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Moderne Tropenzierde
Im Hintergrund ragen gewaltige Rohbauten wie Dinosaurierskelette in einen dunklen Himmel. Hinter dem Fotografen müssen weitere Dinosaurier stehen, denn auf die Schutthügel im Vordergrund fallen weitere, dunkle Skelettschatten. Nur dazwischen streckt sich eine schmale, helle Fläche wie eine Horizontlinie oder ein Fluss, auf der ein paar Menschen mit hellen Helmen an etwas arbeiten. Sind sie die Urheber der Skelette? Oder ihre Jäger? Bauen sie auf oder reißen sie ab? Die Atmosphäre dieser Szene pendelt zwischen heroischem Optimismus und düsterer Vorahnung, die Interpretation bleibt den Betrachtern überlassen.
Die Baustelle von Brasília
Vielleicht ist diese Aufnahme gerade wegen ihrer Ambivalenz zu einer der berühmtesten Architekturfotografien überhaupt geworden. Sie stammt aus dem Jahr 1959 und zeigt den Bau der Ministerien in Brasília. Eingefangen hat die Szene der Franzose Marcel Gautherot (1910 bis 1996). Nun ziert sie auch den Umschlag einer neuen Monografie zu seinem Werk; sie ist bei Scheidegger & Spiess erschienen und heißt ganz schlicht „Marcel Gautherot“. Sein Name wird ja hauptsächlich mit diesen spektakulären Aufnahmen Brasílias in Verbindung gebracht, dank seiner guten Kontakte zu Oscar Niemeyer und Lúcio Costa hatte Gautherot das Werden der neuen Hauptstadt von Anfang an beobachten können. Dabei hat Gautherot aber noch viel mehr zu bieten wie die 200 hervorragend reproduzierten Bilder in dieser herausragenden Monografie zeigen.
Gautherot war nach einem sehr kurzen Wehrdienst im Senegal 1940 nach Brasilien gekommen und reiste bis zu seinem Tod 56 Jahre später kaum noch nach Europa. Stattdessen reiste er intensiv durch seine neue Heimat, erforschte sowohl die Städte an der Küste als auch den Urwald und die Ureinwohner des gewaltigen brasilianischen Hinterlandes und immer wieder das riesige Amazonas-Gebiet. Mit dem scharfen Blick des Zuwanderers fotografierte er Landschaften und Häuser, Menschen bei der Arbeit, im Alltag oder bei Fest und Tanz. Dabei blieb Gautherot, der gelernte Architekt, immer bei diesen gestochen scharfen Schwarzweiß-Aufnahmen, die er fast ausschließlich in quadratischem Format, meist 6 mal 6 Zentimeter, abzog. Einen „Meister des magischen Quadrats“ nennt ihn der Historiker Michel Frizot in seinem Beitrag zu diesem Buch, in dem er Format und Kompositionstechniken Gautherots präzise analysiert.
Anhänger der Moderne und Verteidiger der Folklore
Gautherot war noch in Paris von der Moderne Le Corbusiers und Mies van der Rohes angesteckt worden, aber die Arbeit als Architekt war ihm zu sehr an Stuhl und Tisch gebunden. Lieber wollte er reisen und entdecken, also fand er Arbeit beim Musée de l’Homme in Paris, für das er erst einen Vorführsaal entwarf, dann die ethnografische Fotosammlung neu ordnete und schließlich im Auftrag des Museums nach Griechenland, Mexiko und erstmals nach Brasilien reiste. Als er 1940 aus dem Senegal direkt nach Rio de Janeiro zurückkehrte, konnte er rasch gute Kontakte knüpfen, unter anderem zu Costa, Niemeyer und dem ersten Direktor des Amts für Nationalen Denkmalschutz. Für das Amt wird er über drei Jahrzehnte im ganzen Land arbeiten. Gleichzeitig dokumentierte er für Costa, Niemeyer und später auch für Affonso Reidy Roberto Burle Marx und Le Corbusier die Baustellen der neuen brasilianischen Moderne.
Zur selben Zeit engagierte er sich aber auch in einer Kampagne zur „Verteidigung der Nationalen Folklore“, für die er vor allem Volksfeste und Bräuche im Nordwesten Brasiliens fotografierte. So wurde der Fotograf Gautherot mit seinem ethnografischen Interesse und gleichzeitig seiner Begeisterung für die neue Architektur zu einem wunderbar zwiespältigen – oder auch vielfältigen – Chronisten seiner Zeit. Während die Architekten davon begeistert waren, wie die Licht- und Schattenspiele ihrer Gebäude auf seinen Fotos ins beste Licht gerückt wurden, richtete Gautherot sich sein Labor im Haus des Landschaftsplaners Burle Marx ein und dokumentierte in dessen Gärten jahrelang die seltenen Pflanzen, die Marx dort aus allen Landesteilen Brasiliens zusammentrug. Unter den fünf sorgfältigen und wunderbar leicht lesbaren Essays in diesem Buch ist „Gautherot in den Gärten von Burle Marx“ des Soziologen Jacques Leonhardt der vielleicht schönste. Im harten Licht von Gautherots Schwarzweiß-Aufnahmen erscheinen Blatt- und Wurzelwerk wie sorgfältig konstruierte Strukturen und Konstruktionen eines seltsam verspielten Ingenieurs, und – ebenso wie die einfühlsamen Menschenbilder – gleichzeitig wie eine Antithese zur Aufgeräumtheit der modernen Baukörper.
Als die Moderne nach Brasilien kam
In der von Samuel Titan Jr. und Sergio Burgi herausgegebenen Monografie sind die verschiedenen Welten, in denen sich Marcel Gautherot bewegte, erstmals ausführlich versammelt. Die Aufnahmen von der Baustelle Brasílias und den berühmtesten modernen Gebäuden des Landes ebenso wie die Bilder des Urwaldes, der Pflanzen- und Menschenwelt, die von eben dieser Moderne zunehmend bedroht und verdrängt werden. In ihrer Summe zeigen diese Bilder wie die Moderne einst nach Brasilien kam. Ein in Wort und Bild sorgfältiges und beeindruckendes Buch.
Marcel Gautherot
hrsg. von Samuel Titan Jr. und Sergio Burgi
256 S., geb., 241 Triplex-Abbildungen
Deutsch
Verlag Scheidegger & Spiess, Zürich 2016
ISBN 978 3 85881 495 1
48 Euro