Für die einen wirkt es wie ein überdimensionaler Mikadohaufen, für die anderen wie wild übereinander gestapelte Bauklötze. Das neu eröffnete VitraHaus der Architekten Herzog & de Meuron in Weil am Rhein setzt sich aus zwölf in die Länge gezogenen Satteldachhäusern zusammen, die in fünf Ebenen übereinander geschichtet und ineinander verkeilt sind. Einige kragen bis zu fünfzehn Meter aus, die meisten sind an den Stirnseiten verglast, und es entstehen, vor allem im Inneren, interessante Überschneidungen, da die Bodenplatten einzelner Hauselemente die darunter liegenden Giebel der Ebene durchdringen.
Nicht nur die Form des neuen Gebäudes am Eingang zum Vitra Campus polarisiert, sondern auch die Farbe. Die anthrazit eingefärbte Fassade war in Weil am Rhein schon im Vorfeld viel diskutiert worden. Kritiker - von denen es in dem südbadischen Kleinstädtchen einige gibt - veranlasste sie dazu, sarkastisch von aufeinander gehäuften Särgen zu sprechen. Ein SPD-Stadtrat hatte die öffentliche Diskussion entfacht, indem er befand, das dunkle Gebäude passe nicht in die Landschaft und sei eine ästhetische Provokation. Amüsant wird die Anekdote allerdings, wenn man weiß, warum der Lokalpolitiker sich vom Dunkelgrau derart provoziert fühlte: „Das Modell ist aber weiß gewesen!", argumentierte er.
Wer die weltweit realisierten Bauten von Herzog & de Meuron kennt, der weiß, dass es weder die beiden Architekten noch Vitra nötig haben, sich über inszenierte Provokationen zu definieren. Auch dass man sich auf die Form des Ur-Hauses beruft, erscheint sinnvoll, weil es sich hier um ein Gebäude handelt, in dem Einrichtungsgegenstände präsentiert und inszeniert werden. Selbst der dunkle Putz des VitraHauses hat seine konzeptionelle Berechtigung, soll doch - so die Vorgabe - jedes Gebäude auf dem Vitra Campus bewusst eine ganz eigene Material- und Farbwelt vorweisen können. Deshalb war es das erklärte Ziel der Architekten und ihres Auftraggebers, das neue Gebäude vom nahe gelegenen, weiß verputzten Vitra Design Museum von Frank O. Gehry abzuheben. Nicht nur tagsüber, auch nachts, wenn das von außen angestrahlte Museum mit seinem Aluminiumdach wie eine Skulptur wirkt, wird der Unterschied augenfällig. Dann löst sich die doch enorme Baumasse des VitraHauses im Dunkel auf und die illuminierten Stirnseiten der gestapelten Häuser scheinen plötzlich zu schweben.
Nicht nur die Fassade, auch die architektonische Struktur des VitraHauses baut auf das Prinzip „Kontrast" auf: Eine einfache, archetypische Form ergibt - gestapelt und ineinander gesteckt - eine komplexe und ungewöhnliche Gesamtstruktur. „Das Gegensätzliche spielt bei den meisten unserer Entwürfe eine wichtige Rolle - und zwar insofern, als es eine wichtige Komponente unseres konzeptuellen Ansatzes ist. Wir versuchen immer, von etwas streng Konzeptuellem auszugehen und daraus entwickeln wir dann Komplexität und eine skulpturale Form", erklärte Jacques Herzog den rund 300 Journalisten, die aus aller Welt zur Medienkonferenz nach Weil gekommen waren und natürlich mit mehr Informationen zum Entwurf gerechnet hatten. Vergeblich. Jacques Herzog hatte gleich zu Beginn klar gemacht, dass er - je älter er werde - immer weniger daran glaube, dass man Architektur mit Worten gerecht werden könne. „Ich denke, die Stärke der Architektur besteht darin, dass sie", so Herzog, „einfach ist, was sie ist. Sie steht im Gegensatz zur virtuellen Realität, die unseren Alltag immer mehr beeinflusst, denn sie ist zum Anfassen, spricht all unsere Sinne an, sie riecht." Herzog propagierte sozusagen das „offene Bauwerk", das erst durch seine Besucher und deren sinnliche Wahrnehmung zu dem wird, was es ist: „Wenn Sie hier sind, werden Sie entweder feststellen, dass es funktioniert oder dass es nicht funktioniert. Ihre individuelle Erfahrung mit diesem Ort ist wichtiger als wenn wir ihn beschreiben und ihnen sagen, wie er funktionieren sollte." So bequem diese Haltung des Architekten im ersten Moment klingen mag: Jacques Herzog hat Recht.
Denn das Faszinierende an dem verschachtelten Gebäude sind die vielen, unterschiedlichen Blickwinkel, die man als Besucher drinnen und draußen erleben kann. Die vielgestaltige Struktur sorgt dafür, dass man den Häuserhaufen von außen immer wieder neu erleben kann. Die äußere Form der sich ineinander schiebenden Elemente sorgt auch im Innenbereich für unerwartete Sichtbeziehungen und teilweise fast skulptural wirkende Räume. Die riesigen, in verschiedene Himmelsrichtungen weisenden Fensterfronten wirken wie optische und emotionale Verstärker, und man kann mitfühlen, wenn Vitra-Chef Rolf Fehlbaum sagt, er habe die Umgebung noch nie so scharf wahrgenommen wie durch diese Fenster. Auf der einen Seite blickt man auf den Tüllinger Hügel, auf der anderen Seite auf das Werksgelände - und wieder geht es darum, Gegensätze aufzuzeigen und sie zugleich zu vereinen.
Folgt man also Jacques Herzogs Rat und lässt das Gebäude in all seinen Facetten und sinnlichen Qualitäten auf sich wirken, so kommt man ohne Zweifel zu dem Schluss: es funktioniert - und es hat Charme. Und es funktioniert nicht nur für sich betrachtet, sondern als gleichberechtigter Bau neben Frank O. Gehrys Designmuseum, Zaha Hadids Feuerwache oder Tadao Andos Konferenzpavillon. Freilich, wer auf das Vitra-Gelände zufährt, für den gilt: Das VitraHaus ist definitiv der neue Blickfang.