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Prof. Dr. Frank Piller

Individualität ist Trumpf

Individuell konfigurierbare Angebote sind gefragt – sei es beim Design von Möbeln, Müsli oder Autos. Welche Möglichkeiten bietet die Mass Customization HerstellerInnen und KundenInnen? Und hat sie sich bisher im Markt durchgesetzt? Wir haben bei Prof. Dr. Frank Piller nachgefragt, Co-Direktor des Instituts für Technologie- und Innovationsmanagement (TIM) an der RWTH Aachen.
26.08.2021

Anna Moldenhauer: Herr Prof. Piller, was fasziniert Sie an der Thematik der kundenindividuellen Massenproduktion?

Prof. Frank T. Piller: Ich habe 1995 begonnen, mich mit der Thematik zu beschäftigen – in dieser Zeit kam das Internet bei den deutschen NutzerInnen an und damit die Frage, wie die Digitalisierung die industrielle Produktion verändern wird. Als ein Trend zeichnete sich damals Mass Customization ab. Die Idee ist, die Effizienzvorteile einer industriellen Produktion (Mass Production) mit der Individualisierung (Customization) zu verbinden. Hierzu dient zum einen die Reduktion der klassischen Zusatzkosten der Individualfertigung durch Digitalisierung, zum anderen aber auch die zusätzliche Zahlungsbereitschaft der KundInnen für Produkte, die genau auf ihre Bedürfnisse passen. Es gibt mittlerweile zahlreiche Publikationen und Forschungen zum Thema Mass Customization, trotzdem ist die Verbindung von Massenproduktion mit individuellen Produkten auch nach all den Jahren im Markt noch nicht selbstverständlich.

Welche Bedingungen sollten bei HerstellerInnen für eine kundenindividuelle Massenproduktion gegeben sein?

Prof. Frank T. Piller: Das ist sehr branchenspezifisch. Die Produktionstechnik ist in der Zwischenzeit sicher flexibler geworden, entscheidend ist dennoch eine erfolgreiche Interaktion mit den KundInnen, für die das Produkt konfiguriert wird. Es gibt erstaunlich viele Mass Customization Angebote, die eigentlich keinen Sinn ergeben, weil sie Konfigurationsoptionen an Punkten bieten, für die keine Nachfrage besteht. Das erzeugt dann als Neuheit vielleicht eine kurzfristige Aufmerksamkeit, ist aber langfristig nicht interessant. Ein Grund: Klassische Marktforschungsmethoden sind darauf ausgelegt herauszufinden, wo KundInnen gleich sind – um diese dann in ein Segment zu stecken. Doch für erfolgreiche Mass Customization geht es darum, herauszufinden, wo diese sich unterscheiden – und es honorieren, wenn Unternehmen diese Individualität befriedigen. Hört sich einfach an – ist es in der Praxis aber nicht.

Ist das die einzige Herausforderung für Unternehmen, die zum Mass Customizer werden wollen?

Prof. Frank T. Piller: Nein, die größte Herausforderung für diese Unternehmen ist nach meiner Erfahrung, ihr Geschäftsmodell zu ändern. Es gibt bisher keine etablierten Massenhersteller, die ein stabiles Mass Customization Angebot haben. Die erfolgreichen Customizer sind aktuell eher Start Ups, die im Zuge der Digitalisierung mit diesem Geschäftsmodell groß geworden sind. Die Möbelbranche zum Beispiel ist das Gegenteil von Mass Customization – die KundInnen können zwar viele Merkmale konfigurieren, müssen aber meist im Anschluss monatelang auf die Lieferung des Produkts warten. Das sind alles andere als die stabilen Prozesse, auf denen Mass Customization basiert.

Also sollten HerstellerInnen die Heterogenität der Kundinnen und Kunden als Chance begreifen, um neue Märkte und Zielgruppen zu erschließen?

Prof. Frank T. Piller: Genau. Mass Customization ist zudem nachhaltig: Die Produkte sind immer modular und daher leichter zu reparieren oder zu erweitern. Die Verschwendung von Ressourcen wird somit reduziert. Die derzeit erfolgreichen Mass Customization Angebote betreffen aktuell allerdings kaum das Angebot für die EndkonsumentInnen, sondern finden eher im B2B Bereich statt. Und zwar nicht nur bei Industriegütern! Sondern auch für den Handel. Sprich: HerstellerInnen ermöglichen es lokalen HändlerInnen, ein passgenaues Sortiment für EndkundInnen in einem lokalen Markt zu erstellen. Zu den international größten Mass Customizern zählt so Cimpress (mit Marken wie Vistaprint): Die sind damit groß geworden, GrafikdesignerInnen auch zu ermöglichen, nicht nur das Design, sondern gleich auch die fertigen Produkte zu verkaufen. Ähnlich Spreadshirt aus Leipzig, die das individuelle Angebot vieler Kreativer an einem Platz bündeln.

Die Bereitschaft der KonsumentInnen aktiv in den Designprozess einzugreifen, um Produkte zu personalisieren war lange Zeit eher gering. Warum hat sich das geändert?

Prof. Frank T. Piller: Zum einen ist es eine klassische Konsumentenreife – wir bestellen heute so gut wie alles im Internet und konfigurieren dort auch unsere Nachfrage. Die junge Generation ist zudem schon im Zuge der Verwendung von Apps und den sozialen Medien an die Personalisierung gewöhnt. Damit einher geht die Erwartungshaltung, jedes Angebot individualisieren zu können. Und die wird in den übrigen Markt übertragen. Vernetzte, also "smarte" Produkte sind sowieso eigentlich Mass Customization Produkte – wie etwa programmierbare Kaffeemaschinen, die mir die Wahl lassen, den Brühvorgang so zu gestalten, dass das Ergebnis meinem Geschmack entspricht. Durch diesen Wandel ist die Nachfrage nach Mass Customization verstärkt bei den VerbraucherInnen angekommen. Ein interessantes Recherchetool ist in diesem Zusammenhang "The Configurator Database" der Wiener Agentur Cyledge, die seit 2007 einen stetig wachsenden Überblick der webbasierten Konfigurationsmöglichkeiten in Branchen aller Art gibt. Zu den profitabelsten Mass Customization Produkten gehören amüsanterweise demnach Katzenbäume. Es macht aber auch Sinn: Wenn ich eine Rassekatze für viele tausend Euro kaufe, möchte ich mir nicht im Anschluss einen hässlichen Kratzbaum in meine Wohnung stellen. Eine klassische unbefriedigte Heterogenität im Markt, mit der sich Geld verdienen lässt.

Laufen DesignerInnen nicht Gefahr, dass ihre Kreationen bis zur Unkenntlichkeit verändert werden, wenn KundInnen als Co-DesignerInnen in den Wertschöpfungsprozess integriert werden?

Prof. Frank T. Piller: Es gibt meiner Erfahrung nach viele DesignerInnen, die es eher als Herausforderung sehen, einen Lösungsraum zu entwerfen, der immer sinnvoll und ästhetisch ist, egal welche Merkmale die NutzerInnen konfigurieren. Oder die auf Basis der Kundendaten neue Produktvorschläge entwickeln wollen. Auch hat sich in der Praxis gezeigt, wie wichtig es ist, die KundInnen nicht zu überfordern. Paradoxerweise höre ich immer wieder, dass je weniger Konfigurationsmöglichkeiten ein Mass Customizer anbietet, desto mehr verkauft wird. Hier ergeben sich für DesignerInnen spannende Aufgaben, genau die richtigen Individualisierungsoptionen zu gestalten.

Innerhalb der Mass Customization gibt es die Unterscheidung zwischen "Soft" und "Hard". Bei "Soft" werden die KundInnen nicht direkt in den Herstellungsprozess eingebunden, so dass die Individualisierung erst außerhalb der eigentlichen Fertigung stattfindet. Innerhalb der Hard Customization haben die Wünsche der KundInnen einen direkten Einfluss auf die Fertigung des Produktes. Welche Vorgehensweise ist für Sie empfehlenswerter?

Prof. Frank T. Piller: Kommerziell erfolgreicher ist bisher die Soft Customization, vor allem im Dienstleistungsbereich. Beispiel: Ich individualisiere nicht den Turnschuh, sondern das Shopping Erlebnis, in dem ich einen Matching Algorithmus nutze. Ich nutze zwar einen Konfigurator, um meine Wünsche zu spezifizieren, aber dann passiert "Match to Order" und nicht "Make to Order", sprich: aus dem Sortiment bestehender Produkte wird das ausgewählt, das zum Wunsch der KundInnen am besten passt. Die "Hard Customization" bietet mehr Möglichkeiten, ist aber in jedem Fall anspruchsvoller. Vielleicht besteht auch eine Chance in der Verbindung: Wenn ich beispielsweise einen Algorithmus habe, der das Instagram-Profil der KundInnen analysiert, kann ich auf Grundlage dieser Daten das perfekte Produkt für eine Person konfigurieren. Aufgrund dieser digitalen "Preference Insight" haben wir heute aussagekräftige Daten von KonsumentInnen zur Verfügung. Lexus und 23andMe haben das Ganze 2018 als Aprilscherz auf die Spitze getrieben und den "Genetic Select" vorgestellt: Für das Design eines individuellen Automobils würde so die Humangenetik genutzt. Von dem Müslihersteller my-muesli.de gibt es hingegen bereits ein standardisiertes Angebot für ein personalisiertes DNA-Müsli.

Mass Customization: Business Models for Personalization, Customization and Long Tail Markets

Eine kundenindividuelle Massenproduktion kann auch die Kosten in der Herstellung senken, zum Beispiel durch eine Vielfaltreduktion der Bauteile in den Vorstufen. Was ist Ihrer Meinung nach der Königsweg zur Kostenreduktion in der Mass Customization?

Prof. Frank T. Piller: Das hängt sehr von der Branche ab. Bei Sportschuhen beispielsweise hat 3D-gestricktes Gewebe ermöglicht, den Aufbau des Schuhs zu vereinfachen und eine individuelle Programmierung der Maschinen miteinzubeziehen. Hier ist produktionsseitig Individualisierung genauso günstig wie Massenproduktion. Der Hauptkostentreiber ist allerdings meistens nicht die Konfiguration, sondern die Interaktion mit den KundInnen. Diese sollte möglichst automatisiert ablaufen, auch um Wartezeiten zu reduzieren. Hier ist noch viel Potenzial.

Was würden Sie sagen machen HerstellerInnen im Management oft falsch?

Prof. Frank T. Piller: Die Produktion wird häufig zu kompliziert gedacht, Angebote werden geschaffen, die die KundInnen gar nicht wahrnehmen. Konfiguration aber hört nicht im Designprozess auf, sondern betrifft auch den Verkaufsprozess. Unsere deutschen MittelständlerInnen wären eigentlich perfekte Mass Customization Unternehmen, die Strukturen sind nur leider nicht einheitlich. Viele Bereiche werden voneinander getrennt – mitunter übernehmen Design, Vertrieb und Markenführung unterschiedliche DienstleisterInnen. Das ist allerdings nicht unbedingt ein Mass Customization Problem. Bestehende Strukturen in Unternehmen zu ändern, ist allgemein eine große Herausforderung.

Also müsste für eine erfolgreiche Mass Customization innerhalb des Unternehmens eine bessere Vernetzung stattfinden?

Prof. Frank T. Piller: Genau. Unternehmen wie Ebay, Alibaba oder Amazon investieren bereits in ein umfangreiches Mass Customization Angebot mit speziell darauf ausgelegten Fabriken. Diese geben auch DesignerInnen neue Möglichkeiten, ihre Produkte in Eigenregie in den Markt zu bringen. Genau, wie Amazon & Co. jetzt schon Vertrieb und Logistik übernehmen, werden sie in Zukunft auch immer mehr Produktion auf Bestellung als Service anbieten.

Sprich Mass Customization fördert auch eine Gleichberechtigung im Markt?

Prof. Frank T. Piller: Auf jeden Fall. Zudem ist es ökonomisch nachhaltiger.

In der Vorbereitung auf dieses Interview habe ich gelesen, dass westliche HerstellerInnen hintenanstehen, wenn es darum geht maßgeschneiderte Produkte in Massenproduktion herzustellen. Warum ist das der Fall?

Prof. Frank T. Piller: Die Produktion und damit auch das Know-How ist von vielen westlichen HerstellerInnen in fernöstliche Länder verlagert worden. Zudem werden HandwerkerInnen in unserem Kulturkreis als IndividualfertigerInnen verstanden. Nur wenige trauen sich eine Massenfertigung zu, geschweige denn möchten sie anbieten. Die Homag GmbH, einer der größten Maschinenbauer für die Möbelindustrie, hat beispielweise vor Jahren unter dem Namen "KücheDirekt" ein Konzept für eine Mini-Küchenfabrik entwickelt, die von HandwerkerInnen betrieben werden sollte. Wie in einem Franchisesystem wären viele Abläufe computerisiert erfolgt, das Ausmessen, die Fertigung und der Aufbau aber vornehmlich von geschulter Hand. Mit diesem Angebot wäre es möglich gewesen, mit erschwinglichen Kosten innerhalb eines Tages eine komplette individuelle Küche zu realisieren, inklusive Einbau. Das Angebot hat sich dennoch nicht durchgesetzt, weil es keinen Markt dafür gab. Für die bestehende Küchenindustrie war es ein unliebsamer Wettbewerber und für die HandwerkerInnen passte es nicht zum Selbstverständnis, da sie sich nicht als industrieller Produzent oder Verkäufer sehen. Das ist also ein Mindset-Problem.

Können Sie mir ein Unternehmen nennen, der Mass Customization bereits als Standard erfolgreich anbietet?

Prof. Frank T. Piller: Der niederländische Fliesenhersteller Mosa hat mit seinen Produkten die Herausforderung erfolgreich angenommen. Mosa ist industriell geprägt und bietet dennoch ein umfangreiches Konfigurationsangebot.

Wird die Mass Customization die klassische Massenfertigung auf lange Sicht komplett ablösen oder werden zukünftig beide Angebote parallel existieren?

Prof. Frank T. Piller: Die Systeme werden meiner Ansicht nach parallel existieren. Da bräuchte es schon einen radikalen Wechsel, vor allem in Hinblick auf Nachhaltigkeit. Aktuell ist die Massenfertigung noch zu sehr auf eine Verschwendung von Ressourcen ausgelegt. Erst wenn die Produktion flächendeckend lokaler wird und wir weniger und bewusster konsumieren, könnte Mass Customization auf lange Sicht die Massenfertigung ablösen.

Woran forschen Sie in diesem Themenfeld gerade?

Prof. Frank T. Piller: Ich forsche derzeit im Bereich der smarten Produkte und wie diese für die Mass Customization von Nutzen sein können. Die Konfiguratoren sind dabei bereits jeweils im Produkt integriert. Da ergeben sich viele Fragestellungen, wie etwa zur Diktatur des Algorithmus – wieviel Freiheit braucht der Mensch bei einer individuellen Auswahl, wenn der Algorithmus doch eigentlich viel besser weiß, was ich will? Auch ist es interessant zu analysieren, welche Fähigkeiten das Management eines etablierten Unternehmens benötigt, um den nachhaltigen Wandel des bestehenden Geschäftsmodelles Richtung Mass Customization zu erreichen.

Was vermissen Sie im Verständnis von Mass Customization bei den HerstellerInnen?

Prof. Frank T. Piller: Es erstaunt mich immer wieder, dass Mass Customization mit dem Angebot eines Produktes in verschiedenen Farben oder einer individuellen Bedruckung definiert wird. Eine ästhetische Oberfläche ist nur der Anfang der Optionen – Funktionalität oder Passform sind viel mehr wertstiftende Individualisierungsoptionen.

Das klingt, also würde in der Vermittlung der Möglichkeiten noch viel Arbeit auf Sie zukommen.

Prof. Frank T. Piller: Das freut mich ja auch. Das Thema begleitet mich seit über 20 Jahren, aber vielleicht ist im Markt erst jetzt die Zeit reif für die Möglichkeiten, die sich für HerstellerInnen und KonsumentInnen ergeben.

MC 01 Mass Customizatio