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MICROLIVING
Die letzten Tage

2007 sollte er schon einmal abgerissen werden, damals rettete ihn die Weltwirtschaftskrise. Jetzt aber geht es ihm offenbar endgültig an den Kragen: Wer den Nakagin Capsule Tower in Tokio des Architekten Kisho Kurokawa noch einmal sehen will, der muss sich beeilen. Noch steht der Turm von 1972, eines der Meisterwerke des japanischen Metabolismus.
von Florian Heilmeyer | 07.06.2021

Auch ohne ihn je gesehen zu haben, kann man sich den Nakagin Capsule Tower ganz leicht vorstellen: Man muss sich nur zwei Stapel aus großen, weißen Waschmaschinen ausmalen, die auf einem gemeinsamen Sockel aus zwei Büroetagen turmhoch aufgestellt wurden. Genauer gesagt sind es ziemlich große Waschmaschinen: Jede einzelne misst 2,3 auf 3,8 auf 2,1 Meter, und sie türmen sich direkt neben dem Tokio Expressway, der aufgeständerten Stadtautobahn, zu 11 beziehungsweise 13 Geschossen in die Höhe. Natürlich sind die Waschmaschinen gar keine Waschmaschinen, sondern Wohnkapseln. Und die beiden Türme aus dem Jahr 1972 sind eines der Hauptwerke des japanischen Metabolismus, einer Architekturströmung, die in den 1960er- und 1970er-Jahren ihre Blüte feierte und davon träumte, Module zu erfinden, aus denen Wohnungen, Häuser, Stadtviertel und schließlich ganze Städte für ein zukunftsgerechtes Leben zusammengebaut werden könnten. Die modulare Bauweise würde es möglich machen, jede einzelne Einheit jederzeit erneuern und austauschen zu können. Die Menschen müssten dann nicht mehr in veralteten Wohnungen leben, sondern könnten ihre Wohnmodule ständig auf dem neuesten Stand halten, im heutigen Sprachgebrauch wäre das immer das neueste Update. Gebäude wie Städte könnten dann nicht nur ständig wachsen, sondern sich dabei andauernd erneuern, wie Pflanzen, das war die Idee der Metabolisten. Zu den Hauptvertretern dieser Richtung gehörte auch der japanische Architekt Kisho Kurokawa (1934-2007), von dem der Entwurf für den Nakagin Capsule Tower stammt.

Wer sich nun diese beiden Kapseltürme nicht nur vorstellen, sondern auch tatsächlich besuchen möchte, der muss sich beeilen. Ihr Abriss steht offenbar unmittelbar bevor. Die Besitzerin, die japanische Investmentgesellschaft CTB CK, hat Vorbereitungen getroffen, die Kapseln von etwa 40 verbliebenen Privateigentümern aufzukaufen, die letzten 20 ständigen Bewohner des Turms haben ihre Kapseln bereits im April 2021 verlassen. Damit hätte die CTB nun die Möglichkeit, den nicht denkmalgeschützten Turm abzureißen. Dazu muss man wissen, dass das Viertel Ginza, in dem der Turm steht, inzwischen zu den teuersten Lagen der Stadt zählt – und das will in Tokio wirklich etwas heißen. Der Kaiserpalast ist nur einen Steinwurf entfernt. Als der Nakagin Capsule Tower 1972 errichtet wurde, war er das einzige Hochhaus an der Autobahn, das ist auf bauzeitlichen Aufnahmen gut zu sehen. Inzwischen wird er eng von gleich großen, banalen Büro- und Wohnhochhäusern gefasst. Das Grundstück dürfte sehr wertvoll sein. Und es wird noch wertvoller, wenn es leer ist und maximal bebaut werden kann. Der Kapselturm steht ganz einfach im Weg.

Zudem befindet er sich nach Jahren der Vernachlässigung in einem ausgesprochen schlechten Zustand. Die Stahlstruktur rostet, die Wasserleitungen sind leck, in der Trägerstruktur verbirgt sich Asbest und seit eines der großen Rundfenster herunterfiel, hängt ein Sicherungsnetz über beiden Türmen. Während etwa 80 Kapseln noch bis zuletzt als Büros, Hobbyraum oder Zweitwohnung genutzt wurden, sind um die 40 Kapseln schon seit vielen Jahren unbewohnt, in manchen wachsen Pflanzen. Wollte man das Gebäude retten, müssten alle Kapseln abgenommen, die Kernstruktur gründlich saniert und schließlich alle runderneuerten Kapseln wieder angehängt werden. Die Kosten für eine originalgetreue Sanierung werden auf 75 Millionen Euro geschätzt.

Die Eigentümerin argumentiert schon seit gut 20 Jahren mit der Unwirtschaftlichkeit. Dass das Gebäude überhaupt noch steht, hat es einerseits seinen komplizierten Eigentumsverhältnissen zu verdanken, andererseits der Weltwirtschaftskrise nach 2008: Denn alle 140 Kapseln wurden einzeln an Privatpersonen verkauft, die Tragstruktur und das Grundstück aber gehören der Eigentümerin. So musste sich die CTB um die Mehrheitsverhältnisse im Gebäude bemüht, indem sie einerseits Kapseln aufkaufte und andererseits versuchte, unter den verbliebenen Privateigentümern eine Mehrheit für den Abriss und Verkauf des Grundstücks zu bekommen. Im Jahr 2007 hatte sie erstmals die nötige 80-Prozent-Mehrheit beisammen. Dann verhinderte die Weltwirtschaftskrise die Umsetzung der Pläne. Wozu Wirtschaftskrisen doch gut sein können!

Es ist nun also der zweite und wohl finale Anlauf. Im November 2020 erreichte die CTB erneut eine 80-prozentige Stimmenmehrheit. Eine Besitzerinitiative um den umtriebigen Tatsuyuki Maeda, der selbst 15 Kapseln besitzt, hatte sich in den Jahren dazwischen vergeblich um einen Investor bemüht, der das Gebäude kaufen und in seine Sanierung investieren würde. Maeda sagt, es habe verschiedene Gespräche gegeben, aber letztlich konnte keine Firma oder Privatperson gefunden werden. Die Kosten waren letztlich zu abschreckend. Der japanische Staat war ebenfalls nicht interessiert, laut Maeda gibt es im Land kein Interesse an der Nachkriegsmoderne. Und haben Sie schon einmal versucht, 75 Millionen Euro per crowdfunding zusammen zu bekommen?

Das paradoxe an der aktuellen Situation ist, dass Kurokawa von Anfang an den Austausch der Wohnkapseln vorgesehen hatte. "Wenn man die Kapsel etwa alle 25 Jahre austauscht, könnte das Gebäude sicher 200 Jahre alt werden", schrieb er. Jede Kapsel ist nur mit vier Bolzen an der Kernstruktur befestigt. Die Größe der standardisierten Kapseln orientierte sich an den Maßen von vier Tatami-Matten der traditionellen Tee-Pavilions in Japan. Auch größere Module hätten an den Anschlussstellen befestigt werden können, und so hätte ein junges Paar, das sich kennenlernt, statt zweier einzelner Kapseln eine größere befestigen können, und später vielleicht, wer weiß, eine noch größere Familienkapsel. Nur ist dies nie passiert. Die Kapseln, die heute hängen, hängen dort seit 1972. Das Gebäude hat nie angefangen, im Sinne seines Erfinders zu "metabolisieren".

So haben die Ideen, das Gebäude unter Denkmalschutz zu stellen, bislang vor allem zu hochkomplexen Fachdiskussionen geführt: In welchem Zustand man denn ein Haus erhalten wolle, dessen Grundgedanke der ständige Wandel ist. Daran scheiden sich die Geister und so steht das Gebäude bis heute nicht unter Denkmalschutz, und für einen Antrag auf Aufnahme ins Weltkulturerbe der UNESCO, ob geistig oder materiell oder irgendwo dazwischen, fehlte ebenfalls ein Geldgeber. Auch diese Anträge müssen erst einmal finanziert werden.

Klar ist: Der Wert des Nakagin Capsule Tower sollte sich auch daran bemessen, dass er zu den wenigen tatsächlich gebauten Häusern des Metabolismus zählt. Und an dem zeitgenössischen Wert eines solchen Gebäudes zu zweifeln erscheint ebenfalls unangemessen: Die wenigen bewohnbaren Kapseln erfreuten sich bis zum Schluss einer hohen Beliebtheit, sowohl bei dauerhaften Nutzern wie natürlich auch als kurzzeitige Ferienunterkunft für einen wirklich ganz besonderen Tokyo Aufenthalt – in einer Waschmaschine! Die englischsprachigen Touren, die "Showcase Tokyo" bis zuletzt durch den Turm und einige Apartments anbot, waren oft ausgebucht, und das hinreißende Buch "Nakagin Capsule Style", das Ende 2020 erschien, porträtierte 20 glückliche Bewohner in ihren sehr individuell eingerichteten, meist extrem vollgestopften Kapseln. In einer Zeit, in der überall von "Tiny Houses" geredet wird, sollte so ein Kapselturm – in zeitgemäßer Ausstattung – eigentlich doch leicht einen Platz in unserer Gesellschaft finden; auch wenn sicher niemand mehr an Megastrukturen für ganze Kapselstädte denkt. Selbst die geplanten Siedlungen
auf Mond und Mars sehen inzwischen schon nicht mehr so technikaffin und
fortschrittsbesessen aus wie in den 1970ern.

Die CTB äußert sich zu ihren Plänen nicht. Tatsuyuki Maeda glaubt nicht mehr an die Rettung des Turms, dafür seien die Kosten einer Sanierung einfach zu hoch und die Grundstückspreise zu verführerisch. Er will stattdessen versuchen, einige der originalen Kapseln zu retten, zu sanieren und dann auszustellen. Die letzten 30 noch benutzten Kapseln sollen im Sommer abgenommen werden. Für die Sanierung einiger Kapseln will Maeda dann ein crowdfunding starten. An staatliche Hilfen glaubt er nicht mehr. Es sieht also im Moment tatsächlich so aus, dass es in Tokio sehr bald ein metabolistisches Meisterwerk weniger geben wird. Alles andere wäre ein waschechtes Wunder.

Buchtipps:

1972 – Nakagin Capsule Tower
Noritaka Minami
Texte von: Noritaka Minami, Julian Rose, Ken Yoshida
100 Seiten
54 Farb- und 1 S/W-Abbildungen
Sprache: Englisch
Verlag: Kehrer
ISBN 978-3-86828-548-2

34,90 Euro

Nakagin capsule Tower Style
Kisho Kurokawa
132 Seiten
Sprache: Japanisch
Verlag: Soshisha
ISBN: 978-4794224880

23,25 Euro

Nakagin Capsule Tower: Japanese Metabolist Landmark on the Edge of Destruction [Trailer], 2010
Nakagin Capsule Tower: Japanese Metabolist Landmark on the Edge of Destruction [Trailer], 2010