Reflektierte Nostalgie aus China
Wenn die Berliner Architekturgalerie Aedes die Ausstellung von Neri & Hu damit ankündigt, dass die "chinesische Avantgarde aus Architektur, Forschung und Lehre, Produkt- und Interieurdesign" nun "in Europa angekommen" sei, dann ist das nur ein kleines bisschen übertrieben. Tatsächlich gehört das Büro von Rossana Hu und Lyndon Neri schon länger zu den interessantesten Stimmen aus China. Und tatsächlich sind sie seit ein paar Jahren zunehmend auch in Europa tätig, wo sie aktuell unter anderem ein Restaurant in Paris, ein Hotel in London oder ein Bürohaus in Köln planen. Darüber hinaus sind Neri & Hu aber schon seit der Gründung ihres Büros in Shanghai 2004 immer an allen Maßstäben interessiert gewesen. Und so haben sie in den fast 20 Jahren seitdem nicht nur Um- und Neubauten in allen Größenordnungen entworfen, sondern auch erfolgreich Möbel, Läden und Showrooms gestaltet. Eine klare Handschrift von Neri & Hu gibt es dabei eher nicht, und darauf legen die beiden auch keinen Wert. Was aber verbindet ihre Projekte quer durch alle Aufgabengebiete miteinander? In der Ausstellung versuchen sie, einen roten Faden zu entwickeln.
So steht diese nun unter der Überschrift "Reflective Nostalgia". Den Begriff verwenden Neri & Hu schon länger, sie haben ihn sich von der russisch-amerikanischen Kulturtheoretikerin Svetlana Boym (1959-2015) geborgt. Boym hat sich in ihren Schriften immer wieder mit dem Verhältnis von Moderne und Nostalgie auseinandergesetzt, also dem progressiv Vorwärtsdrängenden und dessen Gegenbewegung, dem konservativen Festhalten und Bewahren. Diese Gedanken von Boym fielen bei Neri & Hu offensichtlich auf fruchtbaren Boden, da sie die beiden Pole auch in ihrer Arbeit sehen. Denn obwohl sie sich selbst eindeutig als Kinder der Moderne und als zeitgenössische Entwerfer definieren, stehen sie vielen Auswirkungen eben dieser Moderne kritisch gegenüber: als Beispiele nennen sie das Verschwinden von lokalen Charakteristika und Unterschieden der Städte durch die Globalisierung. "Abseits der polarisierenden Entwicklungen zwischen technologischem Fortschritt und kitschigem Historismus, welche global aber vor allem im asiatischen Raum die Unterschiede zwischen Städten, die ansonsten kulturell einzigartig und höchst unterschiedlich sind, verschwimmen und riesige Landschaften anonymer, charakterloser Städte entstehen lassen." Gegen eben diese Anonymität richtet sich die Entwurfspraxis von Neri & Hu, die versuchen, Altes und Neues gleichberechtigt miteinander zu vermischen.
Wie das gehen kann, zeigt sich am Besten in den für die Ausstellung ausgewählten Architekturprojekten. Beim Vertical Lane House (2010) setzten sie einem schroffen Bestandsgebäude aus den 1930er-Jahren, ursprünglich von der japanischen Armee errichtet, eine dynamisch gerundete Krone aus Corten-Stahl auf, während sie das Gebäude im Inneren radikal aufschnitten, um Räume für die neue Nutzung als Hotel zu schaffen. Beim Tea House (2021) in Fuzhou fügten sie die Reste eines Holzhauses aus der Qing Dynastie in einen spektakulären Neubau aus Kupferplatten und rot gefärbten Stampfbetonwänden. Und die Whiskeydestillerie, die sie zu Füßen eines der vier heiligen buddhistischen Berge, des Emei Shan, entwarfen, greift mit der lockeren Verteilung einzelner Gebäude traditionelle chinesische Gestaltungsphilosophien auf, die Haus und Landschaft als vielschichtige Einheit betrachten.
Präsentiert werden etwa 30 Projekte, die entweder bereits abgeschlossen oder derzeit in Planung sind. Die meisten davon sind als Architekturmodelle auf einer großen Insel aus Europaletten versammelt, die mittig im Ausstellungsraum steht. An den Wänden ringsum finden sich Fotos zu den Projekten, am Boden Texte zur Erklärung. Außerdem werden Filme gezeigt. Das erfordert von den BesucherInnen eine gewisse Kombinationsgabe, welche Fotos zu welchen Filmen und welchen Modellen gehören. Zudem ist die Abwesenheit von Plänen zu den Projekten ein wenig hinderlich, die Amalgame aus Alt und Neu vollständig zu verstehen. Auch im kleinen Katalog zur Ausstellung findet sich kein einziger Plan. Dafür entsteht im Fluss der Bilder eine anders zusammenhängende Erzählung der gesamten Entwurfsarbeit von Neri & Hu, die sich nicht mehr allzu sehr am einzelnen Projekt aufhält, sondern lieber vom großen Ganzen und der "Reflektierenden Nostalgie" berichtet. Dazu gehören übrigens auch die Stühle, die vor der großen Projektionsleinwand aufgestellt sind. Auch sie sind (natürlich!) Entwürfe von Neri & Hu, und man erkennt in ihrer Gestalt die Verbindungen zur historischen chinesischen Handwerkskunst, während man auch ganz zeitgenössisch bequem darauf Platz findet.
Reflective Nostalgia
Neri&Hu Design and Research Office, Shanghai
mit Büros in London, Paris und Mailand
Bis 30. November 2022
Aedes Architecture Forum
Christinenstr. 18-19
10119 Berlin
Öffnungszeiten:
Montag 13 bis 17 Uhr
Dienstag bis Freitag 11 bis 18:30 Uhr
Sonn- und Feiertag 13 bis 17 Uhr