gibt kein Schema der acht Folgen, die mit wechselnden Regisseuren und Teams entstanden. Auch Architekt Bjarke Ingels passt in die Abfolge. Von einer Faszination für Comics her entwirft er neue gestalterische Visionen und Realitäten. Er verdichtet Wohnraum und schafft sichtbare Baukörper im außerurbanen Niemandsland am Rand von Kopenhagen wie mitten in Manhattan. Der Beitrag über ihn wird besonders interessant, sobald seine Eltern über ihn reden oder er über ihr Grundstück streift. Doch auch Kommentare, Ingels sei ein Scharlatan, der viel zu billig baue werden gezeigt, ohne jede Einordnung allerdings, ob es sich dabei um den heute gängigen Shitstorm oder um begründete Kritik handelt.
Die Filmreihe ist, bei einer gewissen Schwankung der Qualität einzelner Folgen, durchgehend empfehlenswert. In Blogs wird bereits diskutiert, dass insbesondere Unternehmer sie sich ansehen sollten. Denn Vorurteile über Design gelten vor allem in ihrem Fall als ausgesprochen hartnäckig.