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KOLUMNE
Karst away

Im Finanzdistrikt Zuidas im Amsterdamer Süden haben die ArchitektInnen von MVRDV einen spektakulären Bau voller Nutzungsmischungen und Überraschungen realisiert.
von David Kasparek | 16.11.2022

Am Pendelschwung geschichtlicher Bewegungen ist immer wieder bemerkenswert, wie sich unterschiedliche Motive zu ideengeschichtlichen Strängen und Überschneidungen ergänzen. So waren wohlhabende EngländerInnen Ende des 18. Jahrhunderts wegen der französischen Revolution gezwungen, ihre tradierten Reiserouten gen Süden zu verlegen – und lernten so das Rheintal kennen, das unter anderem Lord Byron eindrücklich beschrieb. Die zeitgeistige Wiederentdeckung von bestimmten geologischen Formationen, Naturschönheit und architektonischen Motiven wie der Ruine in der Romantik findet sich dann im englischen Landschaftsgarten wieder, von wo sie erneut aufs europäische Festland zurückschwappte und als spielerische Neuentwicklung nach der mathematischen Langeweile der barocken Gartenordnung gängigen romantischen Moden entsprach.

Im Amsterdamer Süden haben jüngst die ArchitektInnen von MVRDV ein großes Haus fertiggestellt, das diese Spirale romantischer Ideen nun weiterdreht. Hier steht jedoch keine künstliche Ruine in der Landschaft. Stattdessen findet hier eine künstlich erodierte Landschaft ihren Platz in der Stadt, die in den letzten 50 Jahren wiederum selbst vielfach als "Stadtlandschaft" beschrieben wurde. Dieses Haus ist selbst zur Landschaft geworden – bildlich und auch räumlich. Das Gebäude mit seinen 75.000 Quadratmetern Geschossfläche sieht aus, als sei es einst eines jener austauschbaren, mit Spiegelglas bekleideten Bürosilos gewesen, die unsere Städte seit Jahrzehnten als Fortschreibung des International Style global prägen. Nur dass dieser Glitzerriese irgendwann scheinbar erodiert ist. Geologischen Prozessen gleich, wirken weite Teile des spiegelnden Massivs weggebrochen, ein Tal tut sich steinern auf, teilweise sogar schon bewachsen. Was in seiner geologischen Natur Jahrtausende braucht, haben MVRDV in diesem Gebäude als Erzählung in Amsterdam angelegt und seit dem Wettbewerbsgewinn 2015 bis Anfang September 2022 fertiggestellt. "Valley" heißt es, Tal.

Im Erdgeschoss befinden sich Einzelhandel, Bars, Restaurants und Freizeiteinrichtungen, die dem ehemaligen Finanzdistrikt wichtige öffentliche Nutzungen hinzufügen. Ein "The Grotto" genannter und damit wieder die Romantik referenzierender, öffentlicher Weg führt in einem weiten Schwung durch das Haus. Teilweise bis zu drei Geschosse hoch, ist diese künstliche Grotte allseitig mit dem gleichen Naturstein verkleidet wie die künstlichen Abbruchkanten des außenliegenden Tals. So wird der Eindruck eines vermeintlich steinernen Massivs im Innern des Spiegelglaskastens noch verstärkt. An zwei Stellen weitet sich der Blick nach oben durch Glasdächer. Über dem Bereich, in dem auch eine "Sapiens Lab" genannte "Brutstätte für junge Wissenschaftler" eröffnet werden soll, sind bis in das siebte Stockwerk Büroflächen angesiedelt.

Ein weiterer öffentlicher Weg zeichnet den der Grotte im Grundriss nach, schlängelt sich aber im Zickzack hoch zur Sohle des künstlichen Tals. Einem kleinen Wanderweg gleich, zieht sich das terrassierte Gelände hinauf bis auf die Ebene des fünften Stockwerks. Am Grund dieses kleinen Hochplateaus wird deutlich, dass die Glasdecken der "Grotte" mit Wasser geflutet sind und wie kleine Weiher an den tiefsten Stellen des erodierten Massivs wirken. Der Landschaftsarchitekt Piet Oudolf und sein Team haben rund 13.000 Pflanzen am Grund des Tals und seine Hänge hinauf angesiedelt. Die Bäume und Büsche wurden dem jeweiligen Lichteinfall ihres Pflanzorts entsprechend so ausgewählt, dass das Tal das ganze Jahr über grün sein soll. Nach und nach, so die Vorstellung von Oudolf und MVRDV, soll die Vegetation das Tal überwuchern und Heimat für Pflanzen und Tiere sein. Schon jetzt sind Nistkästen für Vögel und Fledermäuse angebracht.

In den drei Türmen schließlich finden sich knapp 200 – recht teure – Mietwohnungen zwischen 55 und 400 Quadratmetern Grundfläche. Mit Raumhöhen von 2,90 Metern ist jede Wohnung mit mindestens einem eigenen Außenraum wie einer Loggia oder einem Balkon ausgestattet. Wo die äußere Spiegelglasfassade streng einem Raster folgt, scheint das Tal selbst einem ungeordneten Abbruch gefolgt zu sein. Tatsächlich aber hat das Team von MVRDV mit mehreren parametrisch programmierten Rechenprozessen sowohl die Winkel der Terrassen berechnet, die in einer Zehn-Grad-Skala zwischen 40 und 160 Grad messen, als auch den vermeintlich wilden und zufälligen Verband der Natursteinbekleidung. So konnte ein Maximum an gleichen Steinformaten und damit ein Minimum an Verschnitt bei der Montage erreicht werden. Das Ergebnis dieses organisatorischen und arbeitstechnischen Aufwands ist auch, dass keine Wohnung der anderen gleicht. Und das, obschon jedem der drei 67, 81 und 100 Meter aufgehenden Türme die gleiche Tragstruktur zugrunde liegt: Dieser Kern gleicht einem Doppelkreuz, einem Hashtag (#), und misst acht mal acht, beziehungsweise acht mal 16 Meter. Von ihm reichen die Wände bis zur talseitigen Abbruchkante. Elf auskragende Elemente aus Stahl sind an die tragenden Stahlbetonwände angeschlossen und ermöglichen die steilen Überhänge im Tal und die darauf befindlichen, weit ausladenden Terrassen.

Entwickelt und vermarktet wird das "Valley" übrigens von "Edge", einer Tochter des Immobilienkonzerns OVG Real Estate. Edge hat sich auf die Fahnen geschrieben, an der "Verwirklichung einer CO2-neutralen Umwelt" zu arbeiten. Was als Ziel richtig ist, klingt gleichzeitig auch werblich und zeigt, dass Nachhaltigkeit als Marketinginstrument gerade sehr in Mode ist. Wo Edge in Deutschland bis dato vor allem nichtssagende Bauten, etwa am Berliner Hauptbahnhof, realisiert und in der Hamburger HafenCity projektiert hat, machen die gebauten Ergebnisse in den Niederlanden mehr her. Das "Valley" zeigt, wie ein Neubau, sollte er denn unvermeidlich sein, seinen Beitrag zu unserer Lebensfähigkeit im Anthropozän leisten kann. Mit seiner Mischung der Funktionen und dem Ansiedeln von öffentlichen Nutzungen in einem ehedem als Arbeitsumgebung genutzten Quartier, mit der Hinwendung zu einer Architektur, die Flora und Fauna in sich aufnimmt und im Betrieb Ressourcen schont, ist dieses Haus von MVRDV und ihren MitstreiterInnen aber vor allem eine "Architecture parlante 4.0".

MVRDV | Valley tops out in Amsterdam’s Zuidas district