Nachruf
Sie verbesserte die Welt
Ihr Weg hatte gerade erst richtig begonnen. In einer knappen Dekade wurde sie zur international renommierten Designerin, übte einen Beruf aus, den sie liebte. Sie fand rasch zu einer persönlichen Verbindung von Strenge und Zartheit, die bei vielen ihrer Projekte sichtbar wird. Ihre Begeisterung, sich auf Eigenheiten von Materialien einzulassen, mit denen sie arbeitete, wurde ebenso deutlich wie ihre Fähigkeit chromatisch abgestimmte Farben festzulegen. All dies waren keine Zutaten, sondern integrale Bestandteile jedes ihrer Projekte. Sie stand in der Tradition des modernen französischen Designs, das zugleich elegant und spielerisch ist. Begeistert von Mathematik und künstlerisch begabt erschien ihr Produktgestaltung früh schon als ideale Verbindung, der sie sich fortan verschrieb. Über Pauline Deltour zu schreiben und dabei Vergangenheitsformen zu benutzen, scheint absurd. Am 10. September 2021 ist sie mit gerade einmal 38 Jahren wie man sagt plötzlich und unerwartet gestorben.
Pauline Deltour wurde 1983 in Landerneau in der Bretagne geboren, studierte in Paris ab 2001 an der École nationale supérieure des arts appliqués et des métiers d’art (ENSAAMA) angewandte Künste und anschließend Industrial Design an der Ecole Nationale Supérieure des Arts Décoratifs (ENSAD). Ihr Praktikum führte sie ins Studio von Konstantin Grcic nach München. Nach dem Studienabschluss 2006 in Paris kehrte sie als Projektassistentin zu Grcic zurück. An Projekten für Vitra war sie ebenso beteiligt wie an Möbeln, die in Kooperation mit Thonet und Muji entstanden. Ihr Pariser Abschlussprojekt, eine Serie von Drahtobjekten für verschiedene häusliche Zwecke, ging bei Alessi in Serie. Ein furioser Start, der 2009 in München in die Selbständigkeit führte. Dort schuf sie mit Nitzan Cohen ein Kunst-am-Bau-Projekt: Die originell-verschlungene Tartanbahn "Run Run Run" für einen Kinderhort, halb Spiel- halb Sportzone. Bald ging Pauline Deltour nach Paris zurück, wo sie 2011 aus ihrer Zweizimmerwohnung heraus entwarf, bevor sie am Boulevard Magenta ein größeres Studio bezog.
Männer würde man nicht darauf ansprechen, beschied sie Aussagen zu ihrer physischen Schönheit. Sie kämpfte für die Selbstverständlichkeit so zu arbeiten wie andere auch, unbehelligt von Macho-Sprüchen und -Einordnungen – so erzählte sie es damals einer Autorin der Tageszeitung Libération. Tatsächlich verfügte sie über eine außergewöhnliche Kombination aus Charme und Esprit. Pauline Deltour hat es geschätzt, gut organisiert zu sein, weil ihr das den Freiraum bot, den sie für Arbeit und Leben brauchte, der dazu beitrug, ihr Freude und Genuss zu bereiten. Wer das Vergnügen hatte, mit ihr in Kontakt zu kommen, konnte sich ihrer gelassenen Lebensart nicht entziehen, die mit großer Ernsthaftigkeit gepaart war. Blickt man auf ihr vielgestaltiges und vielseitiges Werk, das in nur wenigen Jahren entstand und auf die Präzision, mit der sie jedes ihrer Projekte ausarbeitete, dann wird die große Kraft, Nachdrücklichkeit, Klarheit und Ruhe sichtbar, mit der sie entwarf. Zudem sind es stets brauchbare Gegenstände, mit denen sie sich befasste. Viele davon sind ideal für die städtisch-nomadische Lebensweise, die sie selbst praktizierte. Und doch gehen sie weit darüber hinaus, praktisch zu sein. Auch hervorragende Beispiel für Schmuck ("Étreintes" für JEM), Mode ("Honeycomb" für Sogo&Seibu) und Accessoires ("Argent de poche" für Puiforcat) gehören zu ihrem Werk.
Mit ihren Auftraggebern in aller Welt war sie in direktem Kontakt, reiste viel, wenn auch zuletzt durch Corona ausgebremst. Sie fühlte sich verpflichtet "200 Prozent zu geben, auch wenn nur 100 Prozent bezahlt werden," wie sie in einem Interview für Dear Magazine 2018 erzählte. Am Beispiel des Elektrofahrrads "Le Vélo" für Yellow Innovations, einen Ableger der französischen Post, verdeutlichte sie, wie wichtig es sei, sich einem neuen Thema zunächst unvoreingenommen und in einer späteren Phase als Expertin anzunähern. Dass Polstermöbel nicht Varianten des immer gleichen sein müssen, dass sie zeitgemäß wie multifunktional sein können, zeigen Pauline Deltours Entwürfe "Drop" und "Floater" für COR, ihre Teppichkollektion "Rope Rugs" für HEM könnte ein Longseller werden, gleiches gilt für die Outdoormöbel "Patio" für Tolix.
Pauline Deltour war rastlos. Für jedes ihrer Projekte verausgabte sie sich. Ihr Tod ist Anlass zur Trauer, zur Erinnerung an eine große Designerin. Vielleicht sollten wir aber auch innehalten und nachdenken über jenes Entwurfssystem, dass einen beständigen Strom des Neuen erzeugt, DesignerInnen aber zwingt, Projekt an Projekt zu reihen. Ob ihr Produkt tatsächlich auf den Markt kommt, ob es länger als eine kurze Zeitspanne erhältlich ist und dazu beiträgt, die geleistete Arbeit angemessen zu bezahlen, liegt nicht in den Händen der GestalterInnen. Daran sollte sich in einer Welt des permanenten Wandels dringend etwas ändern.
Was ihr Motto sei, wurde Pauline Deltour von "Le Monde" noch im April gefragt: "On n’a qu’une vie!" – Man hat nur ein Leben. Ihres ist viel zu früh zu Ende gegangen.