MOBILITÄT
Weniger ist mehr
Anna Moldenhauer: Frau Dr. Gaffron, ist der Traum zurück zu einer Innenstadt des Flanierens in unserer hektischen Gegenwart wirklich zeitgemäß?
Philine Gaffron: Ja, ich denke schon. Es kommt allerdings darauf an, was wir als Innenstadt bezeichnen. Da gibt es ein breites Spektrum im Hinblick auf Raumqualitäten und -aufteilungen, die sich auf die Attraktivität für das Flanieren auswirken. Es gilt jedenfalls die Vorzüge einer lebendigen Innenstadt zu erhalten. Oder sie wieder erlebbar zu machen. Straßengesellschaft, spontane Begegnungen, das Raumerleben in der Stadt. Das würde auch dem Einzelhandel entgegenkommen, der schon abseits der Pandemie bedingt durch den Onlinehandel vielerorts Verluste verzeichnet hat.
Welche Auswirkungen hätte eine autofreie Innenstadt auf die Anwohner?
Philine Gaffron: Es würde zum Beispiel leiser sein. Die Dichte von Fahrzeugen mit Verbrennungsmotoren führt dazu, dass der Lärm in zentralen Stadtquartieren vielerorts hoch ist und sich auch nachts oft auf einem Niveau befindet, das als gesundheitsschädlich erachtet wird. Das führt zu Schlafstörungen und wird auch tagsüber oft zum unbemerkten Stressfaktor, der sich negativ auf das Wohlbefinden auswirkt. Natürlich machen nicht nur Autos Lärm – aber eben generell den meisten. Es gäbe auch mehr Platz, denn die Größe des öffentlichen Raums ist in Innenstädten ja meist wenig variabel. Die Option zur Veränderung besteht in der Aufteilung, durch die man unterschiedliche Qualitäten schafft. Allerdings ist bei der Begrifflichkeit Vorsicht geboten, denn ganz "autofrei" wird eine Innenstadt nie sein. Lieferverkehre und Anlieger mit Tiefgaragen zum Beispiel brauchen natürlich eine Genehmigung dort fahren oder halten zu dürfen.
Wäre "autoreduziert" ein besserer Begriff?
Philine Gaffron: Nun, der Begriff "Fußgängerzone" ist rechtlich klar definiert, bietet damit aber auch weniger Gestaltungspielraum. Also ja, autoreduziert, fußgängerfreundlich, da gibt es vieles, das besser passen würden, je nach tatsächlicher Regelung. "Autofrei" ruft hingegen sehr oft falsche Erwartungen und unnötige Ängste auf den Plan.
Welche Bedingungen müssten Ihrer Meinung nach geschaffen werden, damit das Konzept einer fußgängerfreundlichen Innenstadt funktionieren kann?
Philine Gaffron: Wichtig ist zu wissen wo die Menschen herkommen und welche Mobilitätsoptionen sie für den Weg in die Innenstadt haben – außer dem Auto. Wie wird das Konzept gestaltet und begleitet, mit der Umverteilung von Straßenraum, mit verbesserten Angeboten bei den Öffis, mit Parkraumbewirtschaftung etc.? Untersuchungen haben gezeigt, dass der Parksucherverkehr oft einen großen Anteil am Verkehrsgeschehen in der Innennstadt hat. Wenn klar ist, dass in bestimmten Bereichen nicht mehr geparkt werden kann, oder nur noch in Parkhäusern, wird dieser Anteil natürlich weniger. Parallel müssen solche Maßnahmen gut kommuniziert werden – und mit ausreichend Vorlauf. Die Menschen müssen Zeit haben, sich auf die Veränderung einzustellen. Das fördert die Akzeptanz der Maßnahme. Natürlich gibt es fast immer extreme Positionen, die man nicht befrieden kann, aber der Austausch und das Ernstnehmen von aufkeimenden Sorgen ist bei solchen Projekten sehr wichtig.
Mittlerweile diskutiert fast jede große Stadt die Idee von autoreduzierten Abschnitten, sei es Paris, Hamburg, Frankfurt/Main, Berlin oder Wien. "Wir müssen endlich auf Grün schalten", fordert Anne Hildago, die Bürgermeisterin von Paris. Woran scheitern die Projekte Ihrer Meinung nach oft noch?
Philine Gaffron: Da gibt es nicht die "eine" Antwort, da jede Stadtsituation unterschiedlich ist, auch mit Blick auf die politischen Bedingungen. Das Bundesumweltamt gibt alle zwei Jahre eine Studie zum Umweltbewusstsein in Deutschland heraus. Laut dieser wächst prinzipiell in der Bevölkerung das Bewusstsein, ja der Wunsch, das sich etwas ändern soll. Mobilität geht allerdings einher mit Gewohnheit. Die umstellen zu müssen wird oft als anstrengend, vielleicht auch als verunsichernd oder gar ungerecht empfunden. Dann entstehen im Konkreten doch schnell Widerstände. Die Gegenstimmen werden zudem oft lauter gehört als die, die Pläne befürworten. In der Außenwahrnehmung wirken die Diskussionen um eine autoreduzierte Innenstadt dann vielleicht wie eine riesige Kontroverse, obwohl eine stille Mehrheit dafür ist. Das hat aber zur Folge, dass es aus politischer Sicht nicht sonderlich attraktiv ist, solche Projekte anzustoßen. Im Fall des temporären Flanierquartiers in Hamburg-Ottensen hat die abschließende Evaluation zum Beispiel ergeben, dass die Mehrheit der Haushalte, Gewerbetreibenden und PassantInnen prinzipiell dafür waren, dass das Projekt fortgeführt wird, wenn auch mit vielen Vorschlägen für Veränderungen.
In den Diskussionen um eine autoreduzierte Innenstadt wird öfters argumentiert, diese würde sich zum Nachteil aller auswirken, da der Verkehr in die umliegenden Bereiche drängt. Was entgegnen Sie diesen Stimmen?
Philine Gaffron: Ja nachdem wieviel – oder wenig – echten Durchgangsverkehr es vorher gab, entstehen gar nicht immer massive Ausweichsverkehre. Wenn sich das Mobilitätsangebote ändert und Menschen ihre Gewohnheiten umstellen, verschwinden oft auch erhebliche Anteile des motorisierten Verkehrs. Es gibt aus den späten 90iger Jahren ein gutes Beispiel: eine der Brücken, die in London über die Themse führt, war marode und musste für die Sanierung komplett gesperrt werden. Nachdem sie wieder geöffnet wurde, hat es Jahre gedauert, bis der Verkehr dort auf dem Niveau war wie zuvor. Die Menschen hatten sich in der Zwischenzeit einfach anders organisiert. In Hamburg musste 2017 eine vielbefahrene, zentrale Kreuzung wegen eines Wasserohrbruchs von heute auf morgen gesperrt werden. Diese Maßnahme wurde ohne viel Protest als Resultat von "höherer Gewalt" akzeptiert und es hat nicht dazu geführt, dass der Verkehr in der Umgebung zusammengebrochen ist. Das zeigt, dass in manchen Fällen sogar sehr kurzfristige Änderungen der Verkehrsfürhung auch ganz ohne flankierende Maßnahmen umsetzbar sind. Für die Akzeptanz von geplanten Veränderungen braucht es natürlich schon etwas mehr.
Stehen wir uns mit dem menschlichen Hang zur Gewohnheit also bei der Umsetzung autoreduzierter Innenstädte selbst im Weg?
Philine Gaffron: Mobilität hat viel mit Psychologie zu tun. Bei einem Fall von höherer Gewalt, auf den ich mich kurzfristig einstellen muss, bringe ich die notwendige Akzeptanz auf. Erstens gehe ich davon aus, das es irgendwann wieder so wie vorher wird und zweitens bleibt eh keine keine Wahl. Das bringt mich zu einem Prinzip, das in der Psychologie als der "Odysseus-Kontrakt" bezeichnet wird. Sprich, man kann gute Vorsätze – also zum Beispiel nicht dem Gesang der Sirenen erliegen – am besten umsetzen, wenn man sich selber dazu zwingt - in Odysseus Fall, indem man sich an den Mast binden lässt. In manchen Bereichen der Mobilität ist es ähnlich. Nachhaltige Verhaltensänderungen brauchen mitunter Zwang oder Verbote, manchmal auch im Hinblick auf soziale Gerechtigkeit. Wenn alle etwas dürfen oder nicht dürfen, dann wird es eher akzeptiert und ist möglicherweise gerechter, als über den Preis zu steuern.
Welche Maßnahmen für die Gestaltung des öffentlichen Raums sind in der verkehrsreduzierten Innenstadt wichtig?
Philine Gaffron: Der Straßenverkehr wird in der Wahrnehmung des öffentlichen Raums oft gleichgesetzt mit Lebendigkeit, auch wenn das irrational ist. Daher ist es sehr wichtig, dass möglichst schnell neue Qualitäten im öffentlichen Raum sichtbar, erlebbar werden. Bepflanzung, Stadtmobiliar, Kunstprojekte – vielleicht auch erst mal als temporäre Maßnahmen, wenn die Veränderung zunächst probehalber eingeführt werden soll. So kann eine Aneignung stattfinden und die Menschen erleben konkret, dass sie in einer autoreduzierten Innenstadt nicht nur Platz, sondern auch neue Qualitäten gewonnen hat. Das fängt schon bei einem attraktiven Angebot von Sitzmöbeln im öffentlichen Raum an.
Inwiefern kann Architektur helfen, das Ziel der umweltfreundlichen Innenstadt zu fördern?
Philine Gaffron: Was ich mir wünschen würde, ist das die Vielfalt der nichtmotorisierten Mobilität besser mitgedacht wird, vom Lastenfahrrad bis zum Rollator. In der Seestadt Aspern in Wien, einem der größten zeitgenössischen Stadtentwicklungsgebiete Europas, gibt es beispielsweise gut einsehbare, sichere Räume für jede Art von Mobilitätswerkzeug, Abstellanlagen speziell für Tretroller und Kinderwagen und viele weitere Angebote. Die Architektur kann sehr helfen, gemeinschaftliche Lösungen zu realisieren, die nicht mehr dem motorisierten Verkehr Vorrang geben, sobald man vor die Haustür tritt.
Wären vollautomatisierte Fahrzeuge eine Mobilitätsalternative für autoreduzierte Innenstädte?
Philine Gaffron: Ich glaube schon, das autonome Fahrzeuge eine Rolle spielen können in der Zukunft, aber ich sehe sie nicht als Allheilmittel. Es wäre ein großer Fehler, die Infrastruktur in unseren Innenstädte wieder nach Fahrzeugen auszurichten. Zudem glaube ich nicht, dass autonome Fahrzeuge wirklich so schnell in der Masse auf den Straßen unterwegs sein werden, wie Automobilhersteller es mitunter suggerieren. Das vollautonome Fahrzeug wäre meiner Ansicht nach eher ein ergänzendes Verkehrsmittel, zum Beispiel in Form von kleinen Bussen für mobilitätseingeschränkte Personen oder für die Anbindung von Randgebieten. In den Innenstädten überlagern sich ohnehin oft schon viele Mobilitätsangebote, die Lücken bestehen eher in Außenbezirken, besonders in Randzeiten.
Sie lehren und forschen am Institut für Verkehrsplanung und Logistik der Technischen Universität Hamburg – wie nehmen Sie das Interesse ihrer Studenten für das Themenfeld autoreduzierte Innenstädte wahr?
Philine Gaffron: Es gibt ein großes Interesse auf Seiten der Studierenden und auch bei SchülerInnen, sicher auch bedingt durch die Fridays for Future-Bewegung. Dennoch stelle ich da mitunter Widersprüche fest – beispielsweise wird die umweltbewusste Mobilität als wichtig empfunden, aber auf das Auto zu verzichten käme trotzdem für viele nicht in Frage, da es als Sinnbild für eine autonome Mobilität verstanden wird. Je nach Wohnlage ist das aktuell oft auch nicht einmal falsch. Leider. Das ist ein Punkt, den wir dringed ändern müssen. Der Verkehr ist der drittgrößte Verursacher von CO2-Emissionen und der einzige Sektor, in dem der Ausstoß seit 1990 nicht gesunken ist. Die Frage ist, ob wir auch abseits der pandemiebedingten Beschränkungen dazu bereit sein werden, die nötigen Veränderungen zu akzeptieren und unsere Mobilitätsgewohnheiten entsprechend zu verändern. Es wäre schön, wenn wir das schaffen, solange wir noch alle gemeinsam Lösungen gestalten können.