MICROLIVING
Komfort auf kleinem Raum
Lebensqualität statt Pendelverkehr: Kleine Luxus-Appartments in zentraler Lage bieten Berufstätigen vermehrt ein Zuhause auf Zeit. Familien addieren indes in kleinen Häusern auf Rädern ihrem Traum vom Eigenheim einen neuen Aspekt hinzu: Flexibilität. Und auch viele der uniformierten Zimmer in Studentenwohnheimen sind mit Einbauten aus hochwertigen Materialien kaum mehr mit den einst so uncharmanten Kammern zu vergleichen. Mit einem geringem Platzangebot auszukommen, ist heute nicht zwingend ein Hinweis darauf, zu den sozialen Verlierern der Gesellschaft zu gehören. Die freiwillige Reduktion auf das Wesentliche steht weniger für Verzicht, als auf eine Fokussierung auf die Dinge, die "Wert" in das Leben bringen – Genügsamkeit, Komfort und Freiheit. Im Zuge dessen wendet sich die Gesellschaft zunehmend ab von einem gewissen- und gedankenlosen Konsum, räumt auf, schafft Platz. Der japanische Aufräumcoach Marie Kondo, deren Ruf nach "Declutter" zu Beginn von vielen Seiten belächelt wurde, ist mittlerweile international bekannt. "Behalte nur was dich glücklich macht" ist ihr Credo und das kommt an – das Aufräumen hat längst seinen negativen Unterton verloren: Kondos Buch "The Life-Changing Magic of Tidying Up" aus dem Jahr 2011 ist ein Bestseller, ebenso ihre Show TV-Show auf Netflix. Youtuber und Blogger jeden Alters, die noch vor ein paar Jahren stolz die Beute ihres letzten Konsumrauschs in die sozialen Kanäle hielten, geben aktuell lieber Tipps für den Einstieg in Minimalismus und bewusstem Konsum, filmen sich beim Aufräumen und Aussortieren des eigenen Hab und Guts, zählen auf welche Produkte sie nicht mehr kaufen und üben das perfekte Organisieren auf kleinem Raum. "Less is more" ist hip.
Dieser Zeitgeist ist sicher auch ein wenig aus der Situation heraus geboren: Wohnraum in den Städten ist knapp und begehrt. Für Mario Gross, Vice President Investor Relations beim Immobilien-Investmentmanager Corestate Capital, war der Markttrend Microliving bereits früh absehbar. Der Bedarf bei Studenten, Berufseinsteigern und mobilen "Best Agern" sei zügig angestiegen, auch bedingt durch die europaweite Vereinheitlichung von Studiengängen, durch eine flexiblere Arbeitswelt und einer metropolitisch geprägten Generation. Die Nachfrage nach immer mobileren Arbeits- und Studienwelten werde sich in den kommenden Jahren noch weiter verstärken, so Gross. Auch Dr. Tilman Harlander, emeritierter Professor sowie Architektur- und Wohnsoziologe an der Universität Stuttgart, sieht einen wachsenden Zwang zur Mobilität in der Gesellschaft – vor allem in der Ausbildungs- und Berufsphase des Lebens. Angesichts dieser breiten Zielgruppe, die vom Teenager bis zum Senioren reicht, sind seitens der Architekten, Innenarchitekten und Designer Entwürfe für attraktive Mikrowohnungen gefragt, die die Lebensqualität nicht ausklammern. Flexible Innenausbauten, hochwertige Materialien sowie maßgeschneidertes Interieur und kompakte Elektrogeräte versprechen einen Komfort auf kleinem Raum, der dem Apartment mit mehr Wohnfläche nicht nachsteht.
Der Wert der Gemeinschaft
Wohnungsnot ist ein Dauerphänomen der Geschichte der Stadt – und bildete schon zu Zeiten der Industrialisierung und damit verbundenen Landflucht eine ständige Herausforderung. Nach dem ersten Weltkrieg suchten die Vertreter des Neuen Bauens wie Bruno Taut, Walter Gropius oder Ludwig Mies van der Rohe nach lebensnahen Lösungen für die Wohnungsknappheit in den Städten. Auch wenn die perfekte Funktion der Fokus der Bestrebungen war, wurde das soziale Umfeld mitgedacht. "In den besten Konzepten und Projekten des Neuen Bauens ging das Bemühen um bezahlbare Klein- und Kleinstwohnungen mit Planungen für großzügige kollektive Infrastrukturen einher. Auch heute gilt noch: Je kleiner die individuelle Fläche ist und je dichter gebaut wird, desto wichtiger sind hochwertige öffentliche Räume und vielfältige Gemeinschaftseinrichtungen", so Tilman Harlander. Mit der Reduktion des Wohnens auf seine Grundfunktionen drohe sonst eine Überbewertung des Berufslebens und eine schleichende Erosion des sozialen Miteinanders im Privatleben. Wohnen müsse Raum bieten für die Entwicklung sozialer Beziehungen.
So stehen beispielweise im kürzlich eröffneten "Stayery" vom Studio Aisslinger in Berliner Stadtteil Friedrichshain neben dem privaten Raum auch Flächen zur Verfügung, die von allen Bewohnern genutzt werden können. Klingt nach Wohnheim, ist es aber nicht. Selbst beschreibt sich das "Stayery" als besonderes "Serviced Apartment", als Verbindung zwischen dem Komfort einer Wohnung mit dem Service eines Hotels, die man sowohl für ein paar Tage wie auch für ein paar Jahre mieten kann. Die Dienstleistungen des "Stayery" reichen dabei vom eigenen Briefkasten über das Co-Working Space bis zur Lebensmittellieferung.
Mensch als Maßstab
Gleichermaßen zeigte sich in bevölkerungsstarken und wirtschaftlich schnell wachsenden Metropolen in Fernost schon früh die Suche nach Prototypen für eine Zukunft des Lebens in der Großstadt. Zu den architektonischen Sinnbildern des Experimentes mit kleinen Wohnflächen gehört der Nakagin Capsule Tower von Kisho Kurakawa in Tokio aus dem Jahr 1972, ein Turm mit 140 mobilen Einheiten, die um einen zentralen Kern angeordnet sind. Jede Kapsel ist nur 4 x 2,5 Meter groß. Das sich futuristische Konzepte trotz ihrer Wirtschaftlichkeit und Nachhaltigkeit nicht durchsetzen konnten, liegt wohl mit am fehlenden Komfort und Möglichkeit der Individualisierung für die Bewohner. Denn so sehr die Form der Funktion folgt, so sehr liegt es dem Menschen inne, sich seine private Umgebung ganz dem eigenen Belieben gestalten zu können. Wie Konzepte aussehen können, die die Bewohner miteinbeziehen, zeigte beispielsweise Mini Living in Kooperation mit dem Architekturbüro Studiomama zum Salone del Mobile 2018: "Mini Living - Built by all" ließ auf je 15 bis 20 Quadratmetern vier verschiedene Wohnzonen und einen gemeinschaftlichen Bereich entstehen. Statt vorgefertigter Umgebung rückt hier mit flexiblen Elementen der Mensch als aktiver Gestalter in den Mittelpunkt. Aktuell übersetzt Mini Living die Idee in Micro-Wohnkonzepte und knüpft mit "Urban Cabin" ein internationales Netzwerk von kreativen Raumlösungen. Das erste reale Bauvorhaben entsteht aktuell in Shanghai und soll noch in diesem Jahr eröffnet werden.
Wer nicht nur bei der multifunktionalen Gestaltung der Innenräume, sondern schon beim Bau des eigenen kleinen Zuhauses mitreden möchte, wird bei den "Tiny Houses" fündig. Das "aVOID" von Leonardo di Chiara misst so gerade einmal neun Quadratmeter und setzt auf Einbauten aus Holz. Stühle, Bett, Tisch oder Stauraum: Alles notwendige Mobiliar ist ästhetisch hinter Holzfronten verborgen und kann bei Bedarf ausgeklappt werden. Mit Hilfe moderner Technologien soll die Kreation der kleinen Bauten in Serie auch im Blick auf Kosten und Bauzeit überzeugen: Mit einem flexiblen 3D-Drucker realisiert bereits unter anderem die US-amerikanische Baufirma ICON bewohnbare "Tiny Houses" aus Zement in weniger als 24 Stunden. Wer das Wohnen in einem Minihaus vorab erst einmal testen möchte, findet zum Beispiel auf der Homesharing-Plattform Airbnb eine internationale Auswahl oder kann auf Tiny House Festivals an Führungen und Bau-Workshops teilnehmen.
Mit derart vielfältigen Ansätzen gewinnt das urbane Wohnen zunehmend an Flexibilität. Das Abschotten im großzügigen Eigenheim kommt aus der Mode, stattdessen zählen kleine, funktionale Flächen, die sich für maximalen Komfort individuell gestalten lassen. Die aktuellen Konzepte für ein Microliving mit Lebensqualität werden auch langfristig auf Interesse stoßen, da ist sich Tilman Harlander sicher: "Die Beschränkung der individuellen Wohnflächen ist mittel- und langfristig ein unabweisbarer ökonomischer und ökologischer Imperativ."