Diese Architektur hält wach
Am Tag des Baustellenbesuchs hängen dichte Wolken über der Stadt. Aber wenn die Sonne aufzieht, dann soll sie die 6000 Quadratmeter große Fassade aus beige-weißem, zu diesem Zweck extra aufgerautem Granit, zum Funkeln bringen. Damit nicht genug, sind auch die Fugen nachträglich mit Quarzsand bestäubt worden – noch mehr Fläche, die das Bauwerk im Lichteinfall glitzern lässt. Zusammen mit der aus Kuben zusammengesetzten Gesamtform hat sie dem just noch im Bau befindlichen Museum Reinhard Ernst (mre) schon vor Eröffnung den Spitznamen Zuckerwürfel eingebracht. Eine glitzernde Fassade ist wohl nicht die erste Vorstellung, die man gemeinhin mit einem Museumsbau in Verbindung bringt. Und der insgesamt tonnenschwere Granitstein der Sorte "Bethel White", abgebaut im US-Bundesstaat Vermont, ist auch nicht die einzige architektonische wie gestalterische Besonderheit des künftigen Ausstellungshauses in Wiesbaden. Entworfen hat es der heute 94-jährige Pritzker-Preisträger Fumihiko Maki. Erdacht wurde das Museum vom Unternehmer Reinhard Ernst, der eine der wohl umfangreichsten Privatsammlungen abstrakter Kunst im deutschen Raum sein Eigen nennt und diese nun der Öffentlichkeit zugänglich machen möchte. Allein von der US-Malerin Helen Frankenthaler besitzt er 40 Gemälde, hinzu kommen insgesamt bald 900 zwei- und dreidimensionale Werke von Frank Stella, Ernst Wilhelm Nay, Morris Louis, Joseph Albers, Pierre Soulages, Karl Otto Götz und vielen weiteren. Neben abstrakter deutscher und europäischer Nachkriegskunst sammelt Ernst Werke des amerikanischen Expressionismus sowie abstrakte japanische Kunst, zum Beispiel von Tōkō Shinoda.
Das Sammeln hängt eng mit dem eigenen Leben als Unternehmer zusammen. Auf seinen Geschäftsreisen entdeckte Reinhard Ernst die Museen der Welt für sich, insbesondere die abstrakte Kunst begeisterte. Was er auf seinen Museumsbesuchen vermisste, waren Kleinigkeiten, an denen sich nachvollziehen lässt, wer seine Zeit hin und wieder in den Räumen der Kunst verbringt: Flächen zum Sitzen und Ausruhen beispielsweise, Tageslicht, aber auch eine vernünftige Raumakustik, die dem halligen Sound in den Ausstellungsräumen entgegenwirkt. Kurzum, der Mensch kam in den Museen gerade älteren Zuschnitts oftmals zu kurz. Und damit interessanterweise oftmals auch die Kunst selbst, die durch ihre RezipientInnen ja erst Wirkung entfaltet. Das soll jetzt im mre ganz anders werden, verspricht Direktor Oliver Kornhoff: "Unsere Botschaft ist: Komm‘, wie du bist! Bei uns muss man nicht andächtig flüstern oder betont leise umherschleichen." Auch dank des Akustikputzes, der in den größeren Ausstellungshallen verarbeitet wurde – ein Material, das sonst in Großraumbüros verwendet wird.
Das Staunen, aber keine falsche Ehrfurcht wecken, soll das Haus mit seiner Kunst. Fumihiko Maki war Ernsts Wunscharchitekt für dieses Vorhaben: Der Mensch steht im Mittelpunkt seiner Arbeit, die Dutzende Gebäude in aller Welt umfasst. Auch mit der Kunst hat Maki reichlich Erfahrung. Für den Japaner, der mit seinem Büro Maki and Associates in Tokio lebt und arbeitet, ist das Museum Reinhard Ernst das zehnte Ausstellungshaus. Nach Bauten in China, Japan, Indien, Kanada und in den USA ist das mre sein erstes Museum und zugleich erstes Gebäude in Deutschland. Die Generalplanung wurde vom Frankfurter Büro schneider + schumacher übernommen. Auch als die Corona-Pandemie und später der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine die Kosten für Rohstoffe und Transport in die Höhe schnellen ließen, hielt Ernst an seinem Vorhaben ohne Ersatzmaterialien oder Umplanung fest. Dass hier so kompromisslos für die Kunst und ihr Publikum gebaut werden kann, liegt an der Finanzierung: Das mre befindet sich auf städtischem Grund, sein Bau wie auch der künftige Betrieb werden allerdings komplett aus eigenen Mitteln mit Hilfe der Reinhard und Sonja Ernst-Stiftung finanziert. Begrüßenswert, aber doch bemerkenswert (nicht nur) für ein Privatmuseum sind Preisgestaltung und Öffnungszeiten: Kinder und Jugendliche haben immer freien Eintritt, unter der Woche öffnet das Haus schon ab acht Uhr morgens, um Schulklassen und Kitagruppen zu begrüßen.
Das mre erscheint auf den ersten Blick größer, als es ist. Tatsächlich liegt seine Traufkante sogar ein paar Zentimeter unter der des benachbarten Landesmuseum für Kunst und Kultur, wie Kornhoff erklärt. Der Bau hebt sich naturgemäß deutlich ab von den umgebenden Häusern und Gebäuden. Trotzdem spielte der Einbezug der historischen Umgebung eine große Rolle für die Gestaltung, sagt Michel van Ackere von Maki and Associates: Der Granit beispielsweise nehme farblich und materialtechnisch Bezug auf die umliegenden Häuser aus Kalksandstein, ist zugleich aber langlebiger. Auch die Lage zwischen zentralem Bereich Wiesbadens zur Westseite und den weiten, grünen Rasenflächen mit Wohngebieten und institutionellen Gebieten zur Ostseite greift die Architektur auf: "Das mre befindet sich an der Schnittstelle dieser beiden unterschiedlichen Zonen und spiegelt beide wider. Der Museumsbau hat eine seinem institutionellen Auftrag angemessene Präsenz von über 9.000 Quadratmetern, die die Straßenränder im Westen und Süden klar definiert. Gleichzeitig ist sein Volumen in vier kleinere Blöcke unterteilt, die den Maßstab der Villen aufnehmen." Von außen erscheint der Bau wie ein Monolith, wenngleich aufgebrochen durch Rundum-Glasfronten zum Beispiel im künftigen Museumsshop. Dass er von innen betrachtet zugänglich und freundlich erscheint, wird beim Rundgang deutlich. Über eine Rampe ist das Haus barrierefrei zugänglich, Zaun oder Mauern gibt es nicht. Stattdessen wird gerade Lavendel rund ums Gebäude gepflanzt. Und wer genau hinschaut, wird entdecken, dass die Fugen der Granitplatten vor dem Eingang erst im Inneren enden – das sind Details, auf die Maki wie auch Ernst Wert legen. Eine optische Kontinuität zwischen Innen- und Außenraum, die auch durch die zahlreichen Glaselemente weitergeht.
Drinnen steht man vor dem verglasten Innenhof, um den herum sich die vier baulichen Kuben versammeln. Er lässt viel Tageslicht ins Museum und ist zugleich eine Art erweiterte Ausstellungsfläche – für eine Skulptur von Eduardo Chilida und für den Japanischen Fächerahorn, der nun weiter in die Höhe wächst, bis er irgendwann auch die höheren Etagen erreicht. Im kostenlos zugänglichen Foyer wird es weitere Kunst zu sehen geben. Werke aus der Sammlung und solche, die noch gar nicht fertig sind. Die Derix Glasstudios in Taunusstein produzieren so gerade eine 60 Quadratmeter große Glasarbeit von Katharina Grosse. Für die Künstlerin war es die erste Arbeit mit dem Material, das ihre großformatige Malerei bestechend übersetzen soll. Sie wird als Raumtrenner und zugleich Durchblick zum künftigen Farblabor eingesetzt, in dem Workshops für Schülerinnen und Schüler geplant sind. Auch an dieser Stelle wird, untypisch für ein Kunstmuseum, wieder auf Sonnenstrahlen gesetzt: Somit kann das mehrschichtig zusammengesetzte Glas im Licht brillieren und seine Farbschatten in den Raum werfen.
Auch gestalterisch möchte das mre seinen Besucherinnen und Besuchern die Angst vor den Bildern nehmen. Zu einer solchen Gesamtkonzeption gehört neben architektonischen Vorhaben bald ein ganzes Arsenal an Vermittlungsangeboten, die natürlich optional sind. "Kunst ist ja unerschöpflich," meint Kornhoff. "Aber unsere BesucherInnen können selbst entscheiden, wie viel sie sehen und erfahren möchten. Niemand soll sich gegängelt fühlen." Vielmehr wolle das Haus seiner Besucherin, seinem Besucher die Erfahrung vermitteln: "Ich bringe ja schon alles mit, das es braucht, um Kunst zu erfahren." In den oberen beiden Etagen gibt es künftig sowohl die Dauer- als auch die Sonderausstellungen zu sehen. Noch nicht verlegt sind die Böden aus Holz sowie Terrazzo. Kein Ausstellungsraum gleicht dem anderen. Der höchste Raum mutet mit 14 Metern geradezu sakral an, durch ein Oberlicht fällt Tageslicht herein, das die wandfüllenden Malereien ob der Höhe trotzdem nicht beeinträchtigt. Es folgen niedrigere Deckenhöhen, ausladende Räume für große Präsentationen, Kabinette und ein Balkon, von dem man in den Ausstellungsraum eine Etage weiter unten blicken kann. "Die Architektur hält wach," formuliert Kornhoff. Dass es dazu einer ausgeklügelten Statik bedarf, versteht sich. Eine beachtliche Menge Stahl hält die unterschiedlichen Raumhöhen zusammen. Insgesamt wurde hier nicht weniger als ein Drittel der Stahlmenge verbaut, die seinerzeit für den Eiffelturm nötig war.
Das ist erst einmal ein beachtlicher Einsatz von Rohstoffen. Spielten Aspekte der Nachhaltigkeit eine Rolle bei der Planung? Ja, sagt Michel van Ackere, der als Architekt bei Maki and Associates den Bau begleitet. Die sonst üblichen, bürointernen Kriterien zur ökologischen wie sozialen Nachhaltigkeit eines Projekts seien in diesem Fall allerdings bewusst nicht angewandt worden. "Wir wussten, dass in Deutschland strenge Bauvorschriften gelten, die nachhaltige Praktiken in die Gebäudespezifikationen einbeziehen und sekundäre Akkreditierungsstandards überflüssig machen." Zudem erfordere die Lagerung und Ausstellung von Kunstwerken eine Klimatisierung, "die weit über den üblichen Komfortbereich hinausgeht und die Nutzung des natürlichen Lichts einschränkt. Diese strengen Anforderungen in Verbindung mit der offenen, frei fließenden Grundrissstruktur des Museums haben uns daran gehindert, viele typische Niedrigenergiemaßnahmen anzuwenden." Dennoch habe man zahlreiche Maßnahmen zur CO2-Reduzierung ergriffen, wie die Maximierung natürlich einfallenden Lichts, eine Eindämmung der Sonneneinstrahlung durch überhängende Bauvorrichtungen und spezielle Glasfenster, große Sonnenkollektoren auf dem Dach, einen Anschluss an durch heißes Quellwasser aufbereitetes Warmwasser, Bepflanzung auf dem Dach und rund um das Gebäude und den weitgehenden Einsatz von Naturmaterialien.
Für Maki and Associates gilt die soziale Komponente ebenbürtig zur ökologischen: "Sozial nachhaltige Architektur wird von der Gemeinschaft geliebt, und diese Qualität trägt dazu bei, dass die Gebäude eine lange, robuste Lebensdauer erreichen," sagt van Ackere. Langlebigkeit müsse ob der Ressourcen, die für Bau, Abriss und Ersatz von Gebäuden erforderlich sind, eine der Säulen nachhaltigen Bauens sein. "Wir hoffen, dass die kontextbezogene, aber moderne Außengestaltung, die offenen und großzügigen Innenräume, das reichlich vorhandene natürliche Licht, die sorgfältigen Details und die Verwendung hochwertiger Materialien bei Mitarbeitern und Besuchern in Wiesbaden und darüber hinaus über viele Jahre hinweg ein Gefühl der Verbundenheit mit dem Gebäude und seiner Pflege hervorrufen werden."
Fumihiko Maki baut keine Überwältigungsarchitektur, wenngleich seine Häuser durchaus überwältigende Raumerfahrung vermitteln können. Für ihn soll es weder um einen Effekt noch um das ArchitektInnenego gehen. Als Leitspruch gilt eine Erkenntnis des Architekten über den Menschen, die er im Laufe seines Lebens entwickelt hat, wie er erklärt. Es ist eine ganz simple Aussage: Menschen seien sich alle sehr ähnlich. Und sie seien allesamt sehr verschieden. Im Kunstmuseum treffen sie in ihren beiden Eigenschaften zusammen.