Kolumne
Alltagsarchitektur
Gute Nachrichten gibt es momentan ja nicht so viele. Da freut einen die diesjährige Verleihung des Pritzker-Preises ganz besonders. Der ging an das französische Architektenpaar Anne Lacaton und Jean Philippe Vassal, die so gar nicht dem Bild der international tätigen StarchitektInnen entsprechen. Denn eigentlich denkt man beim Pritzker-Preis ja eher an einschlägig berühmte Protagonisten wie Herzog & de Meuron, Rem Koolhaas und Zaha Hadid. Allerdings überraschte die Jury zwischendurch auch immer mal wieder durch regionale Exkursionen – zum Beispiel mit ihrer Wahl der spanischen RCR Arquitectes (2017), des Chinesen Wang Shu (2012) oder des Australiers Glenn Murcutt (2002). Zuletzt schien sich jedoch Ratlosigkeit breit gemacht zu haben, die sich vor allem in der Nominierung von Altmeistern wie Arata Isozaki (2019), Balkrishna Doshi (2018) und Frei Otto (2015) zeigte. Zwar wurden mit Yvonne Farrell und Shelley McNamara (2020) ein Frauenduo ausgezeichnet und mit dem Chilenen Alejandro Aravena (2016) ein junger Architekt mit einer mitunter sozialen Agenda. Trotzdem schaffte es der Pritzker-Preis nicht wirklich, den gesellschaftlichen Paradigmenwechsel der letzten Jahre abzubilden, der zwangsläufig auch die Architektur beeinflusst.
Nun also Lacaton & Vassal, mit denen die Jury nicht richtiger hätte liegen können. Aber was zeichnet die Architektur des französischen Duos eigentlich aus? Die Frage lässt sich am besten mit einem Projekt beantworten: Als die Architekten von der Stadt Bordeaux 1996 beauftragt wurden, den Place Léon Aucoc zu verschönern, entschieden sie sich nach der Analyse des Vorhandenen für einen radikalen Schritt und schlugen vor, das Geld lieber in dessen Instandhaltung zu investieren. Die Begründung dafür war so einfach wie naheliegend: Der Platz funktionierte schon. Mit dieser Strategie einer Architektur, die sich aus dem Alltag entwickelt, zeichnen sich auch die gebauten Projekte des Büros aus. Ein gutes Beispiel ist die Transformation des Tour Bois le Prêtre, einem sozialen Wohnungsbau in Paris, wo die Architekten zusammen mit Fréderic Druot eine Alternative zum Abriss des 17-stöckigen Hochhauses aus den 1960er-Jahren erarbeiteten und unter anderem Wintergärten mit dazugehörigen Balkonen an der Fassade anordneten. Das brachte nicht nur eine großzügige Erweiterung des Wohnraums mit sich, sondern war auch deutlich günstiger als der Neubau. Weitere Projekte folgten, wie etwa die Transformation großer Wohnscheiben im Quartier du Grand Parc in Bordeaux, wo sie in Zusammenarbeit mit Fréderic Druot und Christophe Hutin einmal mehr für Licht und Luft im sozialen Wohnungsbau sorgten.
Die Entwicklungsgeschichte ihrer Ideen reicht dabei bis in die 1980er-Jahre zurück, als Jean-Philippe Vassal nach seinem Architekturdiplom und in der Folge eines 10-monatigen Wehrersatzdienstes einige Jahre im Niger in Westafrika verbrachte. Dort entdeckte er gemeinsam mit seiner Partnerin Anne Lacaton den Einfluss der extremen klimatischen Bedingungen auf die regionale Architektur und analysierte die Wohnformen der Tuareg-Nomaden. Die daraus gewonnen Erkenntnisse prägt die Arbeit des Duos bis heute und findet sich schon in einem ihrer ersten Projekte wieder – dem Wohnhaus Latapie in Bordeaux. Auch hier gibt es einen großen, mit Polykarbonatplatten verkleideten Wintergarten als frei programmierbare Fläche, der an das als Holzbox ausformulierte Wohnhaus mit seiner Fassade aus Faserzementplatten anschließt. Dessen Längsseiten lassen sich durch Schiebe- und Falttüren komplett öffnen, während der Wintergarten eine Art Gewächshaus zum Wohnen darstellt. Er zoniert den klimatischen Übergang zwischen Drinnen und Draußen und ist wie das Wohnhaus aus kostengünstigen Materialien gebaut, was deutlich mehr Wohnraum ermöglicht als ein konventioneller Bau.
Dass sich ihre Ideen nicht nur im sozialen Wohnungsbau umsetzen lassen, zeigt der Umbau und die Erweiterung des Kunstzentrums FRAC Nord-Pas de Calais in Dünnkirchen. Dort sanierten die Architekten zwischen 2015 und 2017 eine alte Werfthalle und erweiterten sie um einen architektonischen Doppelgänger. Für den Neubau kamen vorproduzierte Industrieelemente wie Polykarbonatplatten an der Fassade zum Einsatz, die das Gebäude mit seinen sechs Geschossen und 9000 Quadratmetern Nutzfläche als eine Art Gewächshaus für die Kunst inszenieren. Weitere Projekte wie der Umbau des Palais de Tokyo in Paris, die Architekturfakultät École nationale supérieure d'architecture in Nantes oder diverse andere Wohnbauten zeigen, dass die Konzepte des Büros mittlerweile gesellschaftsfähig sind. Und nicht nur das: Für eine nachwachsende Generation französischer Architekturbüros wie Bruther, Muoto, BAST oder NP2F stellen Lacaton & Vassal so etwas wie die Eltern dar, die den Weg für eine neue Alltagsarchitektur bereitet haben.