GESUNDHEIT
Heilung des kranken Hauses
Aus den Hospizen des Mittelalters, in denen die Unterbringung von Armen und die karitative Pflege im Vordergrund standen, entwickelte sich mit dem Fortschritt im Bereich der Hygiene und der Medizin das moderne Krankenhaus als eine Art Fabrik zur Produktion von Gesundheit – ökonomisch, funktional, effizient. Heute gehört der Neubau von Kliniken zu den anspruchsvollsten Aufgaben im Bauwesen überhaupt. Kaum ein anderer Gebäudetyp muss so vielschichtige medizinische, organisatorische und technische Anforderungen unter einem Dach vereinen. In den Hintergrund getreten sind dabei Aspekte der menschlichen Würde sowie die Bedürfnisse und Empfindungen der kranken oder pflegenden Personen.
Fensterlose Gänge, fehlende Orientierung, sterile Zimmer mit grellen Neonleuchten, die Ästhetik abwaschbarer Oberflächen, medizinisches Gerät und eine Geruchskulisse aus Desinfektionsmitteln und Essenswagen verursachen negative Gefühle bis hin zu Stress bei PatientInnen, Angehörigen und Personal. Demgegenüber stehen wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse über positive Effekte des baulichen Umfelds auf das Wohl- und Schmerzempfinden sowie die Schlafqualität von PatientInnen. Sie basieren auf empirischen Studien, viele davon entstanden zu Beginn der 2000er Jahre in den USA. Von dort stammt auch der Begriff "Healing Architecture". Als Schlüsselstudie gilt "View Through a Window", die bereits 1984 in der renommierten Zeitschrift Science vorgestellt wurde. Architekturprofessor Roger S. Ulrich verglich dafür über neun Jahre lang PatientInnen in einer Klinik in Pennsylvania, denen die Gallenblase entfernt worden war. Eine Gruppe konnte von ihrem Krankenzimmer aus auf einen Baum blicken, die andere auf eine Backsteinwand des Nachbargebäudes. Ulrich konnte nachweisen, dass allein der angenehmere Blick aus einem Zimmer nach draußen ins Grüne das Schmerzempfinden verringerte, schwächere Dosen Schmerzmittel möglich machte und den gesamten Heilungsprozess verkürzte.
Für "Evidence Based Design", also für ein Entwerfen, das sich nach in Studien gewonnenen Erkenntnissen richtet, plädiert Tanja C. Vollmer, Architekturpsychologin mit einer Gastprofessur an der TU München. Seit Jahren beschäftigt sie sich mit "Healing Architecture", führt selbst Studien durch, befragt PatientIinnen, misst verschiedene körperliche Reaktionen wie Hautwiderstand und Herzfrequenz, um das Stresslevel im Krankenhaus zu eruieren. In Kooperation mit ihrer Büropartnerin, der niederländischen Architektin Gemma Koppen, gelang es ihr, die komplexen Zusammenhänge in einer simplen Formel zu fassen: "Wenn der Körper schwer erkrankt, erkrankt der Raum mit ihm". Will heißen: Die Wahrnehmung verändert sich messbar. Die Aufmerksamkeit nimmt ab, die Orientierungsfähigkeit vermindert sich, die Empfindlichkeit gegenüber Umweltreizen nimmt zu. Aus dieser Erkenntnis leiten Vollmer und Koppen sieben Umgebungsvariablen ab, die dazu geeignet sind, die Genesung von PatientInnen mittels Architektur zu unterstützen: Orientierung, Geruchskulisse, Geräuschkulisse, Aussicht und Weitsicht, Privatheit und Rückzugsraum, das menschliche Maß und sogenannte Powerpoints – architektonisch gestaltete Kraft- und Haltepunkte.
Wie heilende Architektur in der Praxis aussehen kann, zeigt aktuell die Ausstellung "Das Kranke(n)haus. Wie Architektur heilen hilft" im Architekturmuseum der TU München. Mit Studierenden eines gleichnamigen Projekts am Lehrstuhl für Architekturgeschichte und kuratorische Praxis der TU München wurde eine Präsentation konzipiert, die 13 Best Practice-Beispiele aus aller Welt auf Basis der sieben Umgebungsvariablen analysiert. Als Leuchtturmprojekt im Kontext heilender Architektur in Deutschland gilt das Kreiskrankenhaus Agatharied von Nickl & Partner Architekten im oberbayerischen Landkreis Miesbach. Die Einbettung des Gebäudes in die Landschaft und die geringe Höhenentwicklung suggerieren die Maßstäblichkeit gewohnter Umgebung. Durch die starke Aufgliederung des Baukörpers und des großflächigen Einsatzes von Holz und Glas wirkt die Klinik auf den ersten Blick wie ein Hotel im alpenländischen Raum.
Eher einem in Reisfelder eingebetteten Schulcampus mit Flachdach-Pavillons gleicht die Anlage des Friendship Hospital Satkhira von Kashef Chowdhury in Bangladesh. Die horizontale Erschließung des Krankenhauses orientiert sich an einem im ZickZack angelegten Kanal, der das Gelände teilt. Fließrichtung und Begrenzungselemente des Wasserlaufs ermöglichen eine schnelle, intuitive Orientierung entlang eines beruhigenden natürlichen Elements. Im als ringförmiger Großbau angelegten Nyt Hospital Nordsjælland Hillerød auf der dänischen Insel Seeland, entworfen von Herzog & de Meuron in Zusammenarbeit mit Vilhelm Lauritzen, gibt es ausschließlich Einbettzimmer. Sie werden jeweils durch eine private Außenterrasse oder Balkon mit Waldblick oder Sicht auf den innenliegenden Garten erweitert, die als privater Rückzugsraum dient. Landschaftsplanerische Elemente schaffen einen individuell kontrollierbaren Kontakt zu anderen NutzerInnen des Außenraums.
Die GestalterInnen von IMS Studio mit Friederike Daumiller entwickelten eine Ausstellungsgestaltung, die vor allem die Variablen "Aussicht und Weitsicht" sowie "Privatheit und Rückzugsraum" räumlich umsetzt. Dazu stellen sie die transparente Außenfassade des Architekturmuseums in der Münchner Pinakothek der Moderne in Kontrast mit in der Tiefe gestaffelten Kulissen. Raumteiler in Form von Wellenwäldern gliedern den Großraum in kleinere Kabinette und Nischen, in denen die aufbereiteten Fallstudien präsentiert werden. Grün ist die Farbe der Wahl. Damit greift IMS Studio den Ansatz vieler ArchitektInnen auf, heilende Architektur in die Natur einzubetten. So sind zu Beginn der Ausstellung auffällig viele Bäume, Sträucher, Blumen, Wasser und Holz auf den Abbildungen zu sehen. Die Idee, von einer Art Maschinenraum der Gesundheitsproduktion wegzukommen, wird in den gezeigten Projekten klar ersichtlich. So wirkt das Rehab Basel von Herzog & de Meuron mit seiner Holzlamellenfassade, den bodentiefen Fenstern und den begrünten Innenhöfen wie ein Bio-Hotel. Erstmals wurden hier kugelförmige "Sky Lights" in die Zimmerdecken von WachkomapatientInnen gesetzt, um ihnen einen Bezug zur Außenwelt zu ermöglichen, den Blick in den Himmel. Das Willem Arntsz Huis in Utrecht wiederum traut dem beruhigenden Effekt grüner Fußböden so viel zu, dass die Betreiber der Psychiatrie die Öffnung ursprünglich geschlossener Stationen wagten.
Obwohl es bereits einige erfolgreiche Beispiele "heilender Architektur" gebe, fehle es noch immer an einer öffentlichen Wahrnehmung und am politischen Willen, diesen Ansatz in der Breite anzuwenden, hieß es zum Start der Sonderschau. Dabei ist die Frage nach der Zukunft des Krankenhausbaus gerade jetzt besonders relevant – vor dem Hintergrund anhaltender Krisen des Gesundheitswesens im ökonomischen und organisatorischen Bereich, und nachdem die Coronapandemie Kliniken als zentralen Teil der kritischen Infrastruktur eines Landes entlarvt hat.
Das Kranke(n)haus
Wie Architektur heilen hilft
Bis 21. Januar 2024
Pinakothek der Moderne
Barer Straße 40
80333 München
Öffnungszeiten
Täglich 10 bis 18 Uhr
Donnerstag 10 bis 20 Uhr
Montags geschlossen