NACHHALTIGKEIT
Radikales Recycling
Doch, doch. Die Oberlichter in dem pyramidenförmigen Dach dieses belgischen Einfamilienhauses sehen nicht nur so aus, sie waren tatsächlich einmal die Cockpitverkleidungen von Kampfflugzeugen der niederländischen Armee. Und der monumentale gotische Säulengang, der jetzt die Einfahrt zu einem anderen Einfamilienhaus überspannt, ist kein kitschiger Fake aus dem lokalen Baumarkt, sondern wurde beim Abriss einer historischen Kirche gerettet. Auch der verschnörkelte Erker, der weder im Baustil noch im Maßstab zu einem dritten belgischen Einfamilienhaus passen will, wurde einem anderen Haus entnommen. Unsere Augen sind inzwischen an perfekt realistische Photoshop-Montagen gewöhnt, sodass man sich angesichts dieser Bilder automatisch fragt, ob das echt ist oder ob wir nicht doch gerade der Arbeit eines besonders gewieften Computerkünstlers erliegen. Nein, diese Gebäude sind echt. Und es sind nur drei Beispiele für das wundersame Werk des belgischen Ausnahmebaukünstlers und -unternehmers Marcel Raymaekers, dessen Pionierleistungen für eine radikale Recyclingarchitektur gerade erst entdeckt werden.
Die meiste Zeit seines Lebens galt der heute 91-jährige Raymaekers als Außenseiter und Wunderling. Geboren wird er in einem kleinen Dorf bei Leuwen, wo die flämische Landschaft am flachsten und am wenigsten aufregend ist. Seine Eltern betreiben das Kino im Ort, seine Tante den Lebensmittelladen. Sein Mathe-Lehrer entdeckt im Schüler eine besondere räumliche Vorstellungskraft und überredet die Familie, das Kind Architektur studieren zu lassen. 1950 schreibt sich der 17-jährige an der Sint-Lucas School in Schaarbeek ein, einem Vorort von Brüssel. Er ist der erste aus seiner Familie, der an eine Universität geht. Er hält es allerdings nur ein Jahr aus, dann hat er die Ausbildung, die von katholischen Mönchen geleitet wird und in der er immer wieder Gebäude in historischen Stilen zeichnen muss, satt. Er verlässt die Uni ohne Abschluss und wird auch nie einen nachholen. Offiziell darf er folglich nicht als Architekt arbeiten. Das wird ihn allerdings nicht davon abhalten, 50 Jahre lang Gebäude zu entwerfen und über 100 Häuser zu bauen.
Erweckung auf dem Recyclinghof
Seine ersten Aufträge kommen von Verwandten und Bekannten. Auch für sich selbst und seine frisch angeheiratete Ehefrau Rita entwirft Raymaekers ein eigenes Haus. Diese ersten Entwürfe sind noch sehr unauffällige Gebäude, die mit Satteldächern und Kaminen aus Backstein eine sanfte Moderne mit den regional üblichen Eigenheimelementen kombinieren. Raymaekers selbst beschreibt diese Häuser später als "völlig unbedeutend". Er ist unzufrieden, weil er die Ergebnisse seiner eigenen Entwürfe genauso fade findet wie all die kleinen Neubauhäuser ringsum. Aber genau mit dieser Durchschnittlichkeit will er nichts zu tun haben. Dann hat er ein Erweckungserlebnis. Ende der 1950er-Jahre kommt er auf den Hof eines Abbruchunternehmens in Brüssel, wo er eine Dachbodentreppe kauft und in einen seiner Entwürfe einsetzt. So kommt er mit der "Abbruch-Szene" in Flandern in Kontakt, deren Geschäfte damals brummen. Denn im Nachkriegsaufschwung Belgiens werden überall historische Altbauten abgerissen, um der Moderne Platz zu machen. Das Land wird im wahrsten Wortsinne umgepflügt. Raymaekers beginnt, die Abrissbaustellen zu besuchen, um dort Materialien und Elemente mitzunehmen. Parallel dazu studiert er Kunst auf Lehramt und wird Kunstlehrer, was ihm, wie er sagt, noch einmal einen neuen Zugang zum Material und zu einem bildhauerischen Umgang damit öffnet.
Mit der Arbeit als Kunstlehrer kann Raymaekers die Rechnungen bezahlen, während er gleichzeitig einen immer wilderen und ausufernderen Handel mit gebrauchten Bauteilen betreibt. Seinen Kunden bietet er dabei stets an, zu den erworbenen Teilen auch den Entwurf und die Montage zu organisieren. In seinen Entwürfen in den 1960er- und 1970er-Jahren kann man sehen, wie sich Raymaekers eigenwilliger Stil entwickelt. Am Anfang fügt er in die immer noch sanft modernen Häuser ganz unauffällig hier und dort ein gefundenes Artefakt aus seinem Gebrauchtwarenhandel ein: weil er mittlerweile gute Beziehungen zu einer Schiffswerft hat, sind es besonders häufig alte Schiffsteile wie schwere Planken oder Metallpaneele, dazu schwere Bruchsteine aus den Steinbrüchen oder verzierte Türen, schmiedeeiserne Zaun- und Fenstergitter.
Cockpitkuppeln und Schiffsplanken
Langsam wird er mutiger. Und er verbessert seine Strukturen. Mit Freunden fährt er mit dem Laster durchs Land auf der Suche nach Abbruchmaterialien, die sie direkt ausbauen, aufladen und mitnehmen. Vieles bekommen sie umsonst, die Abbruchunternehmer sind froh, das Zeug los zu sein. Raymaekers sammelt die Materialien in einem aufgegebenen Bauernhof bei Diepenbeek. Hierher führt er seine Kundschaft, um ihnen Holz, Natursteinplatten und Fenster aus der Belle Epoque oder gotische, neogotische und barocke Torbögen und Statuen aus abgerissenen Kirchen zu zeigen. Wortreich begeistert er die Besucher, sich solche Spolien als besonderen Luxus in ihre geplanten Eigenheime einsetzen zu lassen.
Es beginnt seine produktivste Zeit, in der er mit dem Architekten Jos Witters und dem Bildhauer Raf Verjans zusammenarbeitet und sehr viele Häuser baut. Ein eigenes Archiv hat Raymaekers nicht. Er ist viel zu sehr damit beschäftigt, Baustellen zu besuchen und selbst Hand anzulegen, sei es beim Abriss oder beim Wiedereinbau. Ein erster Höhepunkt seines Schaffens ist 1970 das eingangs erwähnte "Haus Kelchtermans", das aus drei Pyramiden besteht. Die Pyramiden sind von Witters entworfene Konstruktionen aus wiederverwendetem Schiffs-Holz, bekleidet mit gebrauchten Dachziegeln. Darin eingefügt: 23 Cockpitkuppeln von ausrangierten Lockheed-Kampfflugzeugen, gerettet von einem Recyclinghof. Im Inneren stoßen schwarz geteerte Schiffsplanken, Marmorfußböden und wiederverwendete Fenster jäh aufeinander. Das gesamte Haus ist ebenso improvisiert wie opulent und fantasievoll, die Räume und Materialien immer wieder überraschend. Es steht stellvertretend für Raymaekers jetzt immer selbstbewusstere Architektur.
Königin des Südens
Es folgt ein weiterer großer Schritt. Raymaekers war schon lange unzufrieden mit dem abgelegenen Gehöft, auf dem er die Bauteile lagerte. Mithilfe eines wohlhabenden Kunden kauft er ein 15.000 Quadratmeter großes Gelände an einer viel befahrenen Schnellstraße zwischen den Städten Hasselt und Genk. An die Straße stellt er unübersehbar eine beleuchtete Krone auf neogotische gußeiserne Säulen, acht Meter hoch. So wirbt er für "Bauantiquitäten", "Wohnkultur" und bietet "ästhetische Beratung" an. Aus den bestehenden Gebäuden auf dem Gelände baut er einen in jeder Hinsicht ausufernden Gebäudekomplex, der gleichzeitig sein Wohnhaus ist, Showroom für seine Recycling-Architektur, üppig verspiegelte Bar, Büro und Restaurant für Geschäftsessen. Sogar Wohnräume für seine Angestellten sind vorhanden. Auf den Freiflächen werden Materialien und Elemente gelagert, hier und dort zimmert er aus den Materialien ad-hoc-Schuppen, die an den Merzbau von Kurt Schwitters erinnern. Der pompöse Eingang führt durch ein neogotisches Steintor aus einer Kirche in Spa, bewacht von zwei großen Steinlöwen, die in ihrem vorigen Leben den Bahnhof von Ottignie bewacht hatten. In die Eingangsfassade des Hauptgebäudes setzt er die ehemalige Steuerbord-Blende eines ausrangierten Raddampfers, die er irgendwo gefunden und mitgenommen hatte. In großen Lettern steht dort der Name des Schiffs, der nun zum Namen des herrlich wundersamen Hauses wird: Queen of the South. Man muss die Dinge eben gut zu verwenden wissen.
Damit hatte Raymaekers die logistische Kraft sowie das ästhetische und unernehmerische Selbstbewusstsein, um seine produktivste Phase einzuläuten. Er produziert ein fantastisches Haus nach dem anderen. Haus Olaerts ist ein schlichter moderner Backstein-Quader, in dessen Fassaden auf allen Seiten große, verzierte Fensterelemente aus Naturstein eingelassen wurden, die dem Haus in jede Himmelsrichtung einen völlig anderen Ausdruck verleihen. Im Inneren überraschen schwere Holzbalkendecken, reich verzierte Teppiche, ein skulpturaler Kamin aus alten Schiffsrumpfwänden oder zwei neogotische Steinportale, die zu den Waschräumen führen. Ins Innere von "Haus D" in Izegem fügte er Teile des Schweizer Sommerhauses von Gustave Eiffel, kombinierte diese aber mit schwülstigem Marmor, geschmückten Stuckdecken und stellte ins Schlafzimmer eine freistehende, marmorne Badewanne mit goldenem Wasserhahn, die mehr zu Louis XIV. gepasst hätte denn zu einem Einfamilienhaus in West-Flandern.
"Haus Boncher" in Glabbeek ist im Wesentlichen die Verbindung der Überbleibsel einer Kaserne in Vervier mit denen eines Schlachthauses in Tienen. Für einen Blumenladen in der Kleinstadt Steenokkerzeel wiederverwendete Raymaekers die Art Nouveau-Fassade eines schmalen Stadthauses, das in Antwerpen der Stadtautobahn weichen musste. Allerdings schnitt Raymaekers die Einzelteile dieser Fassade vollständig auseinander und fügte sie für den Blumenladen zu einem völlig neuen Bild – an historisch akkuraten Kopien hatte er nie ein Interesse. Mit dem Rubensexclusief, einem mitten in der Landschaft bei Brabant stehendem Liebeshotel, schafft er ein besonders frivoles Werk, in dem die schwülstige Lust seiner Entwürfe mit Marmorböden, Stuckdecken, Kronleuchtern und schweren Samt-Vorhängen auf geteertes Holz und dunkle Metallpaneele trifft. Es ist eine kitschige, wilde Mischung aus Versailles, Neuschwanstein und Salvador Dalí, eine innenarchitektonische Achterbahnfahrt und wer nicht lachen muss, wenn sich hinter einem wiederverwendeten Beichtstuhl ein Geheimgang zur Bar für in flagranti erwischte Gäste öffnet, der hat wirklich überhaupt keinen Humor. Es ist dieser gnadenlos überbordende Witz und Ideenreichtum, immer hart an der Kante zum total Überdrehten, der Raymaekers‘ Architektur auszeichnet und bei der Überwindung von allerlei Bauvorschriften überhaupt erst möglich machte.
Konkurs und Entdeckung
Bis 2014 hat Marcel Raymaekers in der Queen of South so gelebt und gearbeitet. Beachtung fand sein Werk dabei nie, es wurde weder veröffentlicht noch ausgestellt. Gelegentlich gab es amüsierte Artikel in den lokalen Zeitungen. Dann musste Raymaekers nach einer Verurteilung wegen Steuerhinterziehung Konkurs anmelden. Ein Bauunternehmer übernahm den Betrieb und betreibt ihn noch heute. Raymaekers lässt er als Mieter in seinem eigenen Gebäude wohnen. Und hier wurde Raymaekers vom jungen belgischen Architektenkollektiv Rotor entdeckt, die 2011, noch drei Jahre vor dem Konkurs, auf der Suche nach gebrauchten Bauteilen zur Queen of the South kamen. Rotor haben sich selbst in den letzten zehn Jahren einen Ruf als Architekturrebellen aufgebaut, die für eine radikal Umbau- und Wiederverwendungs-Baukunst eintreten. In Raymaekers entdeckten sie einen Gesinnungsgenossen, der bereits seit über 50 Jahren im gleichen Geschäft war, ohne dass die Fachwelt je von ihm Notiz genommen hätte.
Ein Glück, dass sie ihn gefunden haben! Mit Fördermitteln des belgischen Staates haben sie alle Gebäude, die sie von Raymaekers noch finden konnten, aufgespürt und neu dokumentiert. Daraus ist ein Buch mit dem herrlichen Titel "Ad Hoc Baroque" entstanden, voller kluger Texte und unglaublicher Fotos von einer endlos fantasievollen Baukunst, wie man sie noch nicht gesehen hat. Dass Marcel Raymaekers selbst in seiner selbstsicheren Aufmachung mit Halbglatze und kräftigen Koteletten stark an den Butler Riff Raff aus dem Kultfilm The Rocky Horror Picture Show erinnert, ist dann einfach nur noch die Kirsche auf der Torte.
Ad Hoc Baroque. Marcel Raymaekers’ Salvage Architecture in Postwar Belgium
Englisch, Brüssel 2023
196 Seiten
45 Euro im Eigenverlag von Rotor