MOBILITÄT
Der dritte Lebensraum
Vorbei die Zeiten, in der man zahlreiche Stunden im Stau vertrödelt, der Blutdruck schon frühmorgens dank diverser Kamikaze-Manöver anderer Autofahrer in die Höhe schnellt und der Rücken nach langen Fahrten schmerzt: Das autonome Fahren verspricht Zeitersparnis, Komfort und Effizienz. Für Deutschland und die USA sind die Entwicklungsschritte zum selbstfahrenden Automobil in einer fünfstufigen Klassifizierung geregelt: Von der Stufe eins, in der sich die Unterstützung des Fahrzeugs für den Lenker auf Warnsignale beschränkt, bis zur Stufe fünf, in der der vormalige Fahrer zum Passagier wird. Testprogramme für die autonomen Systeme finden international statt und Funktionen wie die Einparkautomatik sind in Oberklassefahrzeugen bereits erhältlich. Rein technisch gesehen wäre allerdings sehr viel mehr möglich, denn die aktuellen Concept Cars der Automobilhersteller zeigen Lösungen im Bereich der Stufen vier und fünf, sprich für vollautomatisiertes und autonomes Fahren. Auch das Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO stellt in der Akzeptanzstudie "Robocap" aus diesem Jahr fest, dass "die Umsetzung des hochautomatisierten Fahrens kurz bevor steht, was bedeutet, dass das Fahrzeug in bestimmten Situationen, wie auf der Autobahn oder im Stau, selbstständig fahren kann und keine dauerhafte Überwachung durch den Fahrer erforderlich ist. Zunehmend können mehr Fahraufgaben vom Fahrzeug übernommen werden, bis es letztlich in jeder Situation voll handlungsfähig und somit vollautomatisiert sein wird". Wenn man konkrete Zahlen wissen möchte, fällt in den Pressemeldungen der Automobilhersteller oft das Jahr 2024 als gesetztes Ziel: Die BMW Group und Daimler AG möchten dann bereit sein, Fahrassistenzsysteme sowie automatisierte Parkfunktionen in PKW-Modellen einzuführen, Hyundai will 2024 sogar schon mit der Serienproduktion autonomer Fahrzeuge beginnen.
Luxus für die Work-Life Balance
Das Design der autonomen Forschungsfahrzeuge richtet sich ganz nach dem jeweiligen Nutzen: Private PKWs und Mietwagen sollen in der Innenraumgestaltung einen bislang unbekannten Komfort bieten, der die Work-Life-Balance ideal unterstützt. "Das Auto wird immer mehr zu einem 'dritten Lebensraum' – neben der Wohnung und dem Arbeitsplatz", stellt Josef Schloßmacher, Kommunikation Produkt und Technologie bei Audi, fest. Mit flachen Silhouetten aerodynamisch gedacht und elektrisch betrieben, wirken die Entwürfe in der Gestaltung sportlich – beim Modell "I.D. Vizzion" von Volkswagen verschwindet die Lithium-Ionen-Batterie für den emissionsfreien Antrieb beispielsweise komplett im Unterboden, die Vorderachse wird weit nach vorne gesetzt. Ist ein Modell auf rein autonome Steuerung ausgelegt, fallen zudem Lenkrad, Fußhebelwerk und Armaturentafel weg.
Kompakt wirken die bislang für die Oberklasse gedachten Fahrzeuge trotz der flachen und dynamischen Form trotzdem nicht. Vergleicht man die geplanten Abmessungen, sind diese eher mit den heute gängigen, geräumigen Sportlimousinen vergleichbar. Das hat gleich mehrere Gründe: Mit der Umstellung auf den elektrischen Antrieb reduziert sich zwar der Bedarf an Hubraum, der gewonnene Platz kann stattdessen aber als Stauraum genutzt werden. Für das Gepäck bleibt beim Audi "Aicon" im vorderen und hinteren Fahrzugbereich insgesamt rund 660 Liter. Auch die Technik der Assistenzsysteme braucht ausreichend Platz, denn "die im zivilen Bereich bisher nicht eingesetzten Technologien wie optische Systeme, Radare etc. sind entsprechend umfangreich und wollen auch in einem Privatfahrzeug gut verstaut sein", so Kai Langer, Head of BMW i Design. Großzügig gedacht ist zudem die Dimension der Passagierkabine: Über gegenläufig öffnende Türen und mit dem Verzicht auf eine B-Säule, bietet sich für den Fahrgast eine mobile Lounge, die auf ein höchstmögliches Wohlbefinden ausgerichtet ist.
Seidensamt und Farbakzente
Auf die Innenausstattung der selbstfahrenden Fahrzeuge wird in den Concept Cars viel Wert gelegt: Feine Lederbezüge, exotische Hölzer, hochfloriger Teppich – überspitzt dargestellt zeigen die Entwürfe wie ein möglichst wohnliches, exklusives und individuelles Design des autonomen Automobils anmuten könnte. Optische Hingucker sind dabei durchaus gefragt: Für den Citroën "19_19 Concept" werden die breiten Liegen im vorderen Bereich wie die hintere Sitzreihe im Sofastil mit Bezügen in Ultraviolett und Weiß versehen. BMW trennt für den "Vision iNEXT" optisch Cockpit und Font: Während vorne Nude-Töne mit metallischen Akzenten überwiegen, zieht im hinteren Teil ein petrolfarbiger Jacquard-Stoff von den Sitzflächen zu den Seitenwänden und der Heckablage. Peugeot mischt indes für den "e-Legend Concept" einen technischen Stoff mit Seidensamt, der die digitalen Elemente umschließt und eine besonders angenehme Haptik bieten soll.
Zur entspannt-wohnlichen Atmosphäre gehören auch aufwendige Filtersysteme um störende Emissionen nicht in das Fahrzeuginnere dringen zu lassen sowie die Reduzierung des Lärmpegels: Für die Studie "AI:ME" koppelt Audi die Audioanlage mit einer Geräuschkompensation, so dass während der Fahrt im Innenraum Stille herrscht. Im Citroën "19_19 Concept" werden personalisierte Inhalte an jeden Passagier in einer eigenen Klangblase gesendet. Ein "Reiseerlebnis" soll geboten werden, dass wie beim Volvo "360c concept" die Möglichkeit bequem zu schlafen ebenso bietet, wie den mobilen Arbeitsplatz und Entertainment Space. Für eine zusätzliche Steigerung des Fahrerlebens dienen große Fensterflächen, die von außen nicht einsehbar sind. Für das perfekte Panorama wird das Dach gleich mit verglast. Man möchte, wie es Citroen für den "19_19 Concept" formuliert, den Eindruck einer "schwebenden" Kabine vermitteln. Da das komfortable Gefühl von ausreichend Beinfreiheit im Innenraum des Autos währenddessen nicht durch zu viele Sitzplätze gemindert werden soll, finden in den aktuellen Forschungsmodellen meist maximal vier Sessel Platz.
Die Gestaltung soll für das personalisierte Reiseerlebnis bis in die Details auf den Punkt sein: Von der Optik und Haptik der Stoffe, komfortablen Memory-Schaum in den Sitzen über echte Pflanzen bis zum Parfümspender, der beim Peugeot "e-Legend Concept" zum Einsatz kommt. "Da die Aufmerksamkeit der Passagiere nicht mehr auf dem Fahrgeschehen liegen muss und das Lenkrad als haptisches Zentrum wegfällt, wird die Informationsvielfalt des Designs im Fahrzeuginnenraum höher", so Kai Langer, Head of BMW i Design. Der Fokus der Gestaltung liege nun auf raffinierten Details und hochwertigen Materialien. "Für das Interieur des BMW I-Next haben wir uns stark an Boutiquehotels orientiert. Die Mittelkonsole wirkt wie ein Sideboard und auch sonst ist der Innenraum eher nach den Richtlinien eines Wohninterieurs betrachtet", fügt Langer an. Mit Blick auf diesen luxuriösen Komfort und das hohe Maß an Privatsphäre soll das selbstfahrende Auto gegenüber den öffentlichen Optionen wie Bahn und Flugzeug auch auf Langstrecken punkten. Flexibilität und Individualisierung sind dabei zwei Schlagworte, die für das Innenraumdesign der autonomen PKWs an Bedeutung gewinnen. Beispielsweise in der Bewegung der ergonomischen Sitze: Je nach Wunsch können diese in zahlreiche Sitz- und Liegepositionen gedreht, geschwenkt und geneigt werden, um sich im autonomen Fahrmodus zu entspannen oder mit den weiteren Passagieren angenehmer kommunizieren zu können. Ausklappbare Plattformen und Bildschirme bieten darüber hinaus die Option, während der Fahrt zu arbeiten oder ein Meeting abzuhalten.
Das intelligente Auto
Für die Sicherheit sowie für das jeweils gewünschte Entertainment sorgt indes ein digitaler Assistent, wie beim Volkswagen "I.D. Vizzion": Mit Hilfe von künstlicher Intelligenz ist der Host sowohl hinsichtlich der möglichen Gefahren im Straßenverkehr wie für die Wünsche der Passagiere lernfähig. Über Gesichtserkennung registriert das System seine Gäste und speichert deren individuelle Vorlieben – beispielsweise hinsichtlich Sitzeinstellung, Raumtemperatur oder Musikgeschmack. Im Audi "AI:ME" soll zudem der Stresszustand der Passagiere für Vitalparameter ermittelt werden, um auf diese dann seitens der Komfortfunktionen positiv einzuwirken. Mit Sprach- und Gestensteuerung versehen, wäre die digitale Steuerung auch vor Fehl- und Fremdeingriffen geschützt: Beim "Citroen 19_19 Concept" kommuniziert das Automobil so vom Einstieg bis zum Ausstieg über Sprachsteuerung und digitale Anzeigen. Das System erkennt, wenn sich der Fahrer dem Fahrzeug nähert, heißt ihn willkommen und zeigt mit animierten Grafiken die Funktionen des Autos auf.
Zur Ausstattung des Erlebnisraums dienen zahlreiche Bildschirme: Für den "F015" von Mercedez Benz sind im Innenraum aktuell sechs rundum installierte, in die Armaturentafel sowie die Rück- und Seitenwände integrierte Displays angedacht. Die virtuelle und die reale Welt sollen ineinander übergehen, indem für die Interaktion mit dem Fahrzeug kurze Gesten oder die Berührung der Bildschirme ausreichen. Für den "I.D.Vizzion" von Volkswagen ist zudem die Augmented Reality mittels Microsoft HoloLens geplant, sprich eine computergestützte Erweiterung der Realitätswahrnehmung. Optisch im Hintergrund hält sich die Technik hingegen beim "Vision iNEXT". "Shy-Tech" nennt Kai Langer, Head of BMW i Design, die versteckte Technik, deren Bedienung eher intuitiv geschehen soll. "Wir wollen den Menschen nicht mit komplexen Systemen überfordern, sondern ihm eine Wahl geben zwischen den hochtechnologischen Möglichkeiten, die die Waage halten zwischen Sicherheit, Komfort und Bevormundung", so Langer.
Praktisch und robust
Wo der autonome PKW für den Privatgebrauch noch in der Entwicklung steckt, ist die Forschung für das autonome Fahren im öffentlichen Nahverkehr schon einen großen Schritt weiter: Autonome Systeme für U-Bahnen gehören in zahlreichen Großstädten bereits zu unserem Alltag. Im Bereich der selbstfahrenden Shuttles bot Continental zur IAA 2019 gemeinsam mit EasyMile eine Probefahrt im Robo-Taxi "CUbE" an. In unter anderem Tokio und Paris testet der Hersteller Navya autonome Personentransporte, Mobilitätsdienstleister wie Uber, Lyft und Voyage arbeiten mit Hochdruck an der Bereitstellung des Service in den USA. Tesla und die Google-Tochter Waymo sorgen mit ihren Entwicklungen von Technologien für autonome Fahrzeuge bereits seit einigen Jahren für Schlagzeilen. Wie das fahrerlose System im großen Stil in einer komplett darauf abgestimmten Stadt aussehen kann, planen die Arabischen Emirate gemeinsam mit dem niederländischen Unternehmen 2getthere für die Musterstadt "Masdar". Und auch in zahlreichen deutschen Städten, wie im bayrischen Bad Birnbach, auf dem Klinikgelände der Berliner Charité oder in Keitum auf Sylt drehen schon autonome Busse ihre Runden entlang einer Teststrecke. Zwar sind bei der Mehrzahl der Projekte während der Fahrt noch Sicherheitspersonen anwesend, die in Notfällen eingreifen könnten. Dennoch gewähren die zahlreichen Angebote der Öffentlichkeit einen ersten Einblick in das Fahrgefühl eines autonom gesteuerten Systems. Auch an der temporären Nutzung des autonomen PKWs im Sinne des Carsharings wird gefeilt: Beispielsweise entwickelt Renault aktuell mit dem "EASY-ULTIMO Concept" ein selbstfahrendes, vernetztes und elektrisches Roboterfahrzeug. Dieses kann über eine Schnittstelle und Portierservices reserviert und gerufen werden und bietet den Fahrgästen umfangreiche technische Services, um die Reisezeit möglichst produktiv nutzen zu können.
Funktion vor Komfort
Luxuriöses Design und aerodynamische Karosserien sind im autonomen öffentlichen Nahverkehr weniger gefragt als Funktionalität. "Die individuellen Anforderungen an Fahrzeugeigenschaften, Karosserie und Ausstattung ändern sich mit dem jeweiligen Einsatz- und Nutzungszweck. Dabei wird das autonome Fahrzeug nicht als Prestigeobjekt, sondern als zuverlässiges Transportmittel bewertet.", führt das Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO in der Akzeptanzstudie "Robocap" aus. Wie breit gefächert das Designs autonomer Fahrzeuge im öffentlichen Nahverkehr sein könnte, zeigen die kreativen Entwürfe zur Michelin Challenge Design. Eine Jury aus Automobildesignern und Branchenexperten wählt hierfür jedes Jahr internationale Finalisten aus. Der Siegerentwurf des Wettbewerbs 2019 ist "Depot" von Jintae Tak, Minseok Choi, Doohee Lee und Joonyong Lee aus Seoul – ein autonom fahrendes Vehikel, dass als temporärer Arbeitsplatz wie ein Taxi gerufen wird und für die benötigte Dauer genutzt werden kann. Moritz Kirchhoff aus Hannover kreierte die bepflanzte Mobilitätsplattform "Urban Islands", die sich als autonomes Shuttle mit langsamer Fahrgeschwindigkeit durch die Stadt bewegt. Passagiere hätten jederzeit die Möglichkeit zuzusteigen oder die Plattform wieder zu verlassen. Und Siavash Jafari Jozani aus dem kalifornischen Novato kreierte mit "Waymo-Flow" ein Konzept für autonomes Carsharing, in der jeder Passagier über einen Slot für eine personalisierte Kapsel verfügt, die ihm individuellen Komfort bietet und mit Solarenergie gespeist wird. Bleiben auf dem Basisfahrzeug Slots frei, könnten diese in Jozanis Vision auch für den Transport verwendet werden, etwa für Paketzustellroboter. Im Rahmen des Projektes "New Living Space" haben zudem in diesem Jahr Absolventen des Studiengangs Transportation Interior Design der Hochschule Reutlingen mit fischer automotive systems kooperiert. Ergebnis war unter anderem das "Concept NLX" von Kimberly Miling und Sebastian Bopp – eine vollautomatisierte Fahrzeugkapsel für eine Person, die während der Fahrt die Außenluft ansaugt, reinigt und diese sowohl nach innen wie nach außen abgibt.
Komplexe Prozesse
Sicherheit, Komfort, Effizienz, Zeitersparnis und Barrierefreiheit sind Bereiche, in denen das autonome Fahrzeug in Zukunft punkten soll. Für die Umsetzung der autonomen Fahrzeuge im städtischen Mischverkehr arbeiten die Automobilhersteller aktuell bevorzugt in Partnerschaften an vielen Themen parallel – vom Design über die Sensortechnik, die Cyber Sicherheit bis zur Handhabung der Unberechenbarkeit des menschlichen Verhaltens, wie bei Geisterfahrern. Nach Alexander Hitzinger, Vorstand für Technische Entwicklung bei Volkswagen Nutzfahrzeuge, werden mit Blick auf den Stand der Entwicklung autonome Fahrzeuge bevorzugt in Bereich der Mobilitätsdienste eingesetzt werden, autonome Privatfahrzeuge eher im Premiumsegment. Auch Kai Langer, Head of BMW i Design, sieht die Umsetzung des gesamthaft autonomen Fahrens als langfristigen Prozess: "Technisch ist die angestrebte Autonomie bereits möglich, vom Einparkservice bis zum Stauassistent. Die Infrastruktur und die Konzepte der Architektur in einer gewachsenen Stadt ändern sich allerdings nicht von einem Tag auf dem anderen. Die Transformation zu einer autonomen Gesamtabdeckung braucht Zeit." Nach seiner Einschätzung wird sich die zeitnahe Umsetzung des rein autonomen Verkehrs in den Städten daher eher auf einzelne Areale beschränken. Der Individualverkehr, wie wir ihn aktuell erleben, würde uns parallel erhalten bleiben. Wie diese Symbiose aussehen kann, testet Toyota nächstes Jahr in Tokio: Das vollautomatisierte Forschungsfahrzeug P4 soll sich von Juli bis September 2020 im Stadtbezirk Odaiba in den öffentlichen Verkehr eingliedern.