Lichtspiele
Schöner hätte das Septemberwetter kaum sein können, als zur Eröffnung des London Design Festivals 2019. Kein Wunder, dass der japanische Stararchitekt Kengo Kuma bereitwillig in aller Ausführlichkeit für die Journalisten vor seiner Großplastik "Bamboo Ring: Weaving into Lightness" posierte, die er für die Veranstaltung im John Madejski Garden des V&A, des Victoria & Albert Museums, errichtet hat. Das berühmteste Kunstgewerbemuseum der Welt ist auch in diesem Jahr wieder Dreh- und Angelpunkt, der "hub" des Festivals. Festivalgründer Sir John Sorrell dankte dem V&A dann auch in seiner kurzen Eröffnungsrede ganz besonders für die mittlerweile zehnjährige Zusammenarbeit. Fraglos hat das Prestige des Hauses dazu beigetragen, dass das London Design Festival inzwischen zu den wichtigsten Veranstaltungen im Designkalender zählt und zahlreiche Nachahmer gefunden hat. Umgekehrt half das Festival aber auch dem vor zehn Jahren noch etwas verstaubten Haus, sich als wichtige Institution für zeitgenössisches Design zu positionieren.
Inzwischen hat das über 150 Jahre alte Museum den Staub gründlich abgeklopft und das London Design Festival stellt 2019 ein Programm vom Umfang eines veritablen Buchs auf die Beine. Wer zum Eröffnungswochenende angereist ist, stellt allerdings etwas irritiert fest, dass die überwiegende Anzahl der Veranstaltungen noch gar nicht beginnt, sondern erst in den darauffolgenden Tagen ihre Pforten öffnen wird. Die drei Designmessen etwa, die Teil des Festivals sind – London Design Fair, 100% Design und Designjunktion – starten erst vier, respektive fünf Tage später. Wirklich ärgern braucht man sich darüber aber nicht, denn das, was im V&A gezeigt wird in Verbindung mit den über das Stadtgebiet verteilten sogenannten "Landmark Projects" spielend, um ein Wochenende umzubringen – Teepausen nicht inklusive. Der strahlende Sonnenschein zur Eröffnung bot die idealen Voraussetzungen, um die an insgesamt acht Orten aufgebauten Designinstallationen abzuklappern – und dabei ganz nebenbei einige der spannendsten neuen Orte in London kennenzulernen. Allen voran den Coal Drops Yard, ein neues Ladenzentrum in einem umgebauten Kohleschuppen hinter dem Bahnhof King's Cross mit einer spektakulären Dachkonstruktion von Thomas Heatherwick. Gegen dieses architektonische Fortissimo hat es das Projekt von Martino Gamper im Hof des Gebäudes nicht ganz leicht. Er hat dort die Fassade einer imaginären Diskothek errichtet. Die "Disco Carbonara" ist nicht nur vom Prinzip her eine Art potemkinsches Haus – ihre wild gepixelte Fassade wirkt auch selbst ein wenig immateriell. Und das, obwohl Gamper das Material sehr bedacht gewählt hat: Die verwendeten Baustoffe sind zu einem Gutteil Abfallprodukte, andere werden nach Ende des Projektes wiederverwertet oder umgenutzt.
Auf Plätzen und in Kellern
Noch weiter im Osten Londons, in Shoreditch, steht die gewaltige Sitzskulptur "Please be Seated" von Paul Cocksedge. Drei konzentrische Ringe aus breiten Sitzbänken, die jede in gleichermaßen regelmäßige wie hochdynamische Wellen gelegt sind. Aufgebaut ist die Installation auf einem neuen Platz, dem Finsbury Avenue Square, der im Zuge der Neuentwicklung des Umfeldes der Liverpool Street Station als Büroquartier entstanden ist. Die Skulptur soll für die Beschäftigten der umliegenden Geschäftsbauten einen Platz für die Lunchpause schaffen, gleichzeitig darf sie aber für Passanten auf dem Weg zum benachbarten Bahnhof keine Barriere sein. Die gefundene Form erlaubt es, unter den "Wellenkämmen" hindurchzugehen und in den "Wellentälern" zu sitzen oder zu liegen. "Sie besetzt den Platz ohne ihn zu blockieren", beschreibt Cocksedge das Wesen seiner Installation.
Bleiben wir in Ost-London: Einen außergewöhnlichen Ort bespielt die Lichtinstallation "Void", die der hauptsächlich als Fotograf arbeitende Designer Dan Tobin Smith gemeinsam mit dem auf Lichtkunst und Projektionen spezialisierten Studio The Experience Machine entwickelt hat: In einem Hinterhof im Stadtteil Islington nutzt sie den Rohbau eines nie fertiggestellten unterirdischen Theaters. Es sollte in der Form Shakespeares berühmten Globe Theatre ähneln und besteht deshalb aus einem runden Atrium, das von Galerien umgeben ist. Ins Zentrum dieser tageslichtlosen Investitionsruine aus nacktem Beton setzen die Designer einen Leinwandwürfel und verwandeln ihn durch Projektionen in eine magische Laterne, die die ansonsten stockdunklen Galerieetagen in vielfarbig schimmerndes Licht taucht. Ein wenig nebensächlich wird da fast, was die abstrakt erscheinenden Bilder zeigen, die auf dem Würfel auftauchen. Tatsächlich handelt es sich um Mikroaufnahmen verschiedener Edelsteine. Wer dies nicht weiß, könnte auch glauben, ins Weltall oder in die Tiefsee zu blicken.
"Life Labyrinth" heißt eine weitere Sitzskulptur, die als "Landmark" für das London Design Festival entstanden ist. Auch sie befindet sich im unmittelbaren Umfeld eines Bahnhofs, in diesem Fall der Victoria Station im Westen der Stadt. Anders als in Shoreditch umstehen hier jedoch nicht Bürohäuser den Aufstellungsort, sondern es handelt sich um den Vorplatz der katholischen Westminster Cathedral, einem neobyzantinischen Kuppelbau aus der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Das Designerduo Patternity nimmt auf diese Nachbarschaft in mehrfacher Weise Bezug: Sie schaffen ein Labyrinth aus hölzernen Sitzbänken, durch das hindurch der Besucher ins Zentrum der Installation gelangt, wo in ihn eine bunte Bepflanzung in Hochbeeten erwartet. Nicht nur das Motiv des Labyrinthes, wie es in gotischen Kathedralen zu finden ist, verweist auf die katholische Kulturtradition, die Heilpflanzen, die hier blühen, erinnern an Klostergärten. Die schwarz-weiß gesteiften Bänke spielen auf die polychrome Fassade der Kathedrale an. Gleich der Installation von Paul Cocksedge stellt übrigens auch das "Life Labyrinth" unter Beweis, wie wirksam Design im öffentlichen Raum in der Lage ist, die Qualität eines Ortes zu steigern. Vormals öde Flächen werden während des London Design Festivals zu Treffpunkten und Ruheorten.
Formenspiele
Der Ausstellungsort des letzten Landmarkprojects könnte gegensätzlicher zu einem Platz in Bahnhofsnähe kaum sein: "Iri-Descent", eine Skulptur aus 150 aneinandergefügten und irisierenden, würfelförmigen Kunststoffrahmen von Liz West, hängt im kreisrunden Atrium des Luxuskaufhauses Fortnum & Mason. Es fügt sich hier so perfekt ein, dass es keinerlei temporären Charakter besitzt und es würde nicht verwundern, wenn sich das Traditionsgeschäft entschlösse, es einfach dort zu belassen. Hier bilden die "Landmark Projects" eine andere Fassette des Designs ab – nicht sozial, nicht intervenierend, sondern gleichzeitig technisch und dekorativ. Es ist durchaus erfreulich, dass die Festivalkommission sich bemüht hat, unterschiedlichste Spielarten zeitgenössischer Gestaltung an die unterschiedlichsten Orte der Stadt zu bringen.
Kehren wir zum Abschluss des Stadtrundganges wieder ins Victoria & Albert Museum und zu Kengo Kumas "Bamboo Ring" zurück. Die Skulptur in Form eines aufgebogenen Rings hat der Architekt aus einem Materialmix aus Bambus- und Karbonfasern fertigen lassen. Kuma, der für das V&A den letzten Jahr eröffneten Museumsableger in Dundee entworfen hat, verknüpft in den Materialien für den Ring japanisches Hightech mit japanischer Tradition. Ein wenig zusammenhangslos bleibt seine Skulptur trotzdem. Ja, sie nimmt die Form des kleinen Bassins auf, im dem sie steht. Und ja, sie bringt eine vertikale Komponente in den Madejski Garden. Letztendlich ist die Form der Großplastik aber doch zu banal, um poetisch zu sein.
Ganz anders verhält es sich mit "Sea Things" von Sam Jacob, ein gewaltiger transparenter Würfel, der in der monumentalen Eingangshalle des Museums von der Decke hängt. Jacob setzt sich in seiner Installation mit der Verschmutzung der Ozeane auseinander. Er tut das in einer so hoch ästhetisierten Art und Weise, dass die Botschaft hinter der Schöheit des Objektes kaum wahrgenommen wird: Innerhalb des Würfels werden farbenfrohe Animationen des im Meer schwimmenden Mülls projiziert. Diesen Bildern wird durch mehrfache Spiegelung etwas Weites und Ungreifbares verliehen, sie bekommen etwas Schmuckhaftes und Ornamentales. Der Architekt Jacobs wird übrigens in der reduzierten Form des Glaswürfels mit seinen zarten Stahlprofilen spürbar, eine Hommage an Ray und Charles Eames, wie er erklärt.
Paarlauf im V&A
Das umfangreichste Projekt, das während des London Design Festivals im Victoria & Albert Museum gezeigt wird, trägt den Namen "Legacy". Festivalgründer Sir John Sorrell brachte dafür zehn Leiter großer Londoner Kultureinrichtungen mit zehn Designern und Designstudios zusammen. Die Idee: Die Direktoren sollten bei den Gestaltern ein Objekt in Auftrag geben, das ihnen privat oder beruflich fehlte und das sie sich in besonderer Weise wünschten. Aufträge und Ergebnisse zeigen eine große Vielfalt und belegen, wie unterschiedlich Künstler und Klienten an die Fragestellung herangegangen sind. Alex Beard, Direktor des Royal Opera House, ließ sich von Designer Terence Woodgate zwei hinreißend schöne Sofas für einen Besprechungsraum entwerfen und V&A-Direktor Tristram Hunt wünschte sich von Jasper Morrison eine kleine Sitzgruppe für sein Büro – eine Aufgabe der Morrison im Rückgriff auf sein Formenvokabular souverän löste. Andere Kommissionen waren deutlich spezieller: Hans-Ulrich Obrist, künstlerischer Leiter der Serpentine Galleries, etwa wünschte sich von Studiomama einen Briefkasten für seine Institution. Er fände es wundervoll, wenn seine Besucher das Medium der Postkarte wiederentdecken würden, welches in den Werken vieler Künstler im 20. Jahrhundert eine wichtige Rolle gespielt habe, begründet er seinen Auftrag. Studiomama setzte die Bitte in ein Objekt um, das ein wenig einer ovalen Säule mit Kanneluren gleicht. Der Briefschlitz ähnelt dagegen einem Mund mit breiten Lippen und spielt auf den Zweck des Gegenstandes als Hilfsmittel zur Kommunikation an.
Den vielleicht ungewöhnlichsten Wunsch an einen Designer hatte Ian Blatchford, Direktor des Science Museums. Für einen neuen Ausstellungsbereich benötigte er einen Bienenstock. In der Künstlerin und Designerin Marlène Huissoud fand er ein ideales Gegenüber für seinen Auftrag. Huissoud ist die Tochter eines Imkers und arbeitete bereits zuvor mit Propolis, dem Bienenharz. Für das Science Museum schuf sie einen ausgehöhlten Baumstamm als Bienenstock, der zugleich als Bank dient. Dabei war es ihr wichtig, nicht in klassische Typologien zu verfallen, die die Biene als Nutztier begreift, sondern ein Refugium für Wildtiere zu schaffen. So ist ihr Objekt zu einem Sinnbild für die Co-Existenz von Mensch und Natur geworden.
Sir John Sorell hat sich übrigens von der Designerin Juliet Quintero einen reizenden kleinen Hochsitz bauen lassen, um in seinem Cottage den Sonnenuntergang beobachten zu können. Wie er die richtigen Paarungen von Auftraggebern und Klienten gefunden habe? "Das ist der Vorteil, wenn man seit über 50 Jahren Teil der Designszene ist – man kann ein wenig einschätzen, welcher Gestalter für welche Aufgabe geeignet ist", sagt Sorrell bescheiden.
Zwei Gemeinsamkeiten haben übrigens alle Gegenstände, die im Rahmen des "Legacy"-Projektes entstanden sind: Sie wurden aus American Red Oak gefertigt und sind in den Werkstätten von Benchmark entstanden, dem von Terence Conran und Sean Sutcliffe gegründeten Spezialisten für handwerkliche Fertigung in West Berkshire.
Wem all dies am Eröffnungswochenende des London Design Festivals noch nicht gereicht hat, der konnte noch viele weitere Attraktionen bestaunen, sowohl im V&A, als auch in der Stadt: Etwa die phantasievollen Mardi Gras-Kostüme des Künstlers Big Chief Demond Melancon of the Young Seminole Hunters (im V&A). Oder die Installation "Take the Plunge" von Volume Creative, die aus mehr als 1000 von der Decke hängenden Pappröhren besteht, durch die sich der Besucher seinen Weg bahnen muss (in der Oxo Tower Wharf). Camille Walala hat die South Molton Street, eine Querstraße der Oxford Street, mit pop-artigem Straßenmobiliar ausstaffiert und Sony zeigt im V&A Roboter, die eine ausgestreckte Hand erkennen und sich ihr entgegen bewegen. Eine der eindrucksvollsten Designschauen, die zurzeit in London besucht werden kann, ist offiziell gar kein Teil des London Design Festivals: Olafur Eliassons Werkschau "In Real Life" in den Räumen der Tate Modern. Der Andrang dort ist übrigens gewaltig. Und so standen die Leute Schlange, um künstlichen isländischen Nebel zu erleben, während sich draußen ein herrliches Spätsommerwochenende dem Ende zuneigte.