Hundert Jahre nach dem Erscheinen des Futuristischen Manifests in der Pariser Tageszeitung „Le Figaro" feiert Italien den Futurismus mit einer langen Reihe von Ausstellungen. Filippo Tommaso Marinetti, der Initiator der Bewegung, hatte eigentlich damit gerechnet, dass die nachfolgende Generation ihn und die Seinen hinwegfegen würde, nicht minder erbarmungslos gegenüber der Vergangenheit wie er selbst. Die verhassten Institutionen Museum und Bibliothek haben jedoch gegen den Willen Marinettis ihr Weiterbestehen und die Schätze des Futurismus gesichert, die sie nun ausbreiten.
Dabei wird deutlich, dass sich die Vitalität des Futurismus weniger in Gemälden und Zeichnungen manifestiert hat als in einer besonderen futuristischen Verhaltensweise: einem aggressiven Totalangriff auf die gesamte überlieferte und als vergreist empfundene Kultur. Marinetti drang sogar darauf, die alten Palazzi in Venedig abzureißen, um mit ihren Trümmern die stinkenden Kanäle zuzuschütten.
Marinetti war ein Mediengenie und in Russland schon berühmt, bevor er 1914 seine Reise nach Moskau antrat. Wie eng die Beziehungen der Avantgardekünstler zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren und wie schnell die neuen Ideen zwischen Berlin, Paris, Moskau und Rom zirkulierten, zeigt die Ausstellung „Illuminationen" im Museum für moderne und zeitgenössische Kunst von Rovereto. Die italienischen Futuristen waren berauscht von Geschwindigkeit und Motorenlärm. Giacomo Balla fand dafür um 1913 die bildnerischen Mittel, eine dynamische Folge von leuchtenden Flächen und sich durchkreuzenden Richtungen: „Abstrakte Geschwindigkeit", eines der ersten abstrakten Bilder in der italienischen Kunst.
Ballas neue Kleider
Ballas Formwille erfasste bald alle Gebiete. Sein Wohnhaus in Rom, das noch auf Restaurierung und Öffnung für das Publikum wartet, ist ein Gesamtkunstwerk. Alle Räume sind von der Wandbemalung zum Fußbodenbelag, den Kacheln im Bad, den Küchenmöbeln, Lampen, Tischen und Stühlen futuristisch durchgestylt. Selbst die Namen der beiden Töchter waren Programm: Luce (Licht) und Elica (Propeller). Auch deren Kleidung schrieb der Vater vor. Abgeschafft werden sollten alle neutralen und gefälligen Farben, Streifenmuster und Kleinkariertes. 1915 feierten die Futuristen den Eintritt Italiens in den Krieg und trugen zu diesem Anlass „antineutrale Anzüge" in den Nationalfarben.
Balla entwarf Kleider aus unregelmäßig zusammengesetzten Stoffstücken, schrille Westen mit Rhombenmuster und einen Pullover „Modello Futurfascista". Einige Originale und Entwurfsskizzen werden heute im Fundus von italienischen Modefirmen wie Missoni und Biagiotti aufbewahrt. Die Stiftung Biagiotti Cigna besitzt eine Sammlung von 200 futuristischen Gemälden und Objekten Ballas, und Lavinia Biagiotti, Tochter der Firmengründerin, wagte sogar eine Neuinterpretation der futuristischen Mode: „Ballas Entwürfe", sagte sie, „sind phantastisch. Seine Kleider garantieren Bewegungsfreiheit, sind lässig und lustig."
Es gibt nur eine Kunst
Kein Futurist hätte sich die Frage gestellt, ob Design zur Kunst gehört. Es gab keine Trennung von Kunst und Kunsthandwerk, Hoch- und Populärkultur. Gleichviel ob Mode, Textilien, Möbel, Malerei, Tapetenmuster, Essbestecke, Theaterkostüme, Gebrauchsgrafik, Keramik und Bücher - der futuristische Furor machte vor nichts halt. Giacomo Balla stattete das erste römische Nachtlokal, das „Bal Tic Tac" aus, machte den Schritt zur Serienproduktion und entwarf für verschiedene Firmen unter anderem Kacheln und futuristische Beleuchtungskörper aus Schmiedeeisen.
In gewisser Weise nahm das futuristische Food-Design sogar die Tüfteleien von Ferran Adrià vorweg. Ein Ventilator verbreitete den zum Menü passenden Geruch. Auf der von Marinetti geprüften Speisekarte konnte man „Huhn Fiat" wählen. Es war mit Stahlkugeln gefüllt und mit Sahne garniert. Vergeblich allerdings versuchten die Futuristen die Pasta abzuschaffen, weil sie diese verdächtigten, die Italiener träge zu machen.
Die Rekonstruktion des Universums
Geplant war also nichts weniger als die „Rekonstruktion des Universums". Dafür stand ein Architekt von visionärer Kraft zur Verfügung, Antonio Sant'Elia, der zwar nichts gebaut, aber ein geniales, zeichnerisches Werk hinterlassen hat. Er entwarf Stadtbilder mit terrassierten Wolkenkratzern, überdachten Passagen und verschiedenen Verkehrsebenen. Seine Zeichnungen beeinflussten viele Architekten der Moderne in den Zwanziger Jahren, unter anderem Le Corbusier. Sant'Elia schloss sich 1910 den Futuristen an, meldete sich freiwillig an die Front und fiel mit gerade einmal achtundzwanzig Jahren. "Es handelt sich nicht darum, neue Formen für Fenster-und Türrahmen zu erfinden", hatte er geschrieben: „Jede Generation wird sich ihre eigene Stadt bauen müssen!" Eine Vorstellung, die uns geschichtsversessene Nachfahren schaudern lässt.
Sant'Elia schaffte es, sich von den Einflüssen des Jugendstils zu lösen, während der theatralische Überschwang seiner Kollegen vor allem in Badeorten wie Montecatini und Salsomaggiore Triumphe feierte. Mit Sant'Elia hätte die Moderne in der Architektur beginnen können, doch bald übernahm die faschistische Diktatur die Kontrollfunktion. Die feudal-bürgerliche Gesellschaft kultivierte noch lange den „Stile Liberty" als Stimmungston, den Futuristen freilich waren die orientalisch angehauchten Pflanzenmotive in den Wohnzimmern der wohlhabenden Italiener ein Graus. Schon lange vor dem Bauhaus räumten sie mit allen Schnörkeln auf.
Der Reklame gehört die Zukunft
Labor einer zukunftsträchtigen Produktgestaltung war das Atelier des Futuristen Fortunato Depero in Rovereto. Zum Museum umgebaut steht es jetzt dem Publikum als "Haus der Futuristischen Kunst" offen. Deperos künstlerische Hinterlassenschaft berührt alle Gebiete - von der Malerei bis zur Fotografie, vom Kunsthandwerk bis zur Buchgestaltung. Depero war seiner Zeit weit voraus und machte verblüffende Äußerungen: „Die Kunst der Reklame ist die Kunst der Zukunft. Diese Kunst wird nicht mehr in den Museen begraben, sondern überall zu sehen sein." Dauerhaft arbeitete Depero mit großen Unternehmen wie dem Mineralwasseranbieter San Pellegrino und dem Getränkehersteller Campari zusammen. Die von Depero entworfene, kleine, kegelförmige Campari-Soda-Flasche ist noch heute auf dem Markt. Zwei schöpferische Jahre verbrachte Depero in New York, wo er zwischen 1929 und 1930 zahlreiche Titelseiten für "Vanity Fair" und "Vogue" gestaltete. Zurück in Italien, verhalf er einer Reihe von Trientiner Unternehmen zu einer Corporate Identity. Depero entwarf Tische und Stühle, baute meterhohe Türme aus Grossbuchstaben, gestaltet Bücher, wie das "Libro Imbullonato", das von zwei Metallschrauben mit entsprechenden Muttern zusammengehalten wird und schuf mit seinen grotesken, aus geometrischen Formen zusammengesetzten Marionetten die Ahnen der Lego- und Playmobil-Männchen.
Spuren im Design
Der Futurismus hat zahlreiche Spuren im italienischen Design hinterlassen. Wir finden sie 1949 in Giò Pontis futuristischen Espressomaschine für Pavoni, später in den bunten und ironischen Kreationen von Ettore Sottsass und Bruno Munari, in den Provokationen von Joe Colombo und Alessandro Mendini, ja selbst in den bizarren Gebrauchsgegenständen der Designfabrik Alessi. Der italienische Möbelhersteller Dino Gavina hat 1971 einige Entwürfe von Giacomo Balla in kleiner Serie nachgebaut, darunter einen Wandschirm, zerlegbare "futuristische Blumen" aus Metall und das ein mal ein Meter große Stahlrelief "Plastischer Komplex aus Lärm und Geschwindigkeit", mit dem Balla 1913 den russischen Konstruktivismus vorwegnahm.
Natürlich können wir heute nicht mehr den "explosiven Atem" des rasenden Automobils besingen. Mit der Geschwindigkeit ist es vorerst vorbei. Aber ein paar neue futuristische Forderungen wären vielleicht gar nicht so schlecht.
Rovereto: "Illuminationen", 17.1. bis 7.6.09
Venedig, Museo Correr: "Abstraktionen", 5.6. bis 4.10.09
Mailand, Palazzo Reale: "Gleichzeitigkeit", 15.10.09 bis 25.1.2010
Rom, Scuderie del Quirinale: "Futurismus", 20.2. bis 24.5.09
London, Tate Modern: "Futurism", 12.6. bis 20.9.09
Mailand, Palazzo Reale: "Futurismus 1909-2009", 28.1. bis 7.6.09
Ute Diehl schreibt für die Frankfurter Allgemeine Zeitung und für die art - das Kunstmagazin. Sie lebt in Umbrien, Italien.