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Konstellationen: Rietveld und die Revolution des Raums – Teil 2
von Thomas Wagner | 22.06.2012
Gerrit Rietveld mit einem Modell des „Kernhauses“, 1941, © VG Bild-Kunst, Bonn 2012, Foto © Collection Rietveld Schröder Archive, Utrecht

Kubismus, Futurismus, Suprematismus und De Stijl haben zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf unterschiedliche Weise und mit je eigenen Konzepten auf die veränderte Wahrnehmung des Raumes reagiert. Gerrit RietveldsBauten stehen im Umkreis solcher Versuche, den Raum unter veränderten Bedingungen neu zu denken und zu gestalten. Rietveld führt zunächst den Vorstoß Frank Lloyd Wrights weiter, das Haus als einen fließenden Raum aufzufassen, der voneinander durchdringenden vertikalen und horizontalen Flächen strukturiert wird, wobei er auf einfache Methoden, neue Materialien und eine konsequente Farbgebung setzt. Indem er die konstruktiven Elemente betont, versucht er die Sinne anzuregen und den Menschen bewusst machen, wie sie leben. Er will den Nutzer an seiner Architektur beteiligen, den Fertigungsprozess vereinfachen und neue technische Möglichkeiten erproben, weil er hofft, die Mühsal der Bauarbeiter verringern und die Lebensqualität in kleinen, preisgünstigen Wohnungen verbessern zu können. Rietvelds Raumauffassung ist also keineswegs formalistisch. Die Struktur des Raumes und die Art und Weise, wie es sich darin leben lässt, bedingen einander. Exemplarisch dafür ist das Rietveld-Schröder-Haus in Utrecht aus dem Jahr 1924, Rietvelds erste Arbeit als Architekt überhaupt.

I. Das Rietveld-Schröder-Haus.

Das Haus, das Rietveld für, vor allem aber zusammen mit Truus Schröder, seiner späteren Lebenspartnerin, 1923/24 entwickelt und baut, überrascht noch heute jeden Passanten, der es in der Prins Hendriklaan in Utrecht erblickt. Den ersten Entwurf lehnt Truus Schröder ab. Er erscheint ihr nicht offen genug, eher wie ein wuchtiger Klotz. In zahllosen Diskussionen, die beide miteinander führen, entsteht in der Folge ein Haus, das mehr ist als die Variation des bis dahin Üblichen. „Wir haben es“, wird Truus Schröder später sagen, „zusammen gebaut. Es ist wie bei einem Kind, man kann nicht auseinanderhalten, was es von der Mutter und was vom Vater geerbt hat.“

Vor allem Truus Schröder drängt darauf, die gesamte Gestalt des Hauses müsse ein anderes Wohnen und einen anderen Lebensstil ermöglichen und dessen Entwicklung unterstützen. Erreicht wird das, indem eine offene, mehr oder weniger transparente Konstellation geschaffen wird, die Raum und Raumwahrnehmung gleichermaßen aktiviert. Hinzu kommt, dass Rietveld auch hier die Elemente, die Raum fassen und strukturieren, als solche kennzeichnet, indem er sie farblich betont. Sowenig der Innenraum gegenüber dem Außenraum isoliert wird, so deutlich werden zugleich Übergänge und Grenzen markiert. Das Rietveld-Schröder-Haus ist alles andere als eine Wohnmaschine. Im Grunde handelt es sich um eine bewohnbare Struktur mit skulpturalen und malerischen Elementen, in der Rietvelds konstruktiven Prinzipien in größerem Maßstab angewendet werden.

II. Der Rot-Blaue Stuhl als Modell.

Nicht von ungefähr sieht Rietveld in dem Projekt die ideale Gelegenheit, ein Haus zu bauen, das auf denselben Prinzipien beruht wie sein „Rot-Blauer Stuhl“. Er hätte auch seinen Berliner Stuhl, bei dem Konstruktion und Funktion verschmelzen, zum Vorbild machen können, doch schätze er selbst diesen nicht sonderlich. Entscheidend ist, dass nicht mehr mit Masse und Volumen gearbeitet wird, sondern mit dem Raum im Gebäude und mit dessen Fortsetzung nach draußen.

III. Offenheit im Dachgeschoss.

Im Erdgeschoss wird eine nahezu konventionelle Raumaufteilung beibehalten. Das Obergeschoss hingegen, im Bauantrag aus Sorge vor dessen Ablehnung lediglich als Dachboden deklariert, bleibt vollkommen offen, ohne feste Wände. Hier lässt sich das gesamte Repertoire wiederfinden, das Rietvelds Raumkonstruktionen auszeichnet: Raumknoten, farbige Flächen, Variabilität und Offenheit. Das Haus funktioniert, als sei ein Raum durch wenige Flächen umrissen, durchdringe also das gesamte Gefüge. Bewegt man sich im Obergeschoss, so begegnet man immer wieder Ansichten, die wirken, als wäre ein neoplastisches Gemälde Mondrians ins Dreidimensionale übersetzt worden. Doch so abstrakt die Konstruktion auch erscheint, in ihr realisiert sich ein Gebrauchswert. Überall, wo der Raum Gefahr läuft, beengt zu erscheinen, greift Rietveld gezielt ein, um das Gegenteil zu bewirken. Durch verschiebbare Wände, Einbauten, Tische und Stühle, entsteht ein bewegliches Lebensumfeld für einen neuen Lebensstil, der radikal mit der Hierarchie und den Konventionen der bürgerlichen Familie bricht. So nimmt in Rietvelds Raumstruktur das Familienideal von Truus Schröder konkret Gestalt an: ein Gefüge eigenständiger Teile, die ineinander greifen. Eine Vorstellung, die nicht nur für die damalige Zeit revolutionär genannt werden muss.

IV. Erasmuslaan.

Als 1930 das Bauverbot im Südosten des Schröder-Hauses aufgehoben wird, kauft Truus Schröder das mehr als tausend Quadratmeter große Areal gegenüber ihrem Haus. In der Folgezeit entwickelt das Büro Schröder/Rietveld dort einen Baukomplex mit mehreren Wohneinheiten, der heute mit zu den schönsten und berühmtesten zählt, die beide gemeinsam entwickelt haben. In ihrer Radikalität reichen die Bauten zwar nicht an das Rietveld-Schröder-Haus heran, doch das Projekt eines Häuserblocks an der Erasmuslaan macht Furore. Weiß getünchte Putzfassaden, Stahltüren und große, horizontale Glasflächen vermitteln den Eindruck, beim Bau seien die neuesten technischen Errungenschaften zum Einsatz gekommen. So schreibt De Telegraaf über das im Oktober 1931 vorgestellte Musterhaus, Rietveld habe mit seinem Geniestreich einem guten Teil der Bevölkerung den Kopf verdreht. Eine andere Zeitung überschreibt ihren Artikel: „Häuser aus Glas und Stahl. Eine Pracht aus Licht.“

V. Wohnkern.

In den 1930er Jahren baut Rietveld viele lichte und luftige Einfamilienhäuser mit teilweise raffinierter Raumaufteilung, „Erfindungen“, die, wie sein Kollege Oud 1935 an ihn schreibt, „immer ungeheuer attraktiv“ seien, ihn aber „mehr an ein ,Modell’ oder an eine Skulptur erinnerten als an Architektur“. Wie unkonventionell und originell Rietveld auch weiterhin vorgeht und wie er sich den Einsatz industrieller Vorfertigung auf dem Bausektor vorstellt, zeigt eine Idee, die er immer wieder aufgreift und variiert: „Häuser für die Arbeiterklasse mit zentralem Wohnkern“. Im Wesentlichen geht es dabei um eine eigene Typologie, um eine Norm für erschwingliches Wohnen. Rietveld will keine kleinere Ausgabe eines Luxusprodukts entwickeln, er will einen Grundtyp schaffen, aus dem sich allenfalls ein Einfamilienhaus als dessen Luxusausgabe entwickeln lässt. Es geht um nicht weniger als die Neuverteilung von Wohnraum. Flur, Fahrradaufbewahrung und Haustechnik werden gebündelt, wodurch die Küche zugleich als Esszimmer dienen kann und im Wohnzimmer mehr Platz zur Verfügung steht. In einer späteren Version sollten Küche, Dusche, Toilette und Waschbecken in einem aus Kunststoff vorgefertigten „Kern“ untergebracht werden.

VI. Rietveld und De Stijl.

Das Jahr 1951 rückt Rietveld schlagartig ins internationale Rampenlicht. Wie schon 1918, so spielt auch jetzt De Stijl eine wichtige Rolle. Ursprünglich wollte die niederländische Regierung im Museum of Modern Art in New York eine Ausstellung zeitgenössischer Architektur organisieren. Die Architekturabteilung des MoMA und ihr Leiter Philip Johnson sind aber wenig am Wiederaufbau, dafür aber umso mehr an einer Ausstellung über De Stijl interessiert. Rietveld gehört dem Komitee an, das die Schau in Amsterdam vorbereitet, die von dort aus über Venedig nach New York und Richmond wandert. Sie bewirkt nicht nur eine Kanonisierung von De Stijl, sie beschert Rietveld auch die längst überfällige internationale Anerkennung als Architekt und Designer. Folgeaufträge wie der Niederländische Pavillon für die Biennale von Venedig (1953-54), der Sonsbeek-Pavillon in Arnheim (1955) und der Entwurf für das Van-Gogh-Museum in Amsterdam eingeschlossen.

VII. Raum und Funktion.

Welche Materialien und Produktionstechniken Rietveld auch erprobt und wie sehr sich seine Ästhetik im Lauf von fünfzig Jahren auch verändert, es bleibt sein Ziel, einen Teil des unbegrenzten Raumes abzuteilen und in ein menschliches Maß zu überführen. Realität gewinnt der Raum dabei vermittels einer Konstruktion, in der die Bedürfnisse und Funktionen eines neuen Lebensstils bewusst als Raumkonstellationen wahrgenommen werden können.

Gerrit Rietveld. Die Revolution des Raums.
Von 17. Mai bis 16. September 2012
Vitra Design Museum, Weil am Rhein
www.design-museum.de

Gerrit Rietveld mit einem Modell des „Kernhauses“, 1941, © VG Bild-Kunst, Bonn 2012, Foto © Collection Rietveld Schröder Archive, Utrecht
Rietveld-Schröder-Haus, 1924, © VG Bild-Kunst, Bonn 2012, Foto © Richard Byrant / arcaidimages.com
Das Haus als bewohnbare Struktur mit skulpturalen und malerischen Elementen, © VG Bild-Kunst, Bonn 2012, Foto © Richard Byrant / arcaidimages.com
Interieur des Rietveld-Schröder-Hauses, © VG Bild-Kunst, Bonn 2012, Foto © Kim Zwarts
Rietveld betont die Elemente farblich, die den Raum strukturieren © VG Bild-Kunst, Bonn 2012, Foto © Kim Zwarts
Mädchenschlafbereich im Rietveld-Schröder-Haus, Farblichtdruck von Han Schröder / Atelier von Gerrit Rietveld, 1951 © VG Bild-Kunst, Bonn 2012, Bild © Collection Rietveld Schröder Archive, Utrecht
Niederländischer Pavillon für die Biennale von Venedig, 1953-54, © VG Bild-Kunst, Bonn 2012, Foto © Maria Netter / Collection Rietveld Schröder Archive, Utrecht
Sonsbeek-Pavillon des Kröller-Müller Museums in Otterlo, 1955, rekonstruiert 1964-65, © VG Bild-Kunst, Bonn 2012, Foto © Bertus Mulder / Kröller-Müller Museum