Ortstermin ehemalige Diskus-Werke: Am Stadtrand von Frankfurt am Main hat Jürgen Krause sein Atelier. Wo einst Schleifmaschinen hergestellt wurden, schleift Krause heute Bildhauerwerkzeuge. Jedoch macht er es nicht aus funktionalen Gründen, Krause ist kein Dienstleister, vielmehr geht es ihm um die Tätigkeit selbst. Durch das kontinuierliche Schleifen erzeugt er keine brauchbaren Werkzeuge, sondern Objekte mit herunter geschliffenen Klingen. Sie sind nicht dazu da, gebraucht zu werden, sondern werden zu Beweisstücken des Schleifvorgangs selbst. Japanische Meister, bei denen Krause Unterricht im traditionellem Schleifhandwerk nimmt, drücken gelegentlich ihr Unverständnis über die Werke des Frankfurter Künstlers aus. Es widerspricht ihrem Verständnis von Harmonie, wenn ein Werkzeug nicht gemäß seiner Funktion genutzt wird. Krause lässt sich davon nicht beirren und widmet sich weiter seiner Tätigkeit.
Auf der Industrieanlage ist sein Atelier nur schwer zu finden. Wie er mir sagt, schätzt er den Rückzug, freut sich aber gleichzeitig über gelegentlichen Besuch. Der Austausch mit Kollegen und Freunden ist ihm wichtig. Mein Fotoapparat muss jedoch in der Tasche bleiben. Er bittet mich, was ich sehe, mit Worten wiederzugeben. Er berichtet, dass er einst erwogen habe, seine Arbeiten, damals handelte es sich um kleine Papierkreise, wie Konfetti zu verstreuen – und auch die gelochten Papiere nicht zu zeigen. Dann hätte es keine sichtbare Ergebnisse seiner Arbeit mehr gegeben, geblieben wären einzig Erzählungen davon. Ich begreife, dass das Wort einen Teil seiner künstlerischen Tätigkeit ausmacht, genauso wie eine Wanderung zu Fuß oder das Schleifen von Werkzeugen. Es geht ihm darum, jede Tätigkeit bewusst auszuführen, nicht im Kopf schon einen Schritt weiter bei dem nächsten Vorgang zu sein. Durch seine Arbeit macht er Handlungen sichtbar, die in ihrer Durchführung zugleich überschritten werden. Seine Objekte erscheinen deshalb als Aufforderung zur Konzentration, zu Achtsamkeit und Wertschätzung.
In seinem Atelier hat er, wie er selbst sagt, eine Art „Zirkeltraining" aufgebaut. Im Laufe eines jeden Tages durchläuft er die verschiedenen Stationen. Er schleift Werkzeuge, spitzt Bleistifte, zeichnet Linien, schneidet Kreise in Papier, grundiert Holzplatten. Er widmet sich jedem Objekt so lange, bis es sich nicht weiter bearbeiten lässt – bis er beim Schleifen einer Klinge an den Griff des Werkzeugs stößt, bis die Bleistifte nur noch aus einer Miene oder einem Stummel bestehen, bis die Papierblätter vollständig mit einem Karomuster bedeckt oder komplett gelocht sind, bis die grundierten Holzplatten zu schwer zum Umwenden werden. Die Objekte, die aus dieser Arbeit entstehen, erinnern zwar noch an die Gegenstände, die sie einmal waren, ihre Proportionen haben sich durch das ständige Bearbeiten jedoch verändert. Bei den Werkzeugen etwa tritt die Klinge optisch in den Hintergrund, der Griff gewinnt an Bedeutung, seine Form, die Maserung des Holzes, das aufgedruckte Herstellerlogo. Außerdem tragen Krauses Werke deutlich sichtbare Spuren des Bearbeitungsprozesses. Schleifstaub, Schnitzrillen, Strichstärken, Schnittkanten und Pinselspuren erscheinen hier als künstlerische Ausdrucksmittel. Manchmal wirkt die kurze Klinge der geschliffenen Werkzeuge aufgrund des sorgfältigen Schliffs fast wie ein Edelstein.
Unser Gespräch dreht sich immer wieder um Anfänge. „Es darf nichts, was du tust, Vorbereitung sein." schrieb der Schriftsteller Ludwig Hohl. Krause stellt das Zitat als Motto an den Anfang seines Katalogs „Bildhauerwerkzeuge". Mir erzählt er eine Geschichte, die sich tagtäglich in Kunstakademien zuträgt. Ein Professor gibt seinen Studenten eine Zeichenaufgabe, die daraufhin zum Bleistift greifen. Für Krause stellt dieser Akt den Anfang einer künstlerischen Handlung dar, den er ins Zentrum seines Werks stellt. Als wolle er sich bei seiner alltäglichen Arbeit ermutigen, finden sich in seinem Atelier neben eigenen Objekten weitere Zeugnisse von Anfängen: Materialblöcke aus Grafit, Kreide und Alabaster, sowie eine kleine Sammlung prähistorischer Werkzeuge, eine Klinge, ein Sichel und ein Perlenschleifer.
Natürlich erscheint es fraglich, inwiefern über Jahre dauernde Handlungen sich noch als Anfänge bezeichnen lassen, offenbaren viele Objekte Krauses doch gerade die Endlichkeit von Gegenständen. Wie im Zeitraffer scheint er ihre Abnutzung vorwegzunehmen, wodurch die „verbrauchten" Dinge auch zu einer Art Memento mori werden. Auch liegt es nahe, bei Krauses Arbeiten von Wiederholungen zu sprechen. Sisyphos, der immer wieder einen Stein den Berg hinaufrollt, der immer wieder herunterrollt, Casanova, der einen Liebesakt nach dem anderen sucht, ein Mantra, das millionenfach rezitiert wird, ließen sich als Analogien für Krauses tagtägliche Arbeit des Schleifens, Spitzens, Zeichens, Lochens und Grundierens heranziehen. Jean-Christophe Ammann, der frühere Direktor des Frankfurter Museums für Moderne Kunst, hielt im vergangenen Jahr anlässlich des Rolf Seisser-Preises eine Laudatio auf Jürgen Krause, in der er über Wiederholung, Entleerung und Anreicherung, auch im universell-göttlichen Sinn, sprach. Krause selbst hingegen, betont in den wenigen Sätzen, die er über seine Arbeit geschrieben hat, vor allem die Möglichkeit eines Anfangs, der sich über ein Menschenleben erstrecken kann. Beispielhaft nennt er das japanische Ideal eines Meisters, der sich selbst ein Leben lang als Schüler betrachtet: „Das ist der japanische Weg zur Meisterschaft, sich einer Sache bedingungslos zu verschreiben und zu verstehen, dass trotz allen Anstrengungen ein Rest bleibt, der sich nicht vollständig beherrschen lässt. Man bewahrt die Haltung des Anfängers."