IMM COLOGNE 2018
Eine Blüte lockt zum Sitzen
Thomas Edelmann: "Paipaï" verbindet einen technologischen Ansatz mit einer sehr dünnen und eleganten Struktur mit organischen und raumgreifenden Formen. Was ist die Idee des Projektes?
Paolo Lucidi: Die Kollektion besteht aus einem Dreisitzer Sofa und einem Loveseat mit Raum für mehr als eine Person. Es ist ein Mittelding zwischen Sessel und Sofa. Die Armlehne von "Paipaï" ist mehr als eine übliche seitliche Abstützung oder Begrenzung. Sie bietet einen gewissen Widerstand, man kann auf ihr auch sitzen, sie ist weich, flexibel und komfortabel. Ihre Form ist inspiriert von Origami-Techniken, genauer gesagt vom traditionellen japanischen Fächer, dessen Flexibilität und Stabilität auf Faltungen beruht. Zu Beginn sah unser Entwurf vor, die Armlehne durch eine Reihe von Einschnitten zu strukturieren.
Wie veränderte sich diese Gestalt während des Entwurfsprozesses?
Paolo Lucidi: Wir vereinfachten die Form, nachdem wir den ersten Prototyp in Briord bei Ligne Roset sahen. Wir stellten fest, dass sich das Möbel so einfacher produzieren und besser verstehen lässt. Es wirkt ikonischer. Die gefaltete Lehne ist seitlich jeweils sichtbar mit zwei Schrauben am Gestell fixiert.
Luca Pevere: "Paipaï" lädt dazu ein, sich sehr wenig förmlich darin zu bewegen. Wenn man das möchte, kann man sogar diagonal darauf sitzen oder liegen. Die Schrauben, mit der die Armlehnen an der gesamten Struktur befestigt sind, erinnern vielleicht ein wenig an französische Designtraditionen. Etwa an Jean Prouvé, der seine Konstruktionen sichtbar machte. Die Schraube verbindet alles…
Eine Schraube, die die ganze Welt zusammenhält?
Luca Pevere: Ja, sie stellt die Verbindung zum minimalistischen Stahlrohrrahmen her. Polstersitz und Rückenlehne und die flügelartigen Armlehnen werden damit verbunden. Flaches Papier ohne Faltungen ist fragil. Durch Faltungen bekommt es Stabilität.
Papier wie beim Origami zu Unikaten zu falten scheint vergleichsweise einfach. Anders ist es, sobald es nicht um Papier, sondern Polsterschaum und Stoffe geht und um ein Serienprodukt, für das sie gefaltet werden. Wie bekommt man das in den Griff?
Luca Pevere: Das müssen Sie die Zulieferer fragen. Man drückt den Schaum zusammen, dadurch entsteht die Einkerbung der Armlehne, die zugleich eine dreidimensionale Struktur bildet.
Paolo Lucidi: Als italienische Designer haben wir in letzter Zeit viele Sofas gesehen, die auf der modularen Aneinanderreihung flacher Boxen beruhen. Die gleichen sich sehr stark. Wir wollten dem eine internationalere These entgegensetzen. Zugleich ist es ein "Paipaï" ein Objekt, das mitten im Raum stehen kann, da es von allen Seiten eine besondere Wirkung entfaltet.
Luca Pevere: Es hat einen starken Charakter, eine angenehme Ausstrahlung und ist doch ruhig in seiner Wirkung. Auch deshalb haben wir die ursprüngliche vielfache Faltung der Armlehnen reduziert und vereinfacht.
Paolo Lucidi: Heute gilt eine niedrige Rückenlehne als Erkennungszeichen zeitgenössischen Designs. In diesem Fall wollten wir etwas sehr Komfortables schaffen. Man sieht es auf den ersten Blick, sobald man sich setzt, spürt man es auch. Der hohe Rücken stützt den Kopf.
Ihr gemeinsames Studio haben sie 2006 gegründet. Seit den vergangenen zwölf Jahren hat sich die Welt insgesamt, aber auch das Design weiter beschleunigt und dynamisiert. Zunehmend wird versucht, das Leben digital zu führen. Möbel sind eher mit der analogen Welt verbunden. Was bedeutet dieses Spannungsverhältnis für Ihre Arbeit?
Luca Pevere: Wir sind der analogen Welt sehr verbunden, da wir es mögen, mit unterschiedlichen Materialien arbeiten. Das geht von der Beton-Leuchte "Aplomb" für Foscarini bis zu den "Alburni"-Tischen für Ligne Roset, die ein ultradünnes quergeschnittenes Furnier haben. Das digitale Zeitalter beschleunigt sich. Bei der Präsentation von Stylepark im MAKK erfuhren wir, dass die Software der Plattform verändert wird, um schneller Bilder auf Inhalte zugreifen zu können. Ja, diese allseitige Beschleunigung gibt es: Dennoch basiert unsere Arbeit darauf, langlebige Produkte zu schaffen. Manchmal ist es merkwürdig zu beobachten, wie viele Dinge sich so schnell verändern. Aber mit unserem Ansatz versuchen wir, Gegenständlichkeit festzuhalten.
Paolo Lucidi: Es gibt nicht nur einen Weg, um Design zu machen. Einige unserer Kollegen nehmen aktiv an der Beschleunigung teil, indem sie in kurzer Zeit sehr viele Produkte machen. Wir mögen es, Zeit für einen neuen Entwurf zu haben. Gelegentlich muss man es auch für eine Weile unterbrechen, um zu überprüfen, ob die Idee gut ist oder nicht. So vergehen bei uns ein bis drei Jahre, während der wir an einem neuen Produkt arbeiten. Wir machen Dinge, die entfernt davon sind, Mode zu sein. Wir arbeiten für einen Markt, der das Langlebige zu schätzen weiß.
Luca Pevere: Natürlich beeinflusst auch uns die digitale Welt. Wir sehen ständig neue Gegenstände, die mit neuen Techniken hergestellt wurden. Als neue Werkzeuge für das Design spielen sie bereits eine Rolle. Allerdings entstehen bis heute noch keine Möbel oder Einrichtungen daraus. Weshalb sollte man sich etwa einen Tisch mit sechs Stühlen per 3-D-Druck fabrizieren?
Der Philosoph Zygmunt Bauman beschreibt unsere gegenwärtige Welt als "Retrotopia", als geprägt von rückwärtsgewandten Fantasien. Wir fühlen uns sicher nur in einem Szenario aus Objekten und Ideen, die wir uns von gestern und vorgestern heraufbeschwören. Auch Design gibt sich heutzutage sehr rückwärtsgewandt. Sie versuchen dagegen der traditionellen Vorstellung von Design gerecht zu werden, die nach Neuem Ausschau hält und versucht, Dinge zu verändern. Funktioniert das heute noch? Wie spüren Sie das Neue auf?
Paolo Lucidi: Wenn es gelingt, einen Aspekt zu schaffen, der an die Vergangenheit erinnert, muss das nicht verkehrt sein. Es ist leichter ein neues Produkt zu verstehen, wenn es ein Detail oder einen Stoff, jedenfalls einen Anknüpfungspunkt zu etwas Vertrautem bietet. Man sollte aber zugleich versuchen, etwas Neues zu schaffen. Es braucht eine Balance.
Luca Pevere: Wir kommen aus einer Region, wo unsere Eltern und Großeltern Dinge reparierten und anpassten. Sie fühlten sich mit den Gegenständen, die sie umgaben, stark verbunden. Es wäre ihnen nicht eingefallen, sie nach kurzer Zeit komplett auszutauschen. Vielleicht sollten wir versuchen, diese Mentalität mit unserer heutigen zu verbinden. Zugleich sind wir Designer eine Art Werkzeug für die Unternehmen, mit denen wir arbeiten. Ein guter Designer sollte die Firma, für die er arbeitet, verstehen. Er sollte ihr Portfolio, ihren Katalog, ihre Tradition kennen. So kann man einen Schritt weiter gehen, berücksichtigt aber zugleich die Vergangenheit. Es bedarf dieser Verbindung. Man kann nichts völlig Neues erschaffen.
Sie haben mit vielen der wichtigen Unternehmen zusammen gearbeitet. Ligne Roset ist für seinen kreatives Verständnis von Design bekannt, das zugleich auf kommerziellem Erfolg basiert. Welche Besonderheiten gibt es für Sie in der Zusammenarbeit?
Luca Pevere: Unser erstes Projekt für Ligne Roset waren die erwähnten "Alburni"-Tische. Zufrieden waren wir damit nicht. Denn es sind Sofas, für die das Unternehmen bekannt ist. Mit "Backpack" und jetzt mit "Paipaï" konnten wir daran teilhaben. Wir wurden in die Fertigung nach Briord eingeladen. Dort lernten wir ihre wirklichen Fähigkeiten kennen: Sie wissen, wie man mit Polsterschaum und mit Nähten umgeht, sie wissen Textilien zu nutzen – sie haben ein Lager mit 4000 Stoffen – das ist wirklich schön und entspricht dem, was wir mit einer Firma erreichen möchten: Ihr Kerngeschäft, ihr wichtigstes Ausdrucksfeld kennenlernen und dafür einen Beitrag liefern. Wir mögen den französischen Esprit und ihre Suche nach Ikonen. Daher versuchten wir der Traditionslinie fortzusetzen, in der Produkte wie "Togo", "Ploum" oder "Confluences" entstanden sind. All das ist weit weg von der Brianza-Welt, die wir aus Italien kennen.
Paolo Lucidi: Wir schätzen die Familie sehr, die das Unternehmen leitet und die Menschen, mit denen wir zusammenarbeiten. Denn unser Ziel ist es nicht, möglichst viele Marken zu sammeln. Wir versuchen für einige von ihnen zu arbeiten. Wir suchen sie hauptsächlich nach den Menschen aus, die da tätig sind. Sie sind freundlich und wissen, was sie tun. Das ist keine Selbstverständlichkeit.
Sie beide studierten in Mailand am bekannten Politechnico di Milano. Als junge Profis haben Sie sich entschieden, in die Gegend von Udine zu gehen. Also in die Grenzregion von Italien, Slowenien und Österreich. Warum ist es wichtig für Sie, gerade dort zu leben und zu arbeiten?
Luca Pevere: Zum einen kommen wir aus dieser Region. Wir haben für elf Jahre in Mailand gelebt. Vielleicht gab es so etwas wie einen Rückruf zu den eigenen Anfängen…
Paolo Lucidi: … zu den Wurzeln…
Luca Pevere: Sicher lieben wir die Region, den Platz den man dort hat und die grüne Umgebung. Aber wichtig ist für uns auch, im Designprozess ein wenig isoliert zu sein. Für eine gewisse Zeit ist es gut, ohne Kontakt zur Außenwelt zu sein. Währenddessen entwickelt man etwas, überprüft es. Danach präsentiert man seine Ideen und sieht, wie die übrigen Designer, wie der Rest der Welt darauf reagiert.
Paolo Lucidi: In den letzten Jahren sind wir sehr viel gereist. Ansonsten wäre das Landleben vielleicht auf die Dauer zu isoliert und zu langweilig. Aber auf diese Weise sind wir oft in Mailand oder Paris. Wir brauchen aber einen ruhigen Platz, sowohl zum Abschalten wie auch zum Arbeiten. Ein anderer strategischer Grund ist: Es gibt dort eine Reihe von Distrikten mit spezialisierten Unternehmen, etwa für Holz oder Stoffe. Auch Firmen wie Moroso sind dort ansässig. Aber es gibt keine Magazine oder Journalisten, nur industrielle Zulieferer. Das ist sehr hilfreich.
Paolo Lucidi (1974) und Luca Pevere (1977) studierten in Mailand. 2003 arbeiteten sie erstmals zusammen, 2006 gründeten sie Studio LucidiPevere. Im Zentrum ihrer Arbeit stehen ungewöhnliche Techniken und Materialien, die ästhetische Bedeutung und neue Formen von Produkten.