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Kolumne
Das längste Feigenblatt der Welt

Wenn ein arabischer Staat von seinen Verfehlungen ablenken will und ein renommiertes US-amerikanisches Architekturbüro das gebaute Feigenblatt dazu liefert, kommt mitunter Erstaunliches heraus. Saudi-Arabien hat die aktuellen Pläne für die Stadtneugründung "The Line" am Roten Meer vorgestellt.
von David Kasparek | 16.08.2022

In der Geometrie kommt der Linie eine entscheidende Rolle zwischen Punkt und Fläche zu. Linien begleiten uns von den Markierungen auf den Straßen bis hin zu den für die gestaltenden Disziplinen elementaren Skizzen, Zeichnungen und Planunterlagen. Und was fiele einem zu Linien nicht alles ein? Hergés Ligne claire, auf Spiegeln, Klodeckel oder Handrücken gezogenen Linien mancher Clubabende, über die immer mal wieder ProtagonistInnen des öffentlichen Lebens stolpern, bis hin zu Kae Tampest wunderbarem letzten Album "The Line is a Curve".

Die Linie, oder globaler, "The Line" heißt auch eines von mehreren Projekten, mit denen das saudische Königshaus seit nunmehr fünf Jahren versucht, noch schnell auf den von Katar und anderen Emiraten bereits erfolgreich beschrittenen Publicity-Pfad abzubiegen: Weg von fossilen Brennstoffen, hin zu Social Media-tauglichen Glitzerwelten zwischen Sport und Influencertum. Die Erfahrungen der letzten Jahre zeigen ja: Irgendwann wird es selbst den hartnäckigsten JournalistInnen zu anstrengend, bei jedem Bericht über Manchester City oder Paris Saint Germain rund um ihre Superstars Erling Haaland, Jack Grealish, Lionel Messi und Neymar Junior immer wieder auf die Menschenrechtsverletzungen in Katar (Paris) und Abu Dhabi (Manchester City) hinzuweisen. Granden wie Franz Beckenbauer wollen beim Besuch von Katar vor der anstehenden Fußball-Weltmeisterschaft "keine Sklaven gesehen haben", Nationalspieler wie Thomas Müller relativieren und lavierten, angesprochen etwa auf Frauenrechte im WM-Land. Dabei bilden FußballspielerInnen und BerichterstatterInnen keinen Sonderfall: InfluencerInnen mit großen Follower-Zahlen auf Instagram und TikTok lassen sich bereitwillig am Persischen Golf einquartieren, genießen den Luxus und honorieren dieses Entgegenkommen mit unkritischen Videos über die Vorzüge von Wärme und Meer draußen, klimatisierten Hotels und Pools drinnen und einem Laissez-faire zwischen Shopping, Wüsten-Abenteuer und Sonnenuntergangsromantik. Der Entertainment-Faktor zieht, was zählen da schon Menschenrechtsverletzungen und ein paar tausend Tote, die wie Sklaven der Antike die Stadien der Moderne errichten mussten.

Neue saudische Trias: Oxagon, Trojena und The Line

Mit "Neom" hat Saudi-Arabien, das sich unter der Führung von Kronprinz Mohammed bin Salman al-Saud weltoffen gibt, ein Projekt lanciert, das ein Versuch sein soll, "etwas zu tun, was noch nie zuvor gemacht wurde". "Neom" ist ein Kunstwort aus dem altgriechischen "neo" und dem Anfangsbuchstaben des arabischen Worts mustaqbal, das mit "Zukunft" übersetzt werden kann. Eine neue Zukunft ist es also, die da just in einer breit angelegten Werbekampagne und eindrücklichen, animierten Fotos und Videos präsentiert wurde. Und sie ist Teil der "Vision 2030". Bis zu diesem Jahr soll der Anteil von Öl und Gas am Bruttoinlandsprodukt Saudi-Arabiens von heute 47 auf elf Prozent gesenkt werden. Dafür soll im Nordwesten des Landes zwischen Rotem Meer und der Grenzregion zu Ägypten und Jordanien eine Planstadt gebaut werden – mitten in die Wüste. Oder wie die Marketingabteilung von Neom es nennt: "Ideal gelegen am Knotenpunkt der Welt." Darunter machen sie es hier nicht. Die MacherInnen behaupten: Es "kommt zu einer Zeit, in der die Welt frisches Denken und neue Lösungen braucht", "eine Vision, wie die Zukunft aussehen könnte". Und damit liegen sie prinzipiell richtig. Wo wir nur Wüste sehen, so klärt ein Video auf, entdecken die Köpfe hinter dem Projekt ganz viele tolle Möglichkeiten. Im Süden soll "Oxagon" entstehen, eine "neugedachte Industriestadt", wo Wasserstoffgewinnung und andere regenerative Energien im Vordergrund stehen, im nördlichen Gebirge liegt "Trojena", "ein kultiges und weltweit erstklassiges Reiseziel" mit Snowboard- und Skipisten, und dazwischen eine Stadt für neun Millionen Einwohner. Gezogen wie am Lineal: vom Meer, durch Wüste, Berge und Täler, 170 Kilometer lang.

Werk eines Environmental Artist oder schon Architektur?

Die jüngst vorgestellten Ansichten wirken dabei eher, als habe ein Environmental Artist ein paar seiner Entwürfe für Filme und Videospiele aus der Schublade gezogen, die für Denis Villeneuves "Dune" oder für eine Staffel "Game of Thrones" keine Verwendung fanden. Auf den 170 Kilometern zieht sich ein Doppel aus zwei Hochhausscheiben, eng beieinanderstehend und 500 Meter hoch, schnurgerade durch die Landschaft. Spektakulär sieht das aus, dieser spiegelnde Endlosriegel, an den am Meer einige Yachten und kreuzfahrende Emissionsgiganten andocken und der scheinbar weder von Berg noch Tal aufzuhalten ist auf seinem Weg quer durchs Land. Zwischen den beiden Scheiben entsteht eine Art Canyon, in dem, so wollen es Bilder und Videos glauben machen, kühle Frische zwischen Wäldern und Wasserfällen herrscht. Autos gibt es hier keine mehr. Dafür soll im Keller eine Art Turbo-U-Bahn das eine Ende mit dem anderen in nur 20 Minuten Fahrzeit verbinden. Stand heute ist kein Zug der Welt dazu in der Lage – ansatzweise könnte das immer noch nicht richtig aus seinen magnetischen Puschen kommende Hyperloop-Projekt die notwendigen Werte leisten.

Wahnsinnig nachhaltig soll all das sein – der Fußabdruck einer Bandstadt im Vergleich zu einer herkömmlichen ist schließlich ohne Zweifel kleiner – und da man keine Autos benötigt und alles mit regenerativen Energien betreibt, auch eine saubere Sache. Philip Oldfield, Leiter der Fakultät für gebaute Umwelt an der Universität von New South Wales in Sydney schätzt für dezeen derweil, dass allein der Bau von "The Line" mehr als 1,8 Milliarden Tonnen Kohlendioxid aktivieren würde. Das entspräche mehr als viermal der Jahresmenge der gesamten britischen Emissionen. 500 Milliarden US-Dollar will die Saudische Regierung investieren, sucht aber zusätzlich auf allen nur erdenklichen Wegen nach weiteren Geldgebern. Zur Orientierung: 2020 betrug das gesamte Bruttoinlandprodukt Saudi-Arabiens etwas mehr als 700 Milliarden US-Dollar. Für den ehemaligen Direktor der saudi-arabischen Tageszeitung Al-Watan ein weiterer Grund, den saudischen Kronprinzen Salman zu kritisieren: Im Talk-Format The Arena des Senders Aljazeera sagte Jamal Ahmad Khashoggi, das Projekt könne das ganze Land finanziell ruinieren. Khashoggi, bis dahin steter Kritiker Mohammed bin Salmans, wurde am 2. Oktober 2018 in der saudischen Botschaft in Istanbul ermordet. Seine Leiche ist bis heute nicht gefunden worden, die Tötung durch saudische Offizielle hingegen bestätigt.

Nun haben Planstädte in der Architektur eine kilometerlange und schnurgerade Historie. Arturo Soria y Mata erdachte welche für Spanien (1882), Nikolai Miljutin eine für die Sowjetunion (1930er-Jahre), Le Corbusier für das französisch besetzte Algerien (1930/31) und Hans Scharoun für das wiederaufzubauende Berlin (1945). Superstudio griffen formal ähnliches auf (1969/70) und formulierten damit gleichermaßen eine fanalhafte Aussage wie Moderne-Kritik. Auch das Denken in utopischen Szenarien ist in großer Regelmäßigkeit ein Gewinn für den Fortschritt im Allgemeinen, wie für die entwerfenden Disziplinen im Speziellen. Hier aber sind alle relevanten Punkte eines tatsächlichen oder utopischen Entwurfs ausgespart: von der Frage, wo das ganze Wasser, das sich auf den Animationen an allen Ecken und Enden in den künstlichen Canyon ergießt, mitten in der Wüste eigentlich herkommt, über logische, wie etwa die angepeilte adiabate Klimatisierung bei der komplett homogenen Gebäudehülle, bis hin zu logistischen – nämlich wie die ganzen hippen neun Millionen TikToker und Instagramer am Ende von ihren Yachten in die Turbo-U-Bahn oder allein nur von außen in eines der Häuser kommen sollen. Stattdessen liest man von Buzzwords aller Art: es wird von Nachhaltigkeit fabuliert, wo mit den gewählten Mitteln de facto keine geschaffen werden kann, und als Symbol der Zukunftsfähigkeit der eigenen Idee – oder Grußbotschaft an bayerische Politikerinnen – lässt man noch ein paar Flugtaxis steigen. Was man nicht liest ist der Protest der lokalen Stammes-Bevölkerung, wie etwa den der al-Huwaitat, und ihren begründeten Sorgen um Land und Leben.

Auf Twitter
umreißt Alexander Luckmann den aktuellen Entwurf, den das 1972 von Thom Mayne und Michael Rotondi gegründete Architekturbüro Morphosis verantwortet, am Ende dann recht trefflich. "Check out this architect’s bold plan for a carbon-neutral city on the Red Sea!" schreibt Luckmann und postet dazu ein Bild: es zeigt eine schwarze Linie auf weißem Grund. Und damit machen wir einen Strich darunter. Rund wird das alles nämlich nicht mehr.

NEOM | What is THE LINE?