Warum sollte es nicht möglich sein, das Motiv nationaler Eigenheiten anklingen zu lassen, ohne sich anzubiedern, mag sich Markus Schinwald gefragt haben, als er von der „Kommissärin" Eva Schlegel eingeladen wurde, den Österreichischen Pavillon der 54. Kunstbiennale zu bespielen. Wie es sich für eine gute Detektivgeschichte gehört, führen die Spuren, die er auslegt, zurück in die Vergangenheit. Genauer gesagt, in die Donaumonarchie des 19. Jahrhunderts, als Adalbert Stifter den „Hagestolz" vorlegte, das bürgerliche Wohnen in der Gründerzeit seinen Höhepunkt erlebte und Sigmund Freud in der Wiener Berggasse den sogenannten Hysterikerinnen sein Ohr lieh. Gehörte es bis vor Kurzem noch zum guten Ton, sich zur Feier des Karnevals der Kulturen, der alle zwei Jahre wieder in den venezianischen Giardini stattfindet, die Maske des institutionskritischen Künstlers überzustreifen und die Gültigkeit des Nationalbegriffs in Frage zu stellen, so dürfte dieser Gestus inzwischen als ein allzu akademisch einstudierter und beifallheischender entlarvt und somit obsolet geworden sein. Statt noch in der Negation an nationalen Bindungen zu kleben, bekennt sich Markus Schinwald freimütig dazu, von Sprache, Traditionen und Maßstäben geprägt zu sein.
Jegliches Pathos ist ihm fremd. Und auch wenn er sich sowohl der Malerei und der Skulptur als auch des Videos und der Rauminstallation bedient, so ist Schinwald doch alles andere als ein Multimedia-Künstler. Er ist einer, der es für notwendig hält, zu betrachten, zu überdenken und zu modifizieren, was da ist. Das mögen Modeartikel sein, was vor einigen Jahren zu einer Hybridisierung von Sneakers führte, die in ihrer verstörenden Dysfunktionalität das ideale Schuhwerk für die Verrenkungen einer auf Erfolg getrimmten Turnschuhgeneration zu sein schienen. Oder Fernsehformate wie die Sitcom, die er 2009 im Kunsthaus Bregenz reinszenierte, um die Theatralität in der zeitgenössischen Kunst auf die Spitze zu treiben. Ausgangspunkt ist diesmal der Österreichische Pavillon, der 1934 nach Plänen von Josef Hoffmann errichtet und in der Folgezeit um Anbauten und einen Innenhof ergänzt wurde.
Damit ein Bewusstsein von Körperlichkeit in die neutralisierende Architektur der Moderne Einzug halten kann, greift Schinwald zur Kunst der Verstellung: Den Eingang riegelt eine hohe weiße Wand ab, die in der Senkrechten von einem schmalen Schlitz durchzogen ist. Wer sich an diesem Blendwerk vorbeischlängelt, betritt einen Raum, dem eine Art von Kartonage implantiert wurde. Ein Labyrinth, nicht – wie bei Messen und Ausstellungen üblich – aus Stellwänden, sondern aus Hängekonstruktionen, die auf Bauchnabelhöhe enden. Dieses „Aufmerksamkeitskorsett", wie es Mirjam Schaub im Katalog nennt, durchwandern die Ausstellungsbesucher still und andächtig. Fixiert auf die Bilder und Objekte im schmalen Korridor, entgeht ihnen zuweilen, dass sie längst selbst zum Bestandteil der Kunst geworden sind. Denn aus Sicht der anderen sind die kopflosen Gestalten, die in einer eigentümlichen Mischung aus Diskretion und Voyeurismus dabei beobachtet werden können, wie sie von Wand zu Wand gleiten, die eigentliche Sensation. Den in Bewegung befindlichen Beinen, die sich – ob glatt oder behaart, ob von Hosen oder Röcken bedeckt, ob mit Sandalen oder Pumps beschuht – unaufhaltsam vorwärts schieben, korrespondieren reglose Tischbeine an den Wänden, die in Manier von konstruktivistischen Eckreliefs die Raumgrenzen überspannen.
Die gedrechselten Möbelstücke und die Ölgemälde aus der Biedermeierzeit, die in den Pavillon Einzug gehalten haben, hat Markus Schinwald auf Auktionen erworben. Kaum jemand wollte solche überkommenen Restbestände des bürgerlichen Lebens noch haben. Bis Schinwald sie zersägte, rearrangierte oder übermalte. Und so im Laufe eines Transformationsprozesses das unabänderlich Anthropomorphe zum Vorschein brachte (schon Erich Kästner wunderte sich, wie er in „Emil und die Detektive" schreibt, darüber, dass ihm so lange entgangen war, dass Stuhlbeine Waden haben.) Allerdings wird nun ersichtlich, dass die Gesichter der Damen und Herren aus dem 19. Jahrhundert, die in sich ruhend ihre gesellschaftliche Bedeutung und Seriosität zur Schau stellen, von Metallspangen, Ketten und Bändern zusammengehalten werden. Soll man diese Applikationen als Schmuck oder als Prothesen bezeichnen? Und handelt es sich tatsächlich um Retouchen des Künstlers? Oder nicht vielmehr um Freilegungen von Zurichtungen, die schon immer da waren, aber bislang dezent unter einer Schicht von Firnis im Verborgenen lagen?
Gewissheit ist nirgends. Auch dort nicht, wo Markus Schinwald zeitgemäße Medien einsetzt. „Orient" nennt er die beiden Videoarbeiten, die in den Anbauten des Pavillons Unterschlupf gefunden haben. Denn auf einem Bein kann man bekanntlich nicht stehen. „Legs, legs/Legs pushing/Legs grabbing/Legs outstreched/Legs knotted up in violence/Legs dangling in helplessness/suspended in mild complicity", tönt eine körperlose Stimme aus dem Off, während die namenlosen Darsteller auf der Bühne einer still gelegten Fabrik mühsam um ihr Gleichgewicht ringen. Wo ist das Standbein? Wo das Spielbein? Angesichts der ruinösen Situation, in der sie sich befinden, ist den Männern und Frauen ohne Eigenschaften jeglicher Möglichkeitssinn, von dem Robert Musil einst sprach, abhanden gekommen. Sind sie die unter Schutz gestellten Exemplare einer vom Aussterben bedrohten Spezies? Die letzten Emporkömmlinge einer dem Verfall preis gegebenen Industriekultur? Diese Geschichte wird kein Detektiv rekonstruieren können, ja, er dürfte schon Schwierigkeiten damit haben herauszufinden, ob hier eine Komödie oder eine Tragödie auf dem Spielplan steht. Das Bein eines Mannes hat sich in einer senkrechten Spalte in der Wand verfangen und lässt sich, trotz aller Anleihen an den Slapstick, nicht mehr befreien. Dem einen fehlt die Krawatte, dem anderen rutscht die Anzughose von den Hüften, weil sein Körper nicht mehr den Standards entspricht, und wieder einer anderen bieten die Türen nicht etwa einen Ausweg, sondern lediglich den Anlass zu einer absurden Form der Körperertüchtigung. Wie im gesamten Pavillon, so gibt es auch im Video kein drinnen und kein draußen, kein Innenleben und keine Kollektivität – nur eine allgemein akzeptierte Form von Komplizenschaft. Mitgefangen, mitgehangen. Man mag angesichts dieser Schau das gesamte Repertoire der Psychoanalyse, der Körperdiskurse und der Raumtheorien zurate ziehen. Helfen tut das wenig. Die beklemmende Vertrautheit, die von Markus Schinwalds Räumen und Bildern ausgeht, bleibt ein ständiger Begleiter.
www.labiennale.at/2011
In unserer Reihe zur 54. Kunstbiennale von Venedig sind bisher erschienen:
> „Jenseits von Angst und Afrika" von Thomas Wagner
> "Taubenverteilen im Park" von Thomas Wagner
> „Wir verlassen den amerikanischen Sektor..." von Joerg Bader und Thomas Wagner