Oft vergisst man die Dinge ein bisschen, wenn sie zu Klassikern geworden sind. So hat man beispielsweise keine Lust, eben jene Texte noch einmal zu lesen, die in der Schule als Klassiker der Weltliteratur interpretieren wurden. Und so fasst man dummerweise jahrelang bestimmte Bücher nicht mehr an, die einen trotzdem irgendwie durchs Leben begleiten. Irgendwann stolpert man zufällig über einen dieser Klassiker und ist plötzlich hin und weg. Ähnlich, und doch anders, verhält es sich mit Dingen, die man in jungen Jahren voller Freude ganz für sich entdeckt hat, um dann kurz darauf festzustellen, dass sie schon längst Klassiker geworden sind, die von sehr sehr vielen Menschen geliebt werden. Man verliert dadurch oft die Verliebtheit der ersten Begegnung, man liest unzählige Interpretationen, hört unzählige Meinungen, und irgendwann „kennt" man etwas so gut, dass es leise zurücktritt, um Platz für neue Dinge zu machen. Charles und Ray Eames sind sicherlich für viele so eine erste Liebe. Mein Gott, der Lounge Chair! Das Case Study House! Die Schönheit des Alltäglichen! Waren das noch Zeiten! Und nun sitzen alle damals frisch Verliebten selbst an Entwürfen, rasen über Designmessen, durch Möbelshows und Konferenzen, telefonieren, mailen, surfen und bräuchten immerzu eigentlich mal Urlaub von all dem Wahnsinn. Die erste Liebe ist dabei zwar im Gepäck, aber liegt verknittert und etwas verblichen unter einem Berg von To-Do-Notizen. Und in der Zwischenzeit geschehen furchtbare Dinge. „Eames" ist, gemeinsam mit „Pantone", der meist missbrauchte Name, wenn man bei ebay im Sektor „Designklassiker" umherschweift. Immergleiche orangefarbene Plastikhässlichkeiten und unförmige Polstermöbel der Siebzigerjahre reihen sich da unter der unverschämten Zuordnung „Eames Ära" aneinander. Am anderen Ende der Skala stehen die hoch preisigen Originale, der Lounge Chair ist inzwischen geradezu wertkonservatives Statussymbol, platziert in wohltemperierten Wohnungen und arrivierten Lebensverhältnissen. Ein komisches Dilemma, aus dem man freudvoll entwischen kann, indem man sich wieder zu den Anfängen all dessen begibt, was den Eames-Designklassiker ausmacht: Die gute Idee und ihre grandiose Umsetzung. Zum Glück gibt es die wundervollen Filme des Paares, an die hundert Stück, in denen die Eames immer wieder neue Ideen von Schönheit entdecken und präsentieren, sei es der Verlauf von Putzwasser auf einem Schulhof (Blacktop, 1952) oder die Magie einfachster Spielzeugeisenbahnen (Toccata for Toy Trains, 1959). Ein jeder Leser kennt wohl auch „The Powers of Ten" (1968 für IBM produziert), in dem die Kamera in Zehner Schritten von einem picknickenden Paar bis an den Rand des bis dahin erforschten Universums fährt, um dann in die innersten Atomstrukturen der Hand des immer noch auf der Picknickdecke ruhenden Mannes zu gleiten. Einmal gesehen, nie mehr vergessen. Die Filme des Paares erzählen in elegant komponierten Bildern Geschichten von besonderer Schönheit, der Schönheit eines optimistischen Blicks auf einfachste Dinge. Ein herbstliches Blatt, die Sonne am Nachmittag, ein Maiskolben, ein Kreisel, alles wird um ein kraftvolles Zehnfaches magischer, wenn es durch den Sucher der Eames´schen Kamera beobachtet wird. Und so wurden unter der Regie der beiden Designer auch die Filme über ihre eigenen Möbelstücke zu äußerst erbaulichen kleinen Meisterwerken, die dem Betrachter mit in die Entwicklung und Produktion eines Möbels nehmen, ohne Pauken und Trompeten, ohne Arroganz, aber mit viel Freude am Prozess. So beispielsweise bei „the fibreglass chairs: something on how they get the way they are" aus dem Jahr 1970. Gleich zu Beginn des knapp neunminütigen Films wird klar, dass Fieberglas-Stühle eine sehr bequeme Sache sein können, denn das erste Bild zeigt die Vermessung des menschlichen Körpers in möglichst bequem sitzender Position. Wie im gesamten Film bleibt die Kamera ganz nah an der Handlung und verwandelt so den ein oder anderen Handgriff in der Produktion in eine abstrakte Komposition. Von der ergonometrischen Vermessung des Körpers geht es in die Entwurfsphase. Zirkel rotieren, Lineale gleiten übers Papier, Tonmodelle werden geformt, vermessen und verbessert, und alles fügt sich zu einem Tanz der Handgriffe und Messgeräte, dem die Kamera in sanften Bewegungen folgt. Schon im ersten Drittel des Films tritt dabei die spezifische Materialität der Werkstoffe in den Vordergrund. Die aus Metall gefertigten Werkzeuge, die transparenten Plastiklineale auf weißem Papier, der organische und feuchte Ton, all das atmet eine fast greifbare Sinnlichkeit. Untermalt wird jeder Handgriff dabei diesmal nicht von Elmer Bernsteins Klängen, sondern von Buddy Colettes mal aufgeregt trippelnder mal mondän dahinschwebenden Musik. Gedämpfte Gitarren und wohltemperierte Flöten springen aufs Entzückendste von einem Cool-Jazz Rhythmus zum nächsten, und so kuschelt man sich mit seiner Pfeife tiefer in den Lounge-Chair um zu sehen, wie es weitergeht. Das fertige Tonmodell wird nun mit Fieberglas abgeformt, und das erste Übergießen der dunklen Tonform mit einer weißen Masse evoziert Bilder von köstlichstem Kuchenguss. Es wird verstrichen, poliert, und mit weiteren köstlichen Farben begossen. Das wie Stroh an den Rändern der Form herausstehende Fieberglas wird abgeschnitten und plötzlich ist da eine wirklich schöne Sitzschale. Im letzten Drittel des Films fängt die Kamera auch immer wieder Gesichter ein, es sind jedoch nicht die Designer oder ein dynamischer Sales-Manager, es sind die Arbeiter, die konzentriert mit der Montage des Stuhls befasst sind. Nach der verfilmten Sinnlichkeit des Materials wandert somit der Fokus auf die handwerklichen Prozesse, und plötzlich werden aus einem Stuhl viele Stühle. Metallfüße werden gefertigt, Stoffe aufgezogen und immer wieder sieht man Hände am Werk. Fast wie in einer traditionellen Manufaktur wird an einem solchen modernen Fieberglas-Stuhl gearbeitet und zum Schluss wird das fertige Produkt in einem braunen Karton mit dem wunderschönen knallroten Herman Miller-Logo verpackt und wartet auf einen liebevollen Besitzer. Und plötzlich ist man wieder verliebt in den klassischen Klassiker. Es ist tiefer als beim ersten Mal, man wird nun immer zusammenbleiben, das weiß man, und das Herbstblatt, das draußen vorbeiweht, sieht plötzlich ausgesprochen schön aus.
Die Filme von Charles und Ray Eames sind 2005 als 6er DVD Box bei Image Entertainment erschienen.
Lights, Camera, Action, Love
von Richter Claus | 15.11.2009