von Thomas Wagner
Salone 3: Von sozialen Fragen des Wohnens ist keine Rede, moderne Klassiker werden gern zeitgemäß renoviert, garantieren zugleich aber Überzeitlichkeit.
Eins /// Zurück in die Moderne?.
Im Möbeldesign hält man sich gern an Bewährtes. Dabei geraten die „Klassiker der Moderne“ neuerdings unter einer erweiterten Perspektive in den Blick. Schon seit einiger Zeit werden viele kanonische Entwürfe nicht mehr allein in einer dem ursprünglichen Entwurf folgenden Version angeboten, sondern in Materialität und Auftreten renoviert, an veränderte Wohnstile angepasst und weitergedacht. Die aus Anlass der Documenta 12 für die Kunst formulierte Frage, ob die Moderne womöglich unsere Antike sei, scheint im Möbeldesign angekommen zu sein. Im Unterschied zur Kunst lebt jenseits der Museen im Design als „Original“ offenbar nur fort, was sich an den Wandel des Geschmacks anzupassen lohnt. Handelt es sich dabei nur um einen kurzfristig wirksamen Effekt oder steckt mehr dahinter? Ist der Rückgriff nur ein Zwischenspiel, das zur Kühlung eines zum Überhitzen neigenden Betriebs beiträgt? Oder offenbart sich darin ein Zeichen von Ermüdung?
Worüber wir reden, wenn wir von der Moderne oder von Modernität sprechen, bleibt freilich vage und unklar. Die Moderne – das ist ein unentwirrbares Knäuel aus vielen einzelnen, ineinander verschlungenen Fäden. Manche reichen weit in die Vergangenheit zurück bis zum Beginn der Neuzeit. Andere sind verknüpft mit Fragen der Legitimität, der Kontingenz, der Aufklärung, der Rationalität und des Wirtschaftens, wieder andere mit Kolonialismus, Eurozentrismus, institutionellen Prozessen und nicht zuletzt mit dem Zerfall eines religiösen Weltbildes und dem Entstehen einer profanen Kultur.
Am Stand von Thonet lernen einige schon fliegen. Foto © Thomas Wagner, Stylepark
Im Möbeldesign ist die Sache vergleichsweise einfach. Modern nennen wir hier schlicht all jene Objekte, die, grob gesprochen, in dem Zeitraum zwischen Ende des 19. und Mitte des 20. Jahrhunderts entstanden sind. Was danach kam, ordnen wir der Einfachheit halber pauschal unter „Mid-Century-Modern“ oder gleich unter Post-Moderne ein. Mit Post-Moderne wird eine Phase bezeichnet, in der offenbar wurde, dass an die Stelle einer Legitimation durch große, sogenannte „Meta-Erzählungen“ eine vielfältige heterogene Praxis getreten ist. In unserem Fall bedeutet das, dass ein zuallererst an sozialen, funktionalen, ökonomischen und emanzipatorischen Aspekten orientiertes Design abgelöst wurde von einer Vielfalt konkurrierender Stile und einem mehr oder weniger ungehemmten Zugriff auf die Bestände der Tradition.
Am Stand von Knoll International begegnet man gleich zwei Helden: der Moderne und Ludwig Mies van der Rohe. Bei Geschichte und Programm des Herstellers kann das wenig überraschen. Das werbende Motto „Knoll is Modern Always because modern always works“ weist auch dieses Jahr den Weg. In der Dimension der Selbstinszenierung steckt freilich mehr. Geschickt versteht man es bei Knoll Int., den Rückgriff auf „die Moderne“ und einige ihrer Protagonisten einerseits mit der Legitimation der Gegenwart durch die Geschichte zu verknüpfen. Andererseits dient der Verweis auf ein „Modern Always“ in zeitlicher Perspektive dazu, sowohl die modernen Klassikern der Marke, als auch aktuelle Neuheiten wie Piero Lissonis Sofa „Avio“, so zu positionieren, dass sie „stets über die Modetrends hinausgehen und zur Zeitlosigkeit bestimmt sind“.
Knoll Int. hat auch in diesem Jahr Rem Koolhaas und sein Rotterdamer „Office for Metropolitan Architecture“, kurz OMA, mit der Planung des Standes betraut. Das passt schon deshalb ins Bild, weil man sich bei der Bewältigung der Aufgabe bei OMA architekturhistorischen Versatzstücken aus Mies van der Rohes legendärem Barcelona Pavillon (Glas, Wände aus grünem Marmor etc.) bedient und den offenen, fließenden Raum obendrein mit Spiegeln durchsetzt, die dessen zusammenhängende Wahrnehmung stören. (Dass diese hier und da an Michelangelo Pistolettos „Oggetti in meno“ aus den 1960 Jahren erinnerten, steht auf einem anderen Blatt.) Offiziell lautet die Parole: „Atmosphäre“. Im Kern wiederholt der Stand freilich exakt das Paradox, modern und zeitlos zugleich aufzutreten. Ein berühmter Bau der modernen Architektur wird post-modern herbeizitiert, zugleich aber ironisch gebrochen und in einzelne Versatzstücke aufgelöst.
Die Methode beschreibt hinreichend genau die Art und Weise, wie derzeit mit „Klassikern der Moderne“ verfahren wird. Sie werden verehrt wie allseits bekannte Designikonen. Gleichwohl wird ihnen ihre moderne Seele geraubt und durch eine neue ersetzt. Sie ähneln dabei jenen historischen Bauten, die bis auf die Fassade abgerissen und entkernt werden, um sie in ein zeitgenössisches Gebäude zu verwandeln, dem seine historische Bedeutung nur noch wie eine Maske übergestreift wird. Auch dabei geht es weniger um historische Treue als um Atmosphäre.
„Avio“, das neue Sofa nebst Marmortisch von Piero Lissoni für Knoll International, wird entsprechend in Szene gesetzt. Foto © Knoll International
Zwei /// Metamorphosen oder Alt wird neu
Andererseits: Es ist nichts falsch daran, aus Kenntnis und Pflege der Tradition heraus nach neuen Wegen zu suchen. Pauschal betrachtet spielen Entwürfe aus der Zeit der klassischen Moderne und des Mid-Century-Modern auch 2016 keine größere Rolle als bisher schon. Auch früher – man denke nur an die Plastic-Chairs der Eames – wurde renoviert, wurden die „Originale“ in Farbe und Material veränderten Bedingungen – produktionstechnischen, ökologischen, ökonomischen und solchen des Geschmacks – angepasst.
Auf dieser Grundlage werden auch bei Cassina, wo man seit langem über das Erbe vieler Klassiker – „I Maestri“– von Le Corbusier bis Charlotte Perriand und Frank Lloyd Wright wacht, neue Wege eingeschlagen. Mit der Ende 2015 erfolgten Ernennung von Patrica Urquiola zur Art Direktorin hat Cassina begonnen, seine Kollektion aufzufrischen. Beim Salone wurde sichtbar, was Urquiola meinte, als sie bei Bekanntgabe der Zusammenarbeit gesagt hatte, sie wolle „den kulturellen Hintergrund des Unternehmens nicht als passiven Behälter, sondern als System verstehen, in dem eine Beziehung voller kreativer Empathie entstehen kann.“
Auch bei Cassina spielte die Gestaltung des Messestandes eine zentrale Rolle. Zu ihrem Standdesign inspirieren ließ sich Urquiola nämlich von Gerrit Rietvelds temporärem Sonsbeek-Pavillon von 1955, der später eine dauerhafte Bleibe im Garten des Kröller-Müller Museums in Otterlo fand. In dieser architektonischen Reminiszenz aus Formsteinen finden sich nun die Klassiker als solche, aufgefrischt wie Gerrit Rietvelts Sessel „Utrecht“ mittels eines Stoffs von Bertjan Pott, sowie neue Entwürfe, die das „System“ ergänzen.
Patricia Urquiola selbst steuert zu den Neuheiten mit „Gender“ einen extravaganten Sessel bei, der sich mal eher feminin, mal eher maskulin dekorieren lässt. Philippe Starck überdenkt abermals das „klassische Sofa“ und bestätigt den Zug ins Überzeitliche, wenn er die „zeitlose Eleganz“, das Charme genannte „je ne sais quoi“ einer „zeitlosen Eleganz“ hervorhebt und seinem Sofa „Volage EX-S“ bescheinigt, es sei die „Essenz der Zeitlosigkeit“. Allein Konstantin Grcic wagt mit seinen fünf aus dünnem Metall gefalteten „Props“ einen radikalen Vorstoß ins Konstruktiv-Skulpturale.
Auch bei Zanotta hat man sich schon lange und erfolgreich um eine Mischung aus Klassikern und zeitgenössischen Entwürfen bemüht. Trotzdem fällt auf, dass als Star der Messe in diesem Jahr ein Tischentwurf der besonderen Art auftritt: „Fenice“, ein ellipsoider Solitär, von Piero Bottoni ursprünglich für die 1936/37 gemeinsam mit Mario Pucci gebaute Villa Muggia in Imola entworfen.
Der Tisch „Fenice“ nach einem Entwurf von Piero Bottoni am Stand von Zanotta. Foto © Thomas Wagner, Stylepark
In der Villa war der Tisch aus armiertem Beton vor Ort realisiert worden – angeblich als erster moderner Tisch mit einem einzigen zentralen Fuß. In den 1940er Jahren hatte Bottoni den Tisch noch zweimal in Holz ausgeführt, 1951 wurde die Tischskulptur dann noch einmal, in einer vier Meter langen Betonversion, bei der IX. Triennale gezeigt. Die Villa, im Zweiten Weltkrieg bombardiert, ist heute eine Ruine. Der Tisch aber steht noch. Nun ist dieser aschgrau schimmernde Phönix in einer nummerierten High-Tech-Version aus zementverkleidetem Polimex® mit Acrylfinish und nanotechnologischer Fleckenschutzbehandlung mit Titandioxid wieder auferstanden, unterstützt vom Bottoni-Archiv des Mailänder Polytechnikums, wo ein Modell der Triennale-Version aufbewahrt wird.
Bei Zanotta, wo Damian Williamson mit „Botero“ ein ebenfalls recht mächtig auftretendes modulares Sofa vorgestellt hat, findet sich noch ein weiteres Beispiel dafür, wie heute mit dem Erbe der Avantgarde verfahren wird. Als Hommage an den exzentrischen Carlo Molino erscheint dessen Tisch „Reale“ von 1946 nun in einer Version aus einem Walnuss-Gestell mit dunkler Marmorplatte oder aus einem weiß gestrichenen Gestell aus Eiche mit einer hellen Platte aus Carrara-Marmor. Der Dreh ist unverkennbar: Die Ahnen, in ihrer Materialität veredelt, werden vollends ins Überzeitliche katapultiert, in jene Sphäre, die die Moderne im harten Bruch mit der Tradition gerade hatte hinwegfegen wollen.
Drei /// Das große Schweigen
Bedeutet das: Die einstigen Vorreiter des frühen 20. Jahrhunderts wie Rietveld, Breuer oder Stam, aber auch andere bis hin zu Vertretern des Mid-Century-Modern, geben noch immer die Richtung vor? Was wäre stattdessen – dächte man politisch und sozial im Geist der Moderne – angemessen in solch unruhigen Zeiten wie den unseren? Eines sicher nicht: Blattgold und Luxusleder, noch größere, noch üppigere, noch teurere Sofalandschaften, noch mehr Marmor und noch mehr Glas. Seltsam ist auch: Nachdem die Branche wer weiß wie lange auf dem Begriff der Nachhaltigkeit herumgeritten ist, werden derartige Ansätze aktuell zumindest nicht eigens herausgehoben.
Im Treibhaus ambivalenter Gefühle wachsen derzeit offenbar kaum sozial-utopische Wünsche. Unter Marmor und Gold verborgen bleiben unbestimmte Ängste und schlechtes Gewissen. Einst waren es gut gestaltete, dem Sozialen verpflichtete Dinge, die die Welt verbessern sollten. Heute weiß man in der Möbelbranche und unter Designern offenbar immer weniger, wie Wohnen und Denken zusammenkommen können. Hatte Richard Buckminster Fuller etwa nicht prophezeit, es wären die Designer, die das „Raumschiff Erde“ zu retten hätten? Not-Wohnungs-Konzepte oder Wohnungs-Not-Konzepte – in Mailand war nichts davon zu sehen. Großes Schweigen. Eine neue Härte oder, von mir aus, auch eine neue Sparsamkeit? Eine Ästhetik und eine Ökonomie der Askese? Oder eine des Protests? Andere Formen und Formeln des Luxuriösen? – Wo wird alles das diskutiert? Wo finden sich Vorschläge und Rezepte jenseits des Üblichen? Wo bleiben kluge Ansätze für das Wohnen der Jungen? Wo jene für die Alten?
Eine Wächterfigur von Fabio Novembres Schädelraum in der Schau „Stanze“. Foto © Thomas Wagner, Stylepark
Vier /// Spekulative Post-Design Praktiken
Die Ausstellung „Stanze“ der Triennale hätte eine Gelegenheit sein können, darüber nachzudenken, wie das globale Interieur einer noch nicht ganz verspielten Zukunft gestaltet werden könnte – diesseits von Ideen, die Wohlfühlblase in den reichen Weltgegenden noch komfortabler auszupolstern. Die Chance wurde leichtfertig vertan. Leider. Vielleicht lag es ja daran, dass man das Nachdenken auf Innenarchitektur beschränkte.
Hatte man beispielsweise darauf gehofft, Carlo Ratti würde modellhaft eine Reflexion über die Folgen der Immaterialität des Digitalen oder die Wohnung als Datenpool und kybernetische Einheit anstellen, so erwarteten einen in Gestalt sechseckiger Elemente nur Schwere und biedere Hydraulik. Fehlte nur noch die Dampfmaschine. Auf Praktiken jenseits dessen, was Design für gewöhnlich in Objekte fasst, hoffte man hier jedenfalls vergebens.
Fünf /// Esel haben sehr gute Ohren
Was die Tendenz zur Renovierung der Klassiker der Moderne angeht, so wäre noch anzumerken: Zumeist ist an dem, was und wie es gemacht wird, auf den ersten Blick wenig auszusetzen. Als anstößig mag allein empfunden werden, dass hier etwas brav gemacht, dem oberflächlichen Zeitgeist angepasst, ihm unterworfen wird. Wahrscheinlich ist es das, was man diesem fröhlich post-modernen Treiben vorhalten möchte, dass es sich über die Geschichte erhebt, ja Verrat an ihr begeht. Zugleich aber wissen wir: Eben das beschreibt den epochalen Wandel unter veränderten Erfolgsbedingungen wie medialer Zirkulation und Aufmerksamkeitsökonomie.
Ettore, der muntere und belastbare Esel, in all den Mailänder Tagen und Nächten unser treuer Begleiter, weiß all das auch. Wenn er trotzdem mal wieder nicht weiterweiß, bleibt er einfach stehen und lauscht. Mit seinen langen Ohren, die sich unabhängig voneinander in alle Richtungen drehen lassen, hört er das Gras von morgen wachsen. Falls er sich dabei fragt, ob er über die Veränderungen traurig sein oder fröhlich weitertraben soll, so ruft er einfach: I-Ah, I-Ah, I-Ah. Nächstes Jahr ist wieder Salone. Cheerio!