Zwischen den Giebeln
Inmitten einer Ballung aus Rauputz, Klinker und Holz steht ein Unikat. Das Korkenzieherhaus in einer Wohnsiedlung am Berliner Stadtrand gilt als das erste seiner Art in Deutschland: Korkplatten verhüllen das Wohnhaus vom Sockel bis zum Giebel, komplett und rundherum. Nicht nur unter Kollegen bekommt der Monolith Aufmerksamkeit und wird zum Vorreiterprojekt. Das Experiment von rundzwei Architekten ist offenbar gelungen.
Die Geschichte beginnt im Zug. Ein Architekt, der gerade eine Arztpraxis gestaltet hat, lernt auf einer Bahnfahrt von Frankfurt nach Berlin eine Ärztin kennen, die ihre Praxis soeben umgebaut hat. Sie reden über Architektur, über Räume, auch über den geplanten Hausbau der Ärztin. Ein paar Monate später kommt die Nachricht. Das Studio der jungen Architekten soll den Neubau in Berlin-Staaken entwerfen.
Die Bauherrin will keinen Standard, mindestens 250 Quadratmeter Fläche, ein Haus mit Außenpool, den man vom Schlafzimmer aus erreicht, am liebsten mit Flachdach. Weil die Ärztin das Grundstück bereits erworben hat, müssen sich Marc Dufour-Feronce und sein Büropartner Andreas Reeg zusammen mit den Mitarbeitern Ana Domenti und Luca Di Carlo neben dem üblichen Baurecht eines reinen Wohngebiets auch mit der herausfordernden Geometrie dieses Hammergrundstücks, also einem Baugrund in zweiter Reihe, auseinandersetzen. Ein Vollgeschoss und ein Dachgeschoss, mehr ist hier mitten in der Siedlung nicht erlaubt. Viel Platz gibt es auch nicht, aber genügend Spielraum. Dem Berliner Architektenteam gelingt es, etwa 320 Quadratmeter Bruttogeschossfläche zu generieren.
Für Andreas Reeg ist der Trick nicht mehr als einfache Mathematik: Der Wohnbereich im Erdgeschoss befindet sich nämlich genau genommen im Kellergeschoss, das "im Mittel nicht mehr als 1,40 Meter über der Grasnarbe liegen darf". Im Mittel bedeutet dabei, dass alle Flächen addiert werden. Im Fall des Korkenzieher-Hauses variieren sie zwischen 70 Zentimetern und 2,60 Meter. "Im Mittel sind es exakt 1.40 Meter", erklärt der Architekt. Auf diese Weise ergibt sich die genannte Bruttogeschossfläche. "Sonst wären es vermutlich nicht mehr als 140 Quadratmeter geworden."
Weil alle Wände, die unterhalb der Geländekante liegen, handgefertigt aus Stampfbeton aufgeschichtet wurden, wirken diese Bereiche wie ausgegraben: Der Eindruck war den Architekten wichtig. Auch der Pool gräbt sich in den Boden, wodurch sich der nötige Sichtschutz in dem engbebauten Gebiet von allein ergibt. Die Abstufungen führen von der unteren in die oberste Etage. Als Split-Level staffeln sich die Ebenen wie das Gewinde eines Korkenziehers bis unter den Giebel. Die Konstruktion, die auf dem massiven Sockel aufsitzt, haben die Architekten als Holzbau geplant. Das spart Gewicht und Zeit. Und auch wenn aus dem gewünschten Flachdach nichts geworden ist, weil ein Satteldach Vorschrift ist, erweist sich die zurückgesetzte Lage in plötzlich als glückliche Fügung. Um formal zwischen den Nachbarhäusern zu vermitteln, wird hier ein Kreuzwalmdach genehmigt.
Korkenzieher im Kern, Kork als Hülle: Die Materialität unterstützt das innere Raumkonzept und sorgt als Fassade aus 14 Zentimeter dicken Korkplatten für Ruhe. Das Abfallprodukt Korkgranulat sei nicht nur nachhaltig, sondern auch dämmend und extrem schallisolierend, was angesichts der Nähe zum noch betriebenen Flughafen Tegel wichtig war. Schließt man alle Fenster, bleibt es drinnen still. "Korkfassadenplatten sind ohne Zusätze und Chemikalien auf natürliche Weise gegen Witterung und Schimmel resistent", erklären die Architekten. Lediglich die UV-Strahlung helle die Platten mit der Zeit etwas auf, man könne die Fassade aber alle zehn Jahre abschleifen. Die Idee für Kork kommt von einer Mitarbeiterin, die aus Portugal stammt. Das Naturprodukt ist dort als Fassadenbaustoff bekannt und geschätzt, während es in Deutschland bisher nur ein Gebäude gibt, das mit Korkplatten verkleidet wurde: die Lagerhalle der deutschen Vertriebszentrale des Herstellers. Ausschlaggebend waren für Andreas Reeg und Marc Dufour-Feronce neben ihren eigenen, anderthalb Jahre lang durchgeführten Materialtests vor allem die Möglichkeit der Bearbeitung des Baustoffs mit den gängigen Holzwerkzeugen – auch damit sich die ausführenden Handwerker den Bau zutrauten.
Zum Richtfest staunen Gäste und Nachbarschaft, wie komplex so ein Einfamilienhaus in seiner Planung sein kann, wenn die Grundrisse der Ebenen ineinandergreifen. Das Haus ist wie ein dreidimensionales Puzzle. Große Fensterflächen bringen jede Menge Tageslicht in den offenen Wohnbereich. "Es fühlt sich hier nicht an wie ein Keller, ist aber ein Kellergeschoss", sagt Reeg. Die Korkfassade gab es zu dem Zeitpunkt noch nicht – was die Nachbarn heute zu ihrem Korkenzieherhaus sagen, fragt ihn jeder, lacht der Planer. "Am Stadtrand", erwidert er, "baut jeder sein eigenes Ding". Und so spannt sich zwischen den Giebeln eine geballte Individualität, die mal verputzt, mal verklinkert und eben auch komplett aus Kork sein kann.